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Das Ihmezentrum vom Ihme-Ufer aus. (Bild: Christian A. Schröder, CC BY-SA 4.0, Quelle >>>)

Staatsversagen, Marktversagen, Digitalisierung, Klimawandel, Energiewende – die Liste der Herausforderungen, denen sich Städte gegenüber sehen, ist lang.  Mit den gängigen Werkzeugen ist es kaum möglich, angemessen auf neue Normalitäten zu reagieren. Zukunftsorientierte Stadtplanung braucht Disruptionen – beispielsweise als urbane Sonderentwicklungszonen. Welche Chancen das gerade im Bestand eröffnen könnte, zeigt das Beispiel Ihme-Zentrum in Hannover: Ein Fall, der aussichtslos schien.


200.000 Hektar Brachland gibt es inmitten von Städten und Kommunen in Deutschland. Das sind Zahlen des Umweltbundesamts – und sie umfassen nur die gemeldeten Flächen. Hinzu kommen unzählige Hektar un- oder untergenutzter privater Grundstücke – vergessen oder absichtlich ignoriert. Angesichts des zunehmenden Drucks in den meisten Metropolen gibt es schlicht keine Alternative, als diese Flächen zu erschließen, denn die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten für dieses ungenutzte Potenzial sind enorm.
Leicht gesagt. Die Praxis zeigt, wie schwierig echte Konversion im Kontext aktueller Herausforderungen ist: Globalisierung, Digitalisierung, demografischer Wandel, Energie- sowie Mobilitätswende zwingen uns zwar, neu über Stadt nachzudenken. Doch die politische Debatte produziert zwar Meinungen, bringt aber nur selten echte Innovation in der Raum- und Stadtentwicklung hervor. Das, was wir brauchen, sind  Disruptionen.


Disruptionen für die Städte von morgen


Eine Disruption ist die radikalste Innovation überhaupt: Anders als inkrementelle, also leichte Veränderungen, die ein Produkt oder eine Dienstleistung verbessern, ist eine Disruption ein grundlegender Bruch mit einem aktuellen Zustand oder dem gesamten Prozess: Etwas Altes wird durch etwas Neues ersetzt. In der Industrie, aber auch in der Kultur finden sich unzählige Beispiele für Disruptionen: Autos, die Pferdekutschen ersetzen, oder Audiostreaming, das MP3-Player ersetzt, die wiederum CDs verdrängt haben, die wiederum Platten ersetzten – und so weiter. Auch in der Ökologie kommt es aufgrund von evolutionären Sprüngen oder naturräumlichen Veränderungen zu Disruptionen. Doch eine Disruption im Stadt- und Raumentwicklungskontext berührt viel mehr als nur die technologische Ebene. Gerade für den Umgang mit unbequemem Bestand in den Städten, die kaum eine Perspektive zu bieten scheinen, können Disruptionen helfen. Dazu müssen tradierte Denkmuster aufgegeben werden – und das ist besonders schwierig, denn sie sind fest verankert: im Baugesetzbuch, als Regularien der Ordnungsämter, als Flächennutzungspläne. Auch die mehr oder weniger strategischen Entwicklungspläne beruhen meist auf einem tradierten Denkschema und werden dementsprechend analysiert, bewertet und gesteuert.


Urbane Utopien und komplexe Probleme


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Heimat von 1500 Menschen. Luftbild des Ihme-Zentrums von 2016.
(Bild: Gerd Fahrenhorst, CC BY 4.0, Quelle: >>>)

Im Rahmen meiner Forschungsarbeit „Das Ihme-Zentrum – ein neues Wahrzeichen für Hannover“ konnte ich von 2014 bis 2018 genau untersuchen, wie altes Selbstverständnis zu komplexen Problemen führt und schließlich zu einem Stillstand: wirtschaftlich, soziologisch und auf die Stadtentwicklung bezogen.
Das Ihme-Zentrum ist ein Paradebeispiel eines urbanen Brown Fields. Geplant und gebaut in der euphorischen und kapitalreichen Wirtschaftswunderära der 1960er- und 1970er-Jahre, galt das multifunktionale Subzentrum am Rande der hannoverschen City eine Zeit lang international als Leuchtturmprojekt: Rund 800 komfortable Wohnungen, ein modernes Einkaufszentrum auf 70.000 Quadratmetern sowie Büros für etwa 2.000 Menschen – gelegen am namensgebenden Fluss Ihme und mitten in einem der wohl dynamischsten Stadtteile Deutschlands: Hannover-Linden. Mit der raumschiffartigen Stadt in der Stadt Ihme-Zentrum wollte Hannover damals aufschließen zu Metropolen wie London, Paris oder Tokio.
1975 eröffnet, wurde das Zentrum schnell von einer urbanen Utopie zu einem Symbol für die Hybris der Wirtschaftswunderzeit: Nach der Devise „Klotzen statt Kleckern“ wurde ein Quartier geschaffen, das rund 3,5 Mal größer war als ursprünglich vorgesehen. Die Verdichtung nahm Proportionen an, wie sie sonst wirklich nur in New York oder Tokio erlebbar waren, und die Eigentümerstruktur wurde durch ihre Komplexität immer ineffektiver.

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Das Ihme-Zentrum vom DGB-Hochhaus 2011
(Bild: Recherche, Scans, Arbeitsleistung gestiftet von: Bernd Schwabe in Hannover [CC BY 3.0 , Quelle: >>>)

Heute gilt das Ihme-Zentrum als eines der umstrittensten Quartiere Norddeutschlands – mit einem Investitionsstau im dreistelligen Millionenbereich: Das Einkaufszentrum liegt seit 2008 brach, etwa 100.000 Quadratmeter stehen leer. Die Büroflächen werden größtenteils nur durch die Miete der Landeshauptstadt und damit durch den Steuerzahler subventioniert und wurden seit 40 Jahren nur wenig energetisch und innenarchitektonisch modernisiert.
Die Eigentümertreffen der rund 550 Parteien sind geprägt von einer aggressiven Stimmung. Die Teilungserklärung, also das Betriebssystem, umfasst mehr als 700 Seiten, und die Mehrheit in der Wohn- und Eigentümergemeinschaft wird seit Anfang der 2000er Jahre durch sich abwechselnde Investmentfonds gehalten. Mal sind es Unternehmen mit juristischen Sitz auf Zypern, mal US-amerikanische Fonds, mal Unternehmen, deren Personal nach dem ersten Googeln an Spekulanten-Klischees aus dem Tatort erinnern.
Kurz: Das Ihme-Zentrum ist ein komplexes Problem. Und ein ideales Forschungsobjekt.


Nachhaltigkeitsforschung als Schlüssel


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Was, wenn man die Geschichte des Ihme-Zentrums nicht als eine des Versagens, sondern seiner Qualitäten erzählte? (Bild: Constantin Alexander)

Um zu untersuchen, warum es so weit kommen konnte und welche positiven Entwicklungsmöglichkeiten es gibt, bin ich 2014 ins Ihme-Zentrum gezogen und habe dort im Rahmen einer Forschungsarbeit einen Prototypen für eine nachhaltige und kreative Disruption in der Urbanistik entwickelt.

Die Analyse bestand aus drei Teilen: Am Anfang habe ich untersucht, warum das Quartier nicht abgerissen wird. Die Antwort ist überraschend einfach: Es ist aus ökologischen, sozialen und ökonomischen Gründen nahezu unmöglich. Die Bruttogeschossfläche des Zentrums umfasst rund 300.000 Quadratmetern, das Quartier steht auf einem der größten Betonfundamente der Welt.
Die Menge an Schutt, Müll und Feinstaub wäre eine immense Belastung für Mensch und Natur. Gleichzeitig ist die Struktur des Gebäudes ein Stahlbetonskelett. Die Hülle zu ersetzten und die Struktur zu erhalten, wäre energiesparender, als ein Abriss und ein wie auch immer gearteter Neubau.
Auf sozialer Ebene wäre ein Abriss zynisch: Im Zentrum wohnen heute mehr als 1.500 Menschen. Der Leerstand in den etwa 800 Wohnungen liegt bei etwa einem Prozent. Um die 40 Prozent wohnen im Eigentum, viele von ihnen seit 1975. Es ist ihre Heimat. Angesichts des Drucks auf dem Immobilienmarkt ist ein Abriss schlicht Quatsch.
Und auch auf ökonomischer Ebene ist ein Abriss Unsinn: Schätzungen gehen davon aus, dass ein Abriss etwa 150 Millionen Euro kostet, dazu kämen die Entschädigungszahlungen an Eigentümerinnen und Eigentümer. Das Grundstück – ob bebaut oder unbebaut – ist dieses Geld nicht wert. Es wäre ein negativer Return of Investment. Sprich: Ein Abriss kommt nicht in Frage.

Der zweite Teil der Analyse umfasste die Möglichkeiten einer Transformation. Dazu führte ich im Zeitrum 2014 bis 2016 etwa hundert Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Expertinnen und Experten aus den Bereichen Architektur, Stadtentwicklung, Bauingenieurswesen, Recht, Medien, Kunst, Kultur sowie Wirtschaft und fragte sie nach ihrer fachlichen Perspektive von Reparaturmöglichkeiten sowie Entwicklungspotenzial des Ihme-Zentrums. Das Ergebnis: Jedes Teilproblem ist reparabel.

Der dritte Teil der Analyse umfasste dann den Aspekt des Image-Reframings – ein Werkzeug aus der PR, mit dem die Diskussion über ein Thema nach eigener Agenda beeinflusst wird. Das Thema Ihme-Zentrum wurde zum Zeitpunkt der Analyse von Lokalmedien sowie der Stadtgesellschaft überwiegend negativ aufgefasst. Das Quartier galt als prekäres Problemviertel, viele meiner Nachbarinnen und Nachbarn erzählten mitunter nie, wo sie lebten. Es galt, ein neues Bewusstsein für diese lange ignorierte Immobilie zu formen und aus der partiellen Ruine einen Möglichkeitsraum zu machen.


Vom Forschungsobjekt zur Kampagne


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Der Autor auf einer der vielen Begehungen, in denen der das Ihme-Zentrum Interessierten vorstellte. (Bild: Constantin Alexander)

Dazu entwickelte ich eine Kampagne, bestehend aus verschiedenen Kommunikationskanälen (Blog, Social Media) sowie monatlichen öffentlichen Rundgängen durchs Viertel, um mit Bewohnenden, Experten und Interessierten ins Gespräch zu kommen, Ideen zu sammeln und die öffentliche Sicht aufs Quartier zu verändern. Zu den Rundgängen kamen seitdem mehr als 16.000 Menschen. Die Artikel auf den Kanälen wurden tausendfach angeklickt und geteilt und brachten immer wieder neue Ideen, Visionen und auch Erinnerungen von Menschen, die (wie ich) das Quartier positiv sahen. Das Interesse an einer guten Entwicklung war größer als ich dachte.
Also produzierten ich mit dem hannoverschen Filmemacher Hendrik Millaheuer 2016 mithilfe von Crowdfunding und einer Förderung von Nordmedia eine 45-minütige Dokumentation über das Viertel. Der Film „Traum Ruine Zukunft“, gedreht im Stil des konstruktiven Journalismus, läuft seit Dezember 2016 monatlich im örtlichen Kunstkino.

Die Aufmerksamkeit war irgendwann so groß, dass es zu einem Tipping Point kam: Auf einmal kamen immer mehr junge, kreative Menschen, aber auch Immobilienmakler zu den Rundgängen und erkannten das Potenzial des Quartiers und dessen Freiraum. Und schließlich sprangen auch Lokalpolitiker auf, auch wenn sie oftmals nicht verstanden, warum ein junger Mensch so einen Aufwand betrieb, um ein Quartier zu transformieren.

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Ungenutzte Freiräume. Sie warten auf ihre Chance. (Bild: Constantin Alexander)

Es entstand das, was Richard Sennett als „saatähnliche Stadtplanung“ bezeichnet hatte: Mit der Kampagne wurden Samen einer organischen Entwicklung gesetzt. Aus meiner eigenen privaten Kampagne wurde irgendwann der Verein „Zukunftswerkstatt Ihme-Zentrum“, den ich etwa zwei Jahre leitete. Mit der Eröffnung des gleichnamigen Nachbarschaftszentrums übergab ich die weitere Entwicklung in die Hände des Vereins. Teile der Verwaltung der Landeshauptstadt entdeckten das Quartier neu und fördert mehrere Kulturinitiativen: Es gibt wieder Kunstausstellungen, Theater und Konzerte im Quartier. Was den aktuellen Haupteigentümer angeht – dessen Engagement bleibt vage. 2019 soll ein neuer Eigentumswechsel vollzogen werden, ohne dass der alte etwas Signifkantes zur Verbesserung des Viertels beigetragen hat. Auch die oberste Ebene der Stadtpolitik und Verwaltung vermag sich nicht ganz auf ein wirklich disruptives Denken in Bezug auf das Ihme-Zentrum einlassen. Das Problem wird eher verschoben, als tatsächlich angegangen.


Wie geht es weiter?


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Nachhaltigkkeit und Stoffkreisläufe als Chance für das Ihme-Zentrum? Visualisierung. (Bild: Constantin Alexander)

Mein Engagement innerhalb der Vereinsstrukturen habe ich inzwischen eingestellt: Es sollte die oberste Prämisse einer Entwicklungsarbeit sein, sich irgendwann obsolet zu machen, damit eine Idee und die Arbeit daran nicht nur von einer einzigen Person getragen wird. Und doch forsche ich weiterhin an der Möglichkeit, die Disruption im Ihme-Zentrum zu vollenden und aus dem Quartier eine sogenannte Sonderentwicklungszone zu machen.
Analog zu der Vision der „Charter City“ des Wirtschaftsnobelpreisträgers von 2018, Paul Romer, böte das Ihme-Zentrum, aber auch viele der anfangs erwähnten Brachflächen, das Potenzial, Stadtentwicklung radikal neu zu denken. Die Faktoren Politik, Baugesetzgebung, Medien und die spekulativen Interessen gewisser Stakeholder haben eine für das Gemeinwohl gefährliche Situation erzeugt. Warum also nicht aus den Brachen Gebiete einer besonderen Entwicklung machen? Mit anderen Zielen und Erfolgsindikatoren, wie sie sonst in den Städten herrschen? Beispielsweise komplett nachhaltigen Stoff- und Energiekreisläufen? Einer zukunftsorientierten und generationsgerechten Mobilität? Genossenschaftlicher Produktionsweisen?

Hannover will 2025 Europäische Kulturhauptstadt werden: Das Ihme-Zentrum könnte zu dem Symbol der Festivität werden: So wie einst die Weltausstellungen genutzt wurden, um den technologischen Fortschritt – etwa in Form des Eiffelturms –darzustellen, könnten wir als Gesellschaft mit dem Ihme-Zentrum zeigen, dass Kultur neben Musik, Literatur, Theater oder Bildende Kunst eben auch die Architektur umfasst. Und dass gerade sie die wohl wichtigste Kulturtechnik unserer Zeit herausfordert: das Reparieren.