Stilkritik (47): Es gibt Gebäude, da sind sich alle einig: Architektur. Anspruch. Bedeutung. Bei einer Kathedrale wird man nicht behaupten, ihr läge kein ästhetisches Programm zugrunde. Meistens bauen Architekten aber keine Kathedralen. Wie soll man das nennen, was sie dann bauen? Man kann es sich wie immer einfach machen. Aber geholfen ist damit niemandem. Oder vielleicht doch?
Das Leben ist hart. Auch für Architekten. Dabei haben sie es besser als andere – so sind sie mit dem Segen der geschützten Berufsbezeichnung ausgestattet, anders als Makler oder Massagetherapeuten. Die einen dürfen die letzten Dachgeschossbuden als Wohnen in Premiumlage und die Dusche in der Küche als Open Living anpreisen, die anderen jeden Muskel unerbärmlich bis zur Verkrampfung kneten, ohne dass ihnen irgendjemand auf die Pelle rücken könnte, um ihnen einen Strich durch die Visitenkarte zu machen. Die geschützte Berufsbezeichung, so die gängige Argumentation, dient dem Verbraucherschutz. Architekten bilden sich stetig fort, sie bauen keine Häuser, die eine Gefahr für Leib und Leben darstellen. Die geschützte Berufsbezeichnung dient deswegen auch dem Schutz der Allgemeinheit. Keiner muss sich davor fürchten, von einstürzenden Neubauten erschlagen zu werden. So weit so gut.
Genies, Vollhonks und der ganze Rest
Und was bringen sie hervor, die Architekten? Architektur natürlich. Könnte man meinen. Aber weit gefehlt. Die Architektur ist im erbarmungslosen Zangengriff der Deutungsmeister. Dass alles Architektur sei, hatte Hans Hollein bekanntlich behauptet und damit all das entwertet, was den Architekten nach einem zermürbenden Kampf im Dschungel aus Bauvorschriften, Vergabeverfahren und Normenhorror, was ihnen trotz engem Budget und sperrigem Bauherrn dann doch noch irgendwie gelungen sein mochte – die selbstgebastelte Hütte im Schrebergarten ist, ätsch, auch Architektur.
Und dann gibt es die andere Seite in diesem Zweifrontenkampf. Die sagt: Nur weil ihr Architekten seid, ist noch lang nicht Architektur, was ihr da produziert. So hatte Gerwin Zohlen vor kurzen dem Bundesverteidigungsministerium abgesprochen, Architektur zu sein und sich auf keinen Geringeren als Ludwig Wittgenstein berufen (siehe hier >>>). Ein anderer, der diesen Unterschied bemüht hatte, war Nikolaus Pevsner. Architektur, das war ihm die Kathedrale, Bauen, also keine Architektur, der Fahradschuppen. Das eine erhebe einen ästhetischen Anspruch, das andere nicht. Und was heißt das? Schauen wir nochmal bei Herrn Zohlen nach. Wir lernen, dass Architektur offensichtlich, wenn sie schon staatstragend ist, auch – Achtung, Gähnalarm – architektonische Gliederungen von Sockel, aufgehendem Baukörper und Dachabschluss aufzuweisen hätte, ein Patio heiter zu sein habe und Tische in einem Bürogebäude nicht so zu sein haben, dass merkwürdige Lücken entstehen, wenn man sie zusammenschiebt. Ohne nun Herr Zohlen näher treten oder den Ministeriumsbau von Auer und Weber verteidigen zu wollen – das hilft uns nicht weiter. Es zeigt uns nur: Man darf offensichtlich Gebäuden absprechen, Architektur zu sein, ohne dass es eine Grundlage gibt, auf der eine Behörde einschreiten könnte, zum Schutze und Wohle wessen auch immer. Kritiker sind sozusagen die Massagetherapeuten der Architekturszene.
Abgesehen von der damit noch nicht beantworteten Frage, was denn dann den Unterschied zwischen dieser ominösen Nicht-Architektur und schlechter Architektur ausmacht – wem ist nun eigentlich geholfen, wenn man zwischen Bauten und Architektur unterscheidet? Dass es auch unter Architekten Genies und Vollhonks gebe, schrieb Gerhard Matzig vor Kurzem. (siehe hier >>>) Und dass das auch für Politiker gelte. Dann, so wird man den Gedanken weiterspinnen dürfen, wird es wohl auch Genies unter Maklern und Vollhonks unter Journalisten geben, was unter anderem daran liegt, dass es sich immer um Menschen handelt, die sich nun mal immer in Genies und Vollhonks unterteilen lassen, wenn man es denn darauf anlegt. Was die Frage provoziert, wer denn die Entscheidung trifft, was das Genie und was den Vollhonk ausmacht. Man könnte sagen, dass die geniale Leistung des Genies nicht im vorhinein bestimmt werden kann, sonst wäre es kein Genie. Dann könnte ein architektonisches Genie also gut auf die architektonische Gliederungen von Sockel, aufgehendem Baukörper und Dachabschluss verzichten – und das Ergebnis ist vielleicht sogar gerade deswegen Architektur.
Wir sehen, dass wir hier schnell an Grenzen stoßen. Wir trösten uns einstweilen damit, dass ein Genie irgendwann erkannt werden wird, wenn möglicherweise auch nicht zu dessen Lebzeiten, was einen entscheidenden Unterschied zum Vollhonk ausmacht, bei dem es umgekehrt ist. Ist der Vollhonk einmal gestorben, wird man etwas gnädiger mit ihm umgehen und ihn vielleicht als irregeleitet oder „stets bemüht“ einstufen. Lassen wir das also. Denn was uns beschäftigen sollte, ist das, was zwischen Genie und Vollhonk liegt und mutmaßlich um die 99 Prozent aller Politiker, Massagetherapeuten und Architekten ausmacht. Bezogen auf die Architektur heißt das – was machen wir mit all den Bauten, die weder Kathedrale noch Schuppen sind, und die vielleicht sogar ein ästhetische Erfahrung vermitteln, ohne dass das jemand gewollt hatte? Oder die heute eine ästhetische Erfahrung vermitteln, es gestern aber nicht getan haben? Wann ist ein Tomatendosenbild Kunst, wann eine Schrebergartenhütte Architektur?
Architektur, Baukunst, oder was?
Man könnte es ja auch einmal anders sehen: Architektur machen zu müssen, ist eine Bürde. Um sich von ihr zu entlasten, darf man sagen, dass man eben gebaut habe, aber deswegen noch lange keine Architektur habe machen wollen: eben nichts, worüber sich die Geschmacksrichter der Feuilletons und Internetmagazine ereifern sollten, müssten oder dürften. Architektur wäre dann im Umkehrschluss das, worüber in den Feuilletons und Internetmagazinen gesprochen werden sollte, müsste, dürfte. Jetzt weiß man natürlich nicht, warum über Häuser nicht geschrieben werden sollte, nur weil der Architekt nicht wollte, dass darüber die Genies und Vollhonks der Feuilletons und Internetmagazine schreiben. Eine überzeugende Antwort darauf fällt mir nicht ein – und damit wäre wieder alles (zumindest potenziell) Architektur: Auch eine Schrebergartenhütte kann es wert sein, dass über sie geschrieben wird. Nun gibt es noch die Schlauberger, die meinen, eine Hilfe aus diesem nicht per Dekret oder Definition zu lösendem Dilemma könnte es sein, von Baukunst zu reden. Das Gerede von Baukunst wäre dann vielleicht eine Art Antidiskrimminierungskampagne, die Architektur wieder um das anreichert, was ihr sonst abgesprochen wird oder abgesprochen werden könnte.
Aber wer diskriminiert hier eigentlich wen? Die Kritiker die Architekten? Diskriminieren die, die sich Architekten nennen, die, die etwas bauen, was in Feuilletons und Internetmagazinen als Architektur durchgeht, und sei es als schlechte? Oder reden nun die von Baukunst, deren Gebäude nicht in Feuilletons und Internetmagazinen als Architektur durchgehen? Ach, seufz. Vielleicht reicht es am Ende doch aus, sich einfach so gut und ernsthaft wie möglich um eine Argumentation zu bemühen, die anderen nachvollziehbar macht, warum man das, worüber man konkret spricht, gute Architektur ist oder eben nicht, anstatt meinen festlegen zu können, was „Architektur“ (als solche!) ist und was nicht, mit anderen Worten: anstatt die Keule der zeitlosen Allgemeingültigkeiten zu schwingen. Das Leben ist ohnehin schon hart, da muss man es nicht noch härter machen, in dem man es in die enge Jacke prinzipieller Wahrheiten steckt. Aber ist das nicht auch so eine zeitlose Allgemeingültigkeit? Stimmt. Also dürfte man ja nicht eimal behaupten, dass das Leben schön ist, weil: zeitlose Allgemeingültigkeit. Dann dürfte man auch nicht sagen, dass das Leben für Architekten schön ist. Ob es das ist, weiß ich nicht, aber ich hoffe es sehr. Wenn das Leben schön ist, ist es das auch für Architekten. Das will ich ihnen nicht missgönnen. Also gut, Herr Zohlen: Sie haben gewonnen.