Vorläufig ungenutztes Potenzial für die zukünftige Entwicklung: Pforzheims Erbe der Nachkriegsmoderne. Im Bild das Ensemble am Schlossberg. Bild: Hauke Rehfeld
Großprojekte zur Stadtentwicklung haben eine Leuchtkraft, die ihnen eine verführerische Attraktivität verleiht. Einfach und bildhaft vermitteln sie Verbesserung, Fortschritt und Innovation; im großen Maßstab stehen sie für das Versprechen auf die vermeintlich bessere Zukunft. Geht es auch anders?
Pforzheim, die kleine Großstadt am Rande des Nordschwarzwaldes, ist derzeit Feuer und Flamme für seine „Innenstadtentwicklung-Ost“. Der Pragmatismus des Projekttitels täuscht, denn unter ihm kursiert das ersehnte imaginierte Bild einer endlich schönen, angenehmen, vielfältigen, zeitgemäßen und vorwärts strebenden Stadt. Das bestimmende Leitbild ist ebenso simpel wie verständlich: Rund um das Rathaus soll ein lebhaftes Miteinander aus „Wohnen und Arbeiten“, „Freizeit und Einkaufen“, verbunden mit „Kultur und öffentlichem Leben“ entstehen.1 Das visionäre Bild beinhaltet Grünoasen, in das Stadtleben integrierte Gewässer, gemütliche und belebte Aufenthaltsorte, nachverdichtete Urbanität und (selbst in Pforzheim) autofreie Zonen.2 Wer möchte dazu nicht „Ja“ sagen?
Wie aber soll dieses verheißungsvolle Großvorhaben konkret auf die Situation Pforzheims, deren Bedarf und Bedürfnis umgesetzt werden? Die Innenstadtentwicklung-Ost geht aus dem Masterplan für Pforzheim hervor, der 2012 unter dem Motto „Pforzheim Zukunft Gestalten“ erarbeitet wurde und als Kompass für die Stadtentwicklung der kommenden 15 Jahre dienen sollte. Dieser – etwas in Vergessenheit geratene – Masterplan enthält elf anspruchsvolle Leitsätze wie: „Pforzheim bewahrt sein architektonisches Erbe und legt Wert auf hohe Qualität bei Planung und Gestaltung der Stadt.“3 Die Bedeutung dieses Leitsatzes für stadtplanerische Prozesse in Pforzheim begründet die Stadt selbst wie folgt:
„Pforzheim hat besondere baulich-räumliche Qualitäten, die es so einzigartig macht [sic!]. Dies erfordert besondere Sorgfalt bei der Planung und Gestaltung der Stadt. Als Stadt der Nachkriegsmoderne ist Pforzheim stark durch seine Bebauung aus den 1950er und 1960er Jahren geprägt. Mit dieser Bausubstanz wird gestalterisch wertschätzend umgegangen. Das Vorhandene wird verstärkt aufgegriffen, positiv besetzt und erhalten. Für einen guten Umgang mit der vorhandenen Bausubstanz gibt es Beratung und Förderung, um die stadtbildprägenden Qualitäten an den Fassaden aus den 1950er Jahren wiederherzustellen und gleichzeitig aktuelle energetische Standards einzuhalten.“ 4
Anspruch und Wirklichkeit
Pforzheim und seine charakteristische Nachkriegsmoderne: Das ist für die Stadt und viele seiner Bewohner mehr Leid als Freud; erinnert das Vermächtnis der 1950er bis 60er Jahre doch mehr daran, dass Pforzheim immer vorne im Rennen um die hässlichste Stadt Deutschlands liegt. Dass diese sogenannten Hässlichkeiten überwiegend einem affirmativ-modernen, Demokratie symbolisierenden Konzept entspringen und weniger einem pragmatischen Notfallplan zum Umgang mit den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, mag niemand so richtig glauben; warum auch: Seit Jahrzehnten werden diese für viele unbequemen Bauwerke und Straßenzüge ihrem Schicksal überlassen. Dass systematisch die Ansätze von Koryphäen wie Klaus Humpert, Rob Krier, Büro Hilmer & Sattler oder Luigi Snozzi in den Untiefen stadtverwalteter Schubladen verschwinden, spiegelt wider, wie sehr sich Politik und Verwaltung davor verschließen, die Stadt mit mutiger Weiterentwicklung zu verändern.5
So wirken diese Gebäude heute wie aus der Zeit gefallen; unfunktional, verwahrlost und hoch sanierungsbedürftig warten sie regelrecht darauf, dass ihnen die Totenglocken geläutet werden. Eine Stadt, die ihr architektonisches Erbe bewahrt, vermittelt, klug weiterentwickelt und an die aktuellen Bedürfnisse ihrer Bewohner intelligent und einfallsreich anpasst, würde anders aussehen. Von authentischer, heute inflationär geforderter Imagepflege oder wirklichem Innovationsgeist ganz zu schweigen.
Ungenutzte Chancen
Lichtblicke gab es wieder für einen Blitzmoment vor einigen Jahren, als fundierte Publikationen, Ausstellungen und Stadtführungen6 dazu einluden, die Qualität der Stadt zu entdecken. Leider versickerte deren vielversprechendes Potenzial ohne nennenswerten politischen Einfluss.
Gerade das von Identitätsverlust und Identitätssuche geprägte Pforzheim, das sich bereits einmal völlig neu erfand und bis heute darunter leidet, dass dieser Aufbruch nicht ausreichend von der Stadtgesellschaft mitgetragen wurde, müsste endlich das Potenzial seiner nun 70 Jahre alten, einzigartigen gebauten Umwelt erkennen und darauf aufbauen. Im Endeffekt spiegelt der heutige Zustand der Innenstadt das politische Unvermögen wider, ein zeitgemäßes Verständnis von urbanem Raum zu entwickeln. Und dabei ist das Defizit wohl kaum in den einzelnen Gebäuden zu suchen, sondern eher in den Methoden, mit diesen umzugehen.
Versicherte die Stadt gestern noch: „Die elf Leitsätze [des Masterplans] sind weit mehr als reines Wunschdenken. Sie sind formulierter politischer Wille, der das künftige Handeln bestimmen wird. […]“7, sind heute die vorbereitenden Leitungsarbeiten für einen flächendeckenden Abriss im Gange, damit Platz für das „neue Quartier“ mit „neuen Bauten“ und „neuen Angeboten“ der Innenstadtentwicklung-Ost geschaffen wird.8 Hier zeigt sich exemplarisch die politische Paradoxie zwischen Intention und planerischer Umsetzung. So wird es bald das unter Denkmalschutz stehende Technische Rathaus, das Plateau (Östliche Karl-Friedrich-Straße 5–11) und das evangelische Gemeindezentrum, Pfarramt, Kita und Chorprobenraum am Schlossberg 4–10 nicht mehr geben.
Dafür wird der holländische Großinvestor Ten Brinke Pforzheim jenes pseudo-moderne Erscheinungsbild bescheren, das aus x-beliebigen Fußgängerzonen unzähliger Großstädte genaustens bekannt ist. Aufpolierte Renderings kursieren bereits dazu im Netz. Doch das ersehnte lebhafte Miteinander an erholsamen, wohltuenden innerstädtischen Orten, die hauptsächlich den Bedürfnissen der Menschen dienen, ist damit nicht garantiert – Großinvestoren verfolgen ökonomische Ziele. Garantiert ist jedoch, dass Pforzheim Identität, Authentizität und Alleinstellungsmerkmale verlieren wird – auch den nur etwas querdenkenden Ökonomen müsste das eigentlich zu denken geben.
Viele kleine Schritte
Ein weiteres Paradox zeigt sich darüber hinaus gerade in einer Parallele zwischen dem heutigen Projekt Innenstadtentwicklung-Ost und der dafür weichenden Bebauung: Wie die Nachkriegsmoderne setzt der aktuelle Plan auf die plakative Formel: neu=besser. Bereits als das moderne Pforzheim entwickelt wurde, klang das Wort „neu“ so unendlich vielversprechend, zukunftsweisend, heilend. Nach dem verheerenden Luftangriff am 23. Februar 19459 entschied sich Pforzheim wie auch Rotterdam oder Kassel gegen Wiederaufbau und stattdessen für einen revolutionären Neuaufbau im Sinne der „autogerechten Stadt“ und der „Charta von Athen“, was auch zur heute gescholtenen Funktionstrennung führte.10 Wie der Kunsthistoriker und städtische Denkmalpfleger Christoph Timm ausführt, dürfte Pforzheim „die einzige deutsche Stadt sein, die […] auf jeglichen Versuch verzichtet hat, einen Teil ihres historischen Stadtbildes wiederzugewinnen.“11
Damals galt diese Entscheidung als fortschrittlich – ja, gar als Chance, heute wird sie von der Mehrheit als Fehler bewertet. Wir vermissen die kleinen Gassen, gewachsenen Strukturen und historischen Fassaden, wie sie etwa das Stadtbild Freiburgs oder Karlsruhes prägen, welche nach dem Zweiten Weltkrieg vermehrt auf Erhalt und traditionellen Anpassungsneubau setzten.
Warum nicht heute aus den Fehlern der 1950er und 60er Jahre lernen und auf dem Bestehenden aufbauen, Strukturen wachsen lassen, sanieren, umbauen, weiterentwickeln und dazu Grünoasen anlegen, Flüsse integrieren, Dächer ausbauen, Leerstand nutzen und nachverdichten, alles möglichst autofrei natürlich?
Bei der Umsetzung dieses Modells könnte sich die Lektüre des Soziologen Lucius Burckhardt als hilfreich erweisen: Bereits zu deren Entstehungszeit ein vehementer Kritiker der autogerechten Stadt und großdimensionierter stadtplanerischer Interventionen, erläutert er die Qualität der kleinen städtischen, dynamischen Eingriffe und empfiehlt, diese in kleinen Schritten, etappenweise, prozessorientiert und gemeinsam mit dem Nutzer zu entwickeln. Im Zweifelsfall zieht er das unentwegte Aufschieben von Entscheidungen halbgaren Ad-hoc-Beschlüssen eines „Wenn nicht jetzt, dann nie“ vor. Denn in der Zwischenzeit entwickeln sich häufig reizvolle Zwischennutzungen auf Initiative der Bevölkerung, die das Potential von abgeschriebenen Orten wieder aufzeigen.12
Mögen die visionären Bilder der Großprojekte noch so glänzen und glitzern: die Diskrepanz zwischen politischer und planerischer Intention und faktischem Ergebnis dieser Planung ist zu oft desaströs und wird nicht nur in Burckhardts Analyse offensichtlich. Das sich im Entwicklungsstadium befindende Projekt Innenstadtentwicklung-Ost, aber auch schon fertiggestellte Teile des Masterplans, etwa die missglückte Verschönerungsaktion in der Zerrennerstraße und der für die Stadtgröße und Verschuldung Pforzheims überdimensionierte Busbahnhof zeugen beispielhaft davon.