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An jeder Ecke Eckkonflikte

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„Eines der größten Abenteuer der Architektur: in die Innenecken zu schauen und das, was dort vor sich geht, zu beobachten“,  so Turnovský. „In jeder Ecke ist die ganze Tragödie des Universums, (…) aber auch eine ganz spezifische Alltagsgeschichte hineingeschrieben.“ (Bild: Christian Holl)

Stilkritik (123) | Frühling – raus an die Luft. Für die nun anstehenden Spaziergänge, an, vor und nach Ostern haben wir einen Tipp: Überprüfen Sie doch mal ihr Baugeschichtswissen an der Architektur vor der Haustüre. Es könnte eine kleine Entdeckungsreise werden. Und zu der Freude am Bestand führen, die wir brauchen, um ihn wirklich zu erhalten, wenn wir endlich aufhören wollen, den Klimawandel als ein beliebig zu verhandelndes politisches Thema zu bagatellisieren.

Ja, es gibt schon noch ein paar, die es nicht kapiert haben, dass es im Bauen inzwischen zuerst und vor allem um den Bestand geht. Die immer noch von den Heldenerzählungen der neuen Architektur träumen, von Hamburg und Bilbao, davon, dass es irgendwann das eine neue Gebäude gibt, das alle Versäumnisse und Fehler der Vergangenheit hinter sich lässt und ab jetzt die gute schöne Architektur die ist, die mindestens hundert Jahre stehen wird, womit sich dann alle Diskussionen um den Umbau des Bestands erübrigen, denn der ist ja defizitär, voller Bausünden und Planungsfehler. Und wird er nach und nach ersetzt, dieser schlimme Bestand, wird irgendwann, uns sei es eben in hundert Jahren oder später, ganz bestimmt alles gut. Wir müssen nur lange genug ausschließlich gute Architektur bauen. Seufz.

Eine sprudelnde Quelle

Abgesehen davon, dass wir soviel Zeit nicht mehr haben und die Architekt:innen der Generationen vor uns der Meinung gewesen sein könnten, dass sie das doch schon getan haben, hat diese Sache einen Haken. Und zwar den: Architektur ist grundsätzlich immer voller Fehler. Jedenfalls dann, wenn man davon ausgeht, dass sich in der fehlerfreie Architektur sowohl die Nutzung, das Programm und der Raum passgenau zueinander fügen, als auch die systemimmanenten Logiken der dem Bauen zugrunde liegenden Regeln widerspruchsfrei erfüllen. Oder so ähnlich. Es wäre vermutlich eine Architektur, in der man sich nicht unbedingt behaglich fühlt. „Alle Elemente, egal woher genommen, können Gegenstände neuer Zusammenhänge werden“, so beschreibt Josef Frank eine Freiheit im Umgang mit der Architektur.(1) Das wäre eine Freiheit, die aufgegeben werden müsste, obwohl es eine ist, die wir beim Eintritt ins Kreislaufwirtschaftszeitalter zu gebrauchen wissen sollten.

Eine fehlerfreie Architektur wäre eine, die es uns nicht gestattet, uns anders als vorgesehen in ihr zu verhalten. Aber erst wenn wir uns anders verhalten als es sich die Architekt:innen vorgestellt hatten, wenn es knirscht, wenn wir uns davon befreien, uns geräuschlos ihr unterzuordnen, wird die Eigenständigkeit der Architektur sichtbar. Wir erleben uns als Individuen und die Architektur als etwas eigenes, im besten Fall dann eben auch als etwas Schönes. Die Architektur braucht den Fehler, um Architektur zu sein. Und nun braucht sie ihn auch, um bleiben zu dürfen. Denn irgendwann passen Raumprogramm und Nutzungswunsch nicht mehr zueinander. Kein Problem: Wir deuten um, von der Fabrik zum Loft, von der Kirche zur Bibliothek, von der großbürgerlichen Wohnung mit Dienstpersonalseparee zur Studierenden-WG. Es ist ein Fehler, zu glauben, Architektur sei dann gut, wenn sie die Nutzungsanforderungen ideal erfüllt. Weil sie das nicht tut, ist Architektur eine sprudelnde Quelle für Inspiration und Entdeckungen.



		
		

Inspiriert wird man aber nicht nur, wenn irgendwann mal etwas neu genutzt und überraschend aktualisiert wird. In seinem großartigen Essay über den Fehler hat Fritz Barth die Geschichte von Vierzehnheiligen herangezogen. Dieses einzigartige und großartige Werk der Baukunst ist nur deswegen eines geworden, weil Balthasar Neumann an einem Bau weitergearbeitet hatte, der zwar auf seinen eigenen Entwurf zurückging, der aber von einem anderen begonnen wurde und der Neumanns Entwurf eigenmächtig verändert hatte. Als dies bemerkt wurde, hätte man abreißen können – aber statt dessen durfte nun doch Neumann ran. Nach anfänglichem und verständlichem Zögern baute er an dem weiter, was ein anderer aus seinem Entwurf gemacht hatte. Und erst daraus wurde nun ausgerechnet das opus magnum, was wir noch heute bewundern dürfen.(2)

Ein subversiver Lehrmeister

Ja natürlich. Aus dem Weiterbauen ist sonst eher selten das geniale Meisterwerk entstanden. Damit verbunden sind eher die vielen, manchmal auch berüchtigten Aneignungen oder Aneignungsversuche, die rührend bis empörend hilflosen Heimwerkerinterventionen, die Einbauten und Anpassungen. Doch das ist ja nicht alles. Der Fehler setzt die Regel voraus. Den Fehler zu loben, ist viel mehr als eine gnädig lächelnde Vergebung handwerklicher Grobheiten. Den Fehler als Fehler zu erkennen, setzt voraus, dass es bekannt ist, worin der Fehler besteht, wogegen er verstößt. Er schafft Abwechslung, fordert zum genauen Hinsehen auf, stellt die Frage, warum der Fehler eigentlich Fehler heißt und nicht Bereicherung, wer eigentlich mit welcher Autorität Regeln aufstellt und welchen Sinn sie haben, diese Regeln. Der Fehler ist ein subversiver Lehrmeister. Und anstatt auf die Schenkel klopfend sich über andere lustig zu machen, könnte man – beispielsweise – an den vielen Umbauten und Weiterbauten den Eckkonflikt in unzähligen Varianten unter die Lupe nehmen, die störrische Widerspenstigkeit des Materials gegen die reine und abstrakte Lehre in Stellung bringen.



		
		

Denn ein Eckkonflikt ist kein Privileg des dorischen Tempels. „Es liegt in der Natur der Dinge, dass ein Architekturkonzept sich mit der ‚Materie‘ der Architektur nie ganz vertragen kann“, so Jan Turnovský in seinem wunderbaren Essay „Die Poetik eines Mauervorsprungs“: „An jedem Haus scheitert der konsequente Geist, das ist schön anzuschauen“, so heißt es ein paar Zeilen später.(3) Wie sich Flächen um den Raum streiten, wie der Wechsel der Richtung eine neue Artikulation herausfordert, wie sowohl eigenständiges Objekt zu sein als auch sich mit anderen zu einem Ensemble zu fügen jedes Haus vor unüberwindbare Hindernisse stellt – das alles lässt sich im Alltag beobachten: Und je mehr umgebaut wird, mit umso intensiverer Dramatik. Für alle Schöngeister: Das ist nur möglich, weil die Norm als eine Voraussetzung anerkannt wird, der zu entsprechen die wunderbarsten Verrenkungen gemacht werden, auch von denen, die die Regel zu formulieren Mühe haben dürften. Das Ideal der fehlerfreien Architektur ist unerreichbar – aber es wirkt in vielen Bauten, in sehr viel mehr, als es ein akademischer Baukunstschnösel zugeben mag. Wie viel Freude hat, wer so genannte Alltagsarchitektur genau anschaut, die Lust am Versuch schätzt, ohne die das Scheitern nicht zu denken ist. Wunderbarer Nebeneffekt: Geld spielt keine Rolle. Man kann jeder Scheune, jedem Schuppen etwas abgewinnen. Wie schön ist doch all die Architektur, die es gibt.


(1) zit. nach: Hermann Czech und Sebastian Hackenschmidt: Josef Frank: Against Design. In: Christoph Thun-Hohenstein, Hermann Czech und Sebastian Hackenschmidt (Hg.): Josef Frank – Against Design Das anti-formalistische Werk des Architekten. Basel, 2021, S. 14–27, hier S.22
(2) Fritz Barth: Vom segensreichen Wirken der Fehler. Eine Gegenposition. In: ders.: Vom segensreichen Wirken der Fehler und anderem. Vier Essays zur Architektur. Stuttgart/London 2021, S. 29-64
(3) Jan Turnovský: Die Poetik eines Mauervorsprungs. Braunschweig/Wiesbaden 1999, S. 15. Das Zitat der ersten Bildunterschrift stammt von der S. 92