„Das Wohnhaus stirbt nicht aus – der Archetyp jeder Architektur“, hieß es kürzlich in einer Pressemeldung über prämierte Einfamilienhäuser. Die Verbindung Archetyp und Einfamilienhaus ist ein gängiges Klischee. Die Annahme, das eingeschossige Haus mit Satteldach, so wie es sich 15-millionenfach in Deutschland ausgebreitet hat, sei eine naturgegebene Tatsache, eine ahistorische Konstante, verstellt den Blick auf so ziemlich alles, was um das Thema Einfamilienhäuser wichtig ist. Und das ist im Moment einiges.
Zwei ältere Publikationen und eine Neuerscheinung rücken das idealisierte Bild etwas gerade.
Wie mit Einfamilienhäusern, mit Einfamilienhausgebieten umgegangen werden sollte, ist eine der aktuellen Schlüsselfragen für Architektur und Stadtentwicklung. Es ist bestimmt keine, auf die es einfache Antworten gibt. Doch man muss nicht bei Null anfangen – es lohnt sich neben aktuellen auch etwas ältere Überlegungen erneut unter die Lupe zu nehmen.
So erschien 1998, vor zwanzig Jahren also, unter dem Titel „Der Einzige und sein Eigenheim“ eine Sammlung von Schriften Pierre Bourdieus und anderen, die überwiegend Anfang der 1990er-Jahre zuerst auf Französisch veröffentlicht wurden. In einer Mischung verschiedener Texttypen (Essay, Interview, Reportage, Fallstudie, wissenschaftliche Analyse und Deutung), wie sie Bourdieu-Freunden von dessen großer Banlieu-Studie „Das Elend der Welt“ (1997) bekannt ist, wird dem Einfamilienhaus-Markt zu Leibe gerückt. Das Wort „Markt“ ist hier möglicherweise missverständlich – Bourdieu und seine Ko-Autoren sprechen von einem Feld. Denn es geht nicht nur um ökonomische Zusammenhänge, sondern vor allem darum, wie diese mit politischen und sozialen Dimensionen verwoben sind. Bourdieu et.al. zeigen, dass gerade in dieser Verzahnung eine Wirklichkeit konstruiert wird, die sich in der Produktion von Einfamilienhäusern wie in Lebensstilen und Alltagswelten abbildet. Das ist in einer beeindruckenden Deutlichkeit und Schärfe aufgeschlüsselt – Einfamilienhausbesitzer werden interviewt, Strategien von Bauunternehmern nachgezeichnet, das Agieren von Politikern analysiert. Am Ende bleibt wenig vom Mythos, dass sich das Ergebnis zwangsläufig so hatte ausbilden müssen und nicht eines von Entscheidungen ist. Vielmehr ist es so, „dass die vom ökonomischen Feld, wie wir es kennen, verlangten Dispositionen nichts Natürliches und Allgemeingültiges haben, sondern Produkte der gesamten Kollektivgeschichte sind, die unablässig in den Individualgeschichten reproduziert werden muss.“
Der Anteil der Politik
Insbesondere die Finanz- und Förderpolitik des Staates hat einen wesentlichen Anteil an dem, was sich als Kollektiv- und Individualgeschichte zeigt: Einfamilienhausgebiete mit „an ihren Besitz geketteten Eigentümern“. Ein wichtiges Ziel der politischen Steuerung war es, den Herstellern von Häusern einen Markt zu eröffnen. Was nach linker und dramatisierender Polemik klingt, wird freilich durch Daten und Beschreibungen belegt: Gerade die Kleinbürger hatten „einen hohen Preis“ zu zahlen. Sie waren auf Dauer innerhalb eines Lebensmodells gefangen, das finanzielle Abhängigkeiten schuf und – auf sozialer Ebene – Nachbarschaften bestimmte, die nicht die selbstgewählten waren. Das ist nicht allein von außen diesen Menschen aufgezwungen, aber deren Sehnsüchte werden gelenkt und – wie sich die Autoren nicht scheuen zu sagen – ausgebeutet.
Die Ergebnisse sind mitunter bitter. Eines der Interviews etwa berichtet von Herrn und Frau P., die versuchen, sich mit dem zu arrangieren, was sie sich leisten konnten – ein Haus in der Pariser Region mit enger Garage, schlechtem Schallschutz und einem weit entfernten Bahnhof. „Der Verkäufer hatte ihnen versichert, dass gegenüber der Siedlung ein neuer Bahnhof gebaut würde, er ist aber auf dem Gelände des alten Bahnhofs wiederaufgebaut worden. (…) Es fällt ihnen viel schwerer aufzuzählen, was ihnen an dem Haus gefällt.“
Man mag nicht zu unrecht einwenden, dass der französische Markt, die französische Situation auch schon 1990 eine ganz andere als die unsrige war und noch mehr heute ist. Es ist auch nicht falsch einzuwenden, dass diese Politik, diese Produktion beileibe nicht nur Verlierer produziert. Aber es geht auch darum, den Blick auf die Realität der Einfamilienhausgebiete zu schärfen und sie als eine Summe von Entscheidungen wahrzunehmen, die auch anders getroffen werden können – was Bourdieu hierzu untersucht, wäre wert, 2018 auf die Lage in Deutschland angewandt zu werden.
Ein komplexer Gegenstand
Eine der seltenen aktuellen Publikationen, die sich dem Einfamilienhaus einmal nicht aus der Perspektive des attraktiven Traums oder der architekturpublizistischen Schönbilderpräsentation widmet, ist die Ausgabe „Das Einfamilienhaus“ der Zeitschrift für Kulturwissenschaften (2017). Anders als andere kürzlich erschienene Publikationen zu Fragen nach dem Umgang mit dem Städtebau, mit Einfamilienhausgebieten (etwa Christina Simon-Philipp, Wüstenrot Stiftung >>> und Bosshard/Kurath/Luchsinger/Primas/Weiss >>>) geht es hier in gut gewählten und schlüssig aufeinander aufbauenden Beiträgen um das Zusammenspiel von Politik, gesellschaftlichen und ästhetischen Leitbildern sowie geschichtlichen Grundlagen.
Vom Haus als Kunstwerk (wie etwa das Haus Tugendhat) zur neuen anonymen Architektur, von der Heimatschutzbewegung bis zur Wirkung des Marshall-Plans, ist es die vielschichtige Perspektive, die dem Thema Einfamilienhaus jene Komplexität verleiht, die seinen immer noch andauernden Erfolg erklären kann. Sonja Hnilica und Elisabeth Timm etwa zeigen, wie das Einfamilienhaus als „individualisiertes, wirtschaftlich gefördertes Konsumgut“ eine besondere Verbindung mit geschichtlichen Traditionen, Konsumangeboten und akademisch vermittelter Baukunst eingehen kann, die als neue anonyme Architektur nicht mehr allein über regionale Traditionen adäquat zu fassen sind. Anders gesagt: Die unterstellte Gestaltungswillkür vieler Einfamilienhäuser ist keine.
Architektur für zwei Seelen
Über die Methode, mit dem Einfamilienhausmarkt die deutsche Nachkriegswirtschaft anzukurbeln, entstand eine jahrzehntelang stabile Doppelfigur aus Modernisierung und „Kontinuität patriarchaler Gesellschaftsmuster“ (Alexandra Staub). Marcus Menzl macht auf die Diskrepanz zwischen Wohnform und zeitgemäßen Lebensentwürfen aufmerksam. Sie wird zugespitzt in der zitierten Äußerung einer interviewten Frau: „Wir haben zwei Seelen in der Brust, wie viele. Weil wir einerseits die Stadt lieben (…) Andererseits aber auch eine Seele haben, die gerne Dorf hat, Landschaft, Natur (…).“ Wie es gelingen kann, solche Gegensätze zuzulassen und, wie Menzl meint, „die Realisierung komplexer Lebensentwürfe zu ermöglichen“, ist eine der Schüsselfragen für Architektur und Städtebau von heute.
Das wird kaum gelingen können, wenn man bekannte, stereotype Muster weiter reproduziert. Wichtig ist dabei, die Antwort nicht über städtebauliche Entwürfe oder ästhetische Ansprüche an das Haus als ein fertiges Objekt zu suchen. Dazu ist der Beitrag von Jonathan Voges aufschlussreich. Er zeigt, wie der Erfolg des Einfamilienhauses der Nachkriegszeit durch die Angebote einer Bau- und Heimwerkerindustrie ergänzt und gefestigt wurde. Der gelang es, das Potenzial des Hauses, an dem selbst Hand angelegt werden kann, zu nutzen, damit die Menschen in ihm sowohl „metaphorisch als auch performativ“ bei sich selbst zu Hause sein können.
Damit ist gemeint, dass sich im permanenten Prozess des Heimwerkerns („Es gibt immer was zu tun“, wie es der Hornbach-Slogan auf den Punkt bringt) nicht nur die Wohnumgebung konkret verändert und umgestaltet wird, sondern sich in der Arbeit auch die Eigenschaften des Heimwerkers abbilden: „Originalität, Kreativität, Begabung, Geschicklichkeit, Sachverstand, Fleiß, Ausdauer“. Die Betonung auf der Veränderung und dem Bedürfnis, die eigene Alltagswelt durch eigenes Tun erst tatsächlich zur eigenen zu machen, ist genau der Punkt an dem die Vorstellung des zeitlosen Archetypus als eine Konstante, die (wenn auch interpretierend) reproduziert werden kann und dann, einmal hergestellt, nicht mehr verändert werden zu braucht, an den Sehnsüchten der Menschen vorbeigeht.
Misserfolg nur aus Architektensicht
An dieser Stelle lohnt sich der Hinweis auf eine 1969 erstellte und 1971 auf deutsch erschienene Studie über die Siedlung Pessac von Le Corbusier von Philipp Boudon. Sie umkreist die Frage, ob der Umgang der Bewohner mit den Corbusier-Häusern ein Ausdruck des Scheiterns der architektonischen Idee ist. Auf den ersten Blick mag man das so verstehen – von Boudon interviewte Architekten haben „zu keinem Zeitpunkt (…) den Misserfolg von Pessac in Frage gestellt.“ Dem stellt die Untersuchung Boudons, die in Interviews mit Bewohnern nach deren Motivationen fragt, eine andere Deutung entgegen: Sie wertet es gerade als Erfolg, da „die Leute ihre Wohnungen ja gerade nur deshalb so ,verändern und persönlicher gestalten‘ konnten, wie sie es getan haben, weil die Architektur ihnen die Freiheit dazu gelassen hat.“ Die Qualität der Architektur besteht demnach darin, „dass sie diese Veränderungen ermöglicht hat und – mehr noch – bis zu einem gewissen Grad sogar veranlasst hat.“
Der Umgang mit dem Einfamilienhaus und seine aktuelle Auseinandersetzung müsste sich also mindestens weiter auf zwei Ebenen geführt und vertieft werden. Als eine mit den wirtschaftlichen und politischen Steuerungseffekten und deren Wirkungen auf die Produktion und Konstruktion der Wirklichkeit einerseits. Andererseits – und das ist genauso wichtig – müsste die Möglichkeit zur Veränderung als Teil einer architektonischen Konzeption gerade auch jenseits des Einfamilienhauses verstanden werden. Es gilt, sich jenseits des Einfamilienhauses auf das einzulassen, was sich als Sehnsucht in ihnen abbildet.