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Vom Gebiet zum Quartier


Fragen zur Architektur (21): Einfamilienhausgebiete – bestehende wie neue – sind eine Herausforderung für Stadtplanung und Stadtentwicklung. Die Aufgaben stellen sich in jedem Gebiet in einer anderen Zusammensetzung. Erste Erfahrungen liegen vor, an Forschung, Förderung und Austausch besteht aber noch ein hoher Bedarf. Das Bewusstsein dafür, dass Einfamilienhausgebiete in den Blick genommen werden müssen, wächst. Sorge machen muss aber etwas anderes.
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Fachsenfeld (Aalen), 1984. Im immer weiteren Bau von Einfamilienhausgebieten setzt sich eine Planungshaltung der Nachkriegszeit fort, die die vielen kleinen Orte im Land prägen. Viele der neuen Gebiete von damals sind zu den Problemen von heute geworden – die neuen von heute werden die von morgen sein. Alle Bilder dieses Beitrags: Landesarchiv Baden-Württemberg – Staatsarchiv Sigmaringen, Fotograf: Erich Merkler, CC BY 3.0.

Nehmen wir einmal eine Studie des Instituts für Wohnen und Umwelt aus Darmstadt. Darin prognostizieren die Autoren für Hessen (Ausgangsjahr 2011) bis 2040 einen Bedarf von 44.000 weiteren Einfamilienhäusern. (1) Das ist angesichts der bekannten Zahlen, die zwischen 2001 und 2016 bundesweit einen Anstieg der Einfamilienhäuser von etwa 1,7 Millionen verzeichnen, nicht überraschend (2) – Prognosen formulieren nicht, was wünschenswert sein sollte. Nimmt man den Befund des IWU genauer unter die Lupe, stellt man fest, dass für die Kreise der Metropolregion Frankfurt-Rhein-Main ein Plus von 68.000 vorhergesagt wird –  in den Kreisen Nordhessens geht man hingegen von einem Minus von 24.000 aus. 24.000 Häuser, die man nicht mehr brauchen wird.

Das macht anschaulich: Ähnlich wie durch die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt in den 1990ern steht die Zunft der Planer hier vor einer enormen Herausforderung. Sie heißt einerseits: Schrumpfung und Abriss in Einfamilienhausgebieten, in denen Lücken entstehen werden. Wie lange lohnt es sich, in die Infrastruktur zu investieren, wann müssen Straßenzüge aufgegeben werden, wie reagiert man auf solche Entwicklungen in Fragen der Daseinsvorsorge, des Nahverkehrs, wie organisiert man Kindertageseinrichtungen, Schulen, was bedeutet es für die Nahversorgung, wenn der letzte Laden schließt?

Sie heißt andererseits: das Wachstum zu steuern. Denn allein ein steigender Bedarf ist keine Blaupause für eine gesunde Ortsentwicklung, er kann im Gegenteil heute die Voraussetzungen für die Probleme von morgen legen. Das hat der Gesetzgeber, um es einmal vorsichtig auszudrücken, noch nicht in seiner Dramatik erkannt. Der unglückselige §13b, mit dem die neue Gebietskategorie im BauGB, das „Urbane Gebiet“, so teuer erkauft wurde, sorgt dafür, dass neue Einfamilienhäuser an den Rändern kleinerer Gemeinden entstehen, weil sie nun im beschleunigten Verfahren ausgewiesen werden dürfen. Das wird den Donut-Effekt verstärken, der die Ortskerne veröden lässt. Jegliches Bemühen, Innenentwicklung zu fördern, ist damit wirkungsvoll unterhöhlt. (3)

Ausstellung zum Thema: Kleine Häuser, großes Thema, ab 28. April, architekturgalerie am weißenhof. Eröffnung am 27. April >>>

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Nordhausen bei Heilbronn, 1984

Es geht um den Bestand: 15,7 Mio Einfamilienhäuser

Der Umgang mit dem Bestand ist auch für die Zukunft von Einfamilienhausgebieten eine Schlüsselaufgabe. Es ist keine einfache Aufgabe. Viele Einzeleigentümer, viele Einzelinteressen, illusorische Vorstellungen über Wert und Perspektive des Hauses bei Eigentümern und Erben und viele Emotionen machen das Agieren schwierig. Man steht noch am Anfang – das Feld der Publikationen zum Thema ist noch übersichtlich. Verwiesen wird in ihnen vor allem darauf, dass zum einen das Verständnis für das Problem oft nicht oder noch nur in Ansätzen auszumachen ist – aufzuklären und qualifizierte Information zur Verfügung zu stellen sind daher wichtige Aufgaben, die sich den Kommunen stellen. Da dies oft kleine Kommunen betrifft, benötigen sie Unterstützung, die auf der Ebene der Regierungsbezirke, der Regionalverbände, der Länder oder des Bundes organisiert werden müsste.

Ebenso übereinstimmend lässt sich in der Literatur die Erkenntnis ausmachen, dass eine engagierte Bewohnerschaft die Basis für eine Weiterentwicklung des Bestandes ist – und darauf scheint man noch nicht vorbereitet: „Das gängige Förderinstrumentarium hat bislang weder das bürgerschaftliche Engagement noch den Gebietstyp ‚Einfamilienhaus‘ ausreichend im Blick“, heißt es in der Broschüre „Hausaufgaben“, die von der Landesinitiative StadtBauKultur NRW 2020 herausgegeben wurde (4); das Forschungsprojekt „Einfamilienhäuser 50/60/70 – Stadtentwicklung und Revitalisierung“ der Wüstenrot Stiftung nennt einen hohen Grad an kommunalem Engagement und die intensive Beteiligung als Voraussetzungen für eine gelingende Entwicklung. (5) Dabei müssen die Kommunen aber zu diesem Engagement in der Lage sein und die Mittel haben, die Beteiligung entsprechend zu organisieren – personell, aber auch fachlich und methodisch.

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Lauffen am Neckar, 1985

Auch hier sind Bund und Länder gefragt: Im Austausch und in der Vernetzung von Wissen, in der Organisation von Fortbildung und Forschung sowie mit neuen Förderprogrammen.
Die Fragen, die sich für die Weiterentwicklung von Einfamilienhausgebiebten stellen, liegen auf der Hand: Wie lässt sich der Bestand aufwerten, umbauen, erweitern? Wie das Angebot an Wohnraum diversifizieren, der es erlaubt, dass ältere Menschen aus ihren zu groß gewordenen Häusern ausziehen, ohne das vertraute Umfeld zu verlassen? Wie können in Einfamilienhausgebieten andere Wohnformen als die einer traditionellen Kleinfamilie etabliert werden? Wie lassen sich Unterstützungsnetzwerke jenseits der Kleinfamilie im Einfamilienhausquartier aufbauen und organisieren? Wie lassen sich Begegnungsorte im öffentlichen Raum schaffen? Wie lassen sich Angebote und Finanzierung der sozialer und technischer Infrastruktur aufrechterhalten? Wie lässt sich dort, wo die Nachfrage das erfordert, der Rückzug organisieren? Formelle Instrumente wie Festsetzungen oder B-Plan-Änderungen können genauso richtige Antworten liefern wie es ein installiertes Quartiersmanagement oder Beratungen sein können. Die Fragen machen deutlich, dass sich einfache, generalisierbare Lösungen kaum werden finden lassen, und sie lassen auch erkennen, dass es nicht darum gehen kann, alle Fragen alleine im Bestand zu lösen. Einfamilienhausgebiete müssen verändert werden können, sie müssen durch Neubauten wie durch Ersatzneubauten angepasst werden können. Und sie sind nicht isoliert vom Rest des Ortes zu betrachten. Oder, auf einen Nenner gebracht: Man muss beginnen, auch diese Wohngebiete wie Quartiere zu verstehen.

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Oberriexingen, 1983

Eine erste Bilanz

Soweit so gut. Noch ist die Decke der Erfahrungswerte allerdings dünn, der Austausch noch nicht stabil organisiert, Strukturen und Programme sind auf das Problem noch nicht ausreichend eingestellt. Bedrohlich ist dabei weniger, dass man Politik und Verwaltung nicht zutrauen würde, hier Abhilfe zu schaffen und vielleicht sogar etwas auf den Weg zu bringen, was in der Art des Programms Soziale Stadt eine bundesweit verbindende Klammer zwischen den Herausforderungen der vielen Einfamilienhausgebiete herstellen könnte, auch wenn es derzeit nicht einmal annähernd in Sicht ist (und man es dem zuständigen Bundesministerium unter der aktuellen Führung beim besten Willen nicht zutraut).

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Dürrenzimmern, 1985

Bedrohlich ist vielleicht nicht einmal, dass ein Bekenntnis zum Gebäudebestand sich bislang in der Politik nicht ausreichend ausmachen lässt. Angst muss einem machen, dass das politische Denken noch nicht in der Wirklichkeit angekommen zu sein scheint, in der die Herausforderungen dieser Gebiete verortet sind. Karl Schögel hat in seinem wunderbaren Buch „Im Raume lesen wir die Zeit“ dargestellt, wie wenig der Raum als normative Größe das Denken bestimmt, wie sehr das Primat der zeitlichen Entwicklungen die Wahrnehmung von Entwicklung und Geschichte dominiert. (6) In einer solchen den Raum nachordnenden Haltung liegt begründet, was uns die Einfamilienhausgebiete an Belastungen bescheren. Wachstum war und ist das hervorstechende Paradigma eines Wirtschaftssystems, das über den Staat Interessen und Wirtschaftsstrukturen so organisiert, dass sich über Wohnbauförderung und Verkehrswegebau die Bevölkerung in den Raum verteilt. Die Folge ist bis heute eine mittelständische Suburbanisierung, eine Streuung der städtischen Wohnbevölkerung in die Fläche, die über das Auto, Dreh- und Angelpunkt dieses Wirtschaftsmodells, mit der Konsumgüterindustrie verknüpft wurde und wird: zum Lebensalltag dieses Modells unabdingbar gehören Fernsehen, Waschmaschinen, Rasenmäher, Urlaubsreisen und eben: das Einfamilienhaus. (7) Erstaunlich ist, dass in der Kritik an einem vermeintlich übergriffigen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit stets nur die Großwohnsiedlungen in den Blick genommen werden, die andere Seite aber, das mittelständisch-bürgerliche an Besitz gekoppelte und staatlich forcierte Lebensmodell samt seinen verheerenden Wirkungen von der Kritik ausgeblendet wird – ist es doch das Ergebnis einer extrem wirkungsvollen Steuerung und hat mit einer selbstverständlichen oder quasi-natürlichen Entwicklung nichts, aber auch gar nichts gemein. Man bedenke: In den 1950-1970er Jahren entstanden 37% aller Einfamilienhäuser; 53 Prozent aller Deutschen leben in Einfamilienhäusern. Die Missachtung des Raums – ob bewusst oder als blinder Fleck eines fordistich-keynsianischen Wachstumsmodells, ist dabei vielleicht nicht einmal entscheidend – beschert uns bis heute die Folgen einer ausufernden Mobilität, die unsere Lebensgrundlagen zerstört.

Ein neues Denken ist gefragt


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Bargau (Schwäbisch Gmünd), 1983. Alle Bilder dieses Beitrags: Landesarchiv Baden-Württemberg – Staatsarchiv Sigmaringen, Fotograf: Erich Merkler, CC BY 3.0

Dieses Modell ist freilich nicht nur aus ökologischen Gründen kaum mehr zukunftsfähig, wenn es weiter wie bisher ungebrochen expansiv fortgeschrieben wird. Da die Werterhaltung vieler Einfamilienhäsuer fraglich geworden ist, ist es als ein an den Einzelbesitz geknüpfte Immobilienform von zweifelhafter Belastbarkeit, Teilhabe an Gesellschaft über Eigentum zu definieren, ist zudem potenziell sozial segregativ. Dieses Modell  ist vor allem auch eines der einer kulturellen Hegemonie. Es ist heute nicht mehr zeitgemäß, wenn es nicht gelingt, aus dem Modell für weiße Mittesltandsschichten eines zu entwickeln, das eine integrative Kraft für eine breiter verstandene, zeitgemäße kulturelle Vielfalt entfaltet, die es im Moment nicht oder nur in Ansätzen hat.

Dafür muss man sich aber von einem stadtpolitischen Denken verabschieden, das in einem zeitlichen Expansionsdenken verhaftet ist, das den Raum auf ein Mittel der Konsumaktivierungspolitik reduziert und dessen Überwindung als zentrale Herausforderung versteht. Städte und Ortschaften vor Ort zu stärken, ihre Wohngebiete in ein Gesamtkonzept zu integrieren und sie gleichzeitig als einen Teil eines regional vernetzten kooperativen Systems zu verstehen, hieße das Einfamilienhaus als eine Wohnform unter vielen zu verstehen. Es hieße, einen kulturell, sozial wie ökonomisch beweglicheren Austausch zwischen den einzelnen Netzknoten zu organisieren, der sich von der Scholle und der Idealisierung der Sozialgemeinschaft der Ortschaft löst, die letztlich nur dazu beigetragen hat, die Raumwirksamkeit von laufenden Entwicklungen zu übertünchen. Ein solches Verständnis wächst nicht von heute auf morgen, zumal nicht, wenn man mit einem Heimatministerium wieder einen Schritt auf dem Weg zurück macht. DIe IBA in der Region Stuttgart könnte hier Pionierarbeit leisten. Das Einfamilienhausgebiet war das städtebauliche Mittel, Individualisierung, Glücksversprechen und konsumgetriebene Wirtschaftswachstum zu organisieren. Man wird den in die Jahre gekommen Gebieten genausowenig wie dem neuen Bedarf städtebaulich nicht gerecht, wenn man es weiterhin unter diesen Prämissen sieht.


(1) Martin Vaché und Markus Rodenfels: Der Wohnraumbedarf in Hessen nach ausgewählten Zielgruppen und Wohnformen, im Auftrag des Hessischen Ministeriums für Umweltschutz, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Darmstadt: Institut Wohnen und Umwelt, 2016. Oline: >>>
(2) siehe hier: >>>
(3) siehe Christian Holl: Nach der Diät ist vor der Diät. In db, deutsche bauzeitung 8/2017. Online >>>
Zur aktuellen Entwicklung: Stuttgarter Zeitung vom 9. März: Mehr Bauland in Region Stuttgart. Online >>>
(4) Landesinitiative StadtBausKultur NRW 2020 (Hg.), Yasemin Utku, Stephan Gudewer, Carolin Krüger-Willim, Torsten Bölting: Hausaufgaben. Bürgerschaftliches Engagement in alternden Einfamilienhausgebieten. Gelsenkirchen 2017. Online >>>
(5) Wüstenrot Stiftung (Hg.), Christina Simon-Philipp, Josefine Korbel: Einfamilienhäuser 50/60/70 – Stadtentwicklung und Revitalisierung. Ludwigsburg 2016. Information und Bestellung: >>>
(6) Karl Schögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München/Wien 2003
(7) siehe: Michael Müller: Drei Stadtmodelle. In: ders.: Kultur der Stadt. Essays für eine Politik der Architektur. Bielefeld 2010, S. 55–68
Die nach wie vor gründlichste und umfassende Publikation zum Thema Einfamilienhaus ist m.E.: Tilman Harlander (Hg.): Villa und Eigenheim. Suburbaner Städtebau in Deutschland. Ludwigsburg und Stuttgart München, 2001