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Wer im Sessel sitzt, kann nicht wandern

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Man sieht durch eine Wand auch dann nicht, wenn Fenster aufgemalt sind. (Bild: Christian Holl)

Stilkritik (28) – Forschen ist kein einfaches Geschäft. Es wird geforscht, weil es Fragen gibt, auf die man die Antwort nicht kennt. Oder man forscht, weil man sich nicht sicher ist, ob die vermutete Antwort tatsächlich richtig ist. Wenn man die Antwort kennt, macht man etwas anderes. Keine Forschung.


„Von fast jeder Theorie kann man sagen, dass sie mit vielen Tatsachen übereinstimmt.“ Das schrieb Karl Popper. (1) Und er zog daraus den Schluss, „dass eine Theorie nur dann als bewährt bezeichnet werden kann, wenn keine sie widerlegenden Tatsachen gefunden werden, nicht aber, wenn man Tatsachen findet, die sie stützen.“ Es ist also nicht nur keine Kunst, Gründe zu finden, die für eine Theorie sprechen – die findet man immer. Es ist auch keine Forschung. Die Kunst der Forschung besteht darin, Thesen zu suchen, die gegen eine Theorie sprechen.

Der enge Korridor der Gewissheit

Am „Deutschen Institut für Stadtbaukunst“ ist gerade das „Forschungsprojekt Stadtquartier 2020“ initiiert worden. Es sollen, so hieß es in einer Projektskizze, in bis zu sieben Städten neue Stadtquartiere entwickelt und geplant werden, begleitet von einer interdisziplinären Expertengruppe, die „Strategien und Lösungen zur Entwicklung gemischter, nachhaltiger und schöner Quartiere“ erarbeitet. In dieser nur schwer im Internet aufzuspürenden Projektskizze wird nun versprochen, dass aus dem Forschungsprojekt Handlungsempfehlungen hervorgehen werden. Man verspricht also unter anderem die Antwort auf die Frage, wie ein schönes Quartier entwickelt wird. Weil man der interdisziplinären Expertentruppe offensichtlich in bestimmten Punkten nicht über den Weg traut, werden einige Dinge sicherheitshalber schon einmal festgelegt. Recht viel, von dem man denken könnte, dass es erforscht werden würde, darf nicht in Frage gestellt werden. Bedingungen für die Entwicklung der Stadtquartiere sind etwa die „klare Trennung von öffentlichem und privatem Raum“, die „räumliche Fassung von Straßen und Plätzen“ und die „Wahl geeigneter und örtlicher Gebäudetypologien.“ Also bitte keine ungeeigneten Gebäudetypologien! Bemerkenswert oft steht in der Skizze auch, was sein muss: „Das Ziel des heutigen Städtebaus muss eine sorgfältige Weiterentwicklung der europäischen Stadt sein“, „das einzelne Haus muss dabei als Teil einer gesamtstädtischen Einheit verstanden werden“, „die Straßenfassade und das Erdgeschoss eines jeden Hauses muss (!) als Teil der Stadt fungieren.“ Und so weiter und so fort. Es ist jedem freigestellt, der Meinung zu sein, dass dies geeignete Maximen des städtebaulichen Entwerfens sind. Darum geht es aber nicht. Es geht darum, ob etwas Forschung ist, wenn man schon die Regeln kennt, die man vorgibt zu suchen, wenn man weiß, nach welchen sich ein Stadtquartier zu entwickeln habe, wenn man das mögliche Ergebnis schon auf das verengt, was innerhalb eines schmal gesteckten Korridors erlaubt wird.

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Geh doch mal dorthin, wo du noch nicht warst. (Bild: Christian Holl)

Ein gemischtes Quartier ist ein gemischtes Quartier

Und dann ist immer die Rede von Typologien – eine Typologie ist die Lehre von den Typen, die man aber nicht wählen muss, wenn man ein Gebäude baut, sondern die man berücksichtigen sollte. Was man wählen kann, sind Typen. Aber vielleicht sollte man erst einmal schauen, was diese Typen erfüllen sollen, außer geeignet und ortstypische Typen zu sein. Oder ob Typen aus anderen Orten auch in Frage kommen. Und dabei sollte man Popper ernst nehmen und sich nicht nur dort umsehen, wo man weiß, dass man das findet, was einem in den Kram passt. Bei Popper liest sich das so: Es werden Theorien durch Tatsachen bestätigt, „von denen sich bei näherem Hinsehen herausstellt, dass sie im Licht eben jener Theorien ausgesucht werden, die sie prüfen sollen.“ Wer denkt, dass bunte Bilder Rot enthalten müssen, und die Aufgabe stellt: Male ein buntes Bild, verwende aber die Farbe Rot, bekommt das Ergebnis: Bunte Bilder enthalten Rot. Es lebe die Wissenschaft!
In ähnlicher Weise werden so sinnfreie Fragen formuliert wie diese: „Was genau macht gemischte Stadt, ein gemischtes Quartier aus?“ Man könnte auch fragen: Was genau macht ein vierbeiniges Pferd aus? Eine gemischte Stadt ist eine gemischte Stadt, weil sie gemischt ist, wie jede Stadt eben. Oder: „Welche soziale Mischung braucht ein städtisches Wohnquartier?“ Also ob alles nur genau genug festgelegt werden müsste und dann abgearbeitet werden könnte. Dass das Entwerfen Forschung sein kann, ist ja schon umstritten. Wenn es aber Forschung ist, dann bitte eine, die uns zeigt, dass etwas, was wir für unumstößlich oder unvorstellbar hielten, eben doch nicht stimmen muss und vorstellbar sein kann. Bei einem solchen Ergebnis wäre es mir dann auch gleichgültig, ob es Forschung ist.


(1) Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus. 7. Auflage, Tübingen 2003