Palette als Mittel, um subversive Ziele zu verfolgen: „Parklet“ für eine autofreie Stadt in Kansas City: Bild: flickr.com/zflanders
Stilkritik (42) Die Gründe für eine allgegenwärtige Aneignung der Europoolpalette als architektonisches Element im öffentlichen Raum liegen auf der Hand: Sie ist stabil, standardisiert, kostengünstig, mehrwegfähig und vielseitig einsetzbar. Sie ist aber auch ein Zeichen für das Kreative, Unkonventionelle und Widerständige. Mit ihm schmückt sich inzwischen auch der konventionelle Mainstream.
Die Europoolpalette ist allgemein bekannt. Der Ladungsträger aus dem Tauschsystem Europool entspricht den Bestimmungen der European Pallet Association e. V. (EPAL), einem nicht-gewinnorientierten Unternehmensverband zur Förderung der Holzflachpalette, die seit den 1960er Jahren UIC-genormt (*) ist. Ihr derzeitiger Neupreis je Stück TYP EUR 1 beträgt etwa 15 Euro.
Dieses Transportelement der Logistikbranche wird seit den 1990er Jahren vermehrt in Low-budget- und Graswurzelprojekten eingesetzt und avancierte mithin zum Symbol prekärer, urbaner Kreativität. Typische Orte für die Entstehung von Projekten, die sich EPAL-Paletten architektonisch und künstlerisch zunutze machen, sind zeitweise ungenutzte, vernachlässigte, doch öffentlich zugängliche Räume, wie innerstädtische Brachflächen. Diese entstehen etwa, wenn sich marktwirtschaftliche Entscheidungsfindungen hinziehen oder die politische Macht wechselt. Bezeichnend dafür ist der Übergangszustand Berlins nach dem Mauerfall oder das Gefüge von Belgrad und Zagreb nach dem Ende Jugoslawiens. In Berlin, der ewig unfertigen Stadt, „dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein“, wie Karl Scheffler bekanntermaßen schon 1910 berichtete, scheint das besonders sinnfällig.
Subkulturelle Gegenposition
Der Umstand des Temporären wird oft zur zentralen Ausgangsbedingung von „EPAL-Projekten“, woraus sich die spezielle Ästhetik eines provisorischen Urbanismus erklärt. Ihre Initiatoren, meist transdisziplinär arbeitende Architektur- und Kunstkollektive, gestalten und begleiten ihren Entstehungs- und Herstellungsprozess. Sie bevorzugen – der EPAL-Palette entsprechend – leicht zu beschaffendes, einfach zu bearbeitendes und wenig kostenintensives Rohmaterial. Die Reststoffverwertung (Re- und Upcycling) wird gleichsam als Bekenntnis zu einem ökologischen Bewusstsein verstanden. Die raue Ästhetik des europäischen Standardtransportelements stützt dabei den Eindruck, dass es sich um subkulturelle Aktivitäten handelt, die in experimenteller Manier subversive Ziele verfolgen.
Obwohl diese Projekte unter höchst diversen Bedingungen entstehen – abhängig von Kontext, Methode und Format – , spielen Strategien der Partizipation gewöhnlich eine zentrale Rolle sowohl im Gestaltungsprozess als auch nach dessen Abschluss. Die soziale Interaktion rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wodurch sich eine neue Bildsprache in den korrespondierenden Projektdokumentationen ergibt. Der aufgeklärte, engagierte Bürger wird auf szenische Weise zentraler Teil der Gesamtstruktur. Das soziale Programm ist nicht nur Teil der visuellen Identität der Projekte, sondern meist auch deren Raison d’être.
Im internationalen Kunstdiskurs spricht man dabei etwa von Socially engaged practice, Activist art, Community art oder New genre public art. Diese Strategien beschäftigen sich vorwiegend mit relationalen Taktiken, also der Verbindung von menschlichem Handeln und raumbildender Materie. Die Urheberschaft der Künstler*innen hat dabei nur eine katalytische Funktion – eine Gegenposition zum altbewährten Verständnis des Kunstwerks als autonomes, selbstreferenzielles Objekt, präsentiert in White cube Räumen.
Charakteristisch für die das Erscheinungsbild solcher Arbeiten prägenden, ästhetischen Eigenschaften (Maßstab, Konstruktion, Materialität) ist ihre Kleinmaßstäblichkeit und formale Unvollkommenheit einerseits sowie das Reibungspotenzial mit äußeren Widerständen (etwa stadtpolitische Konflikte) und inneren Widersprüchen (zum Beispiel Interessenkonflikte teilnehmender Akteure) andererseits. Manche Projekte erscheinen wie durchlässige Schwellenräume, andere sind von größerer Solidität.
In den vergangenen Jahren hat sich eine solche sozial-engagierte Praxis auch in der internationalen Architekturszene auffällig vermehrt. Im dazugehörigen Architektur- und Städtebaudiskurs wird diese Entwicklung jüngst als Teilphänomen einer breiteren Tendenz, einer sozialen Wende in der Architektur verstanden.
Auf dem Weg zum Imageträger
Man mag dieser Entwicklung eine gewisse Wirkmacht zusprechen, aber dann sollte man sich auch bewusst machen, dass dies alles vor dem Hintergrund städtischer Neoliberalisierungsprozesse stattfindet. Die Verwendung der EPAL-Palette und die aus ihr hergestellten Aufenthaltszonen reflektieren aktuelle gesellschaftliche Entwicklungstendenzen, kurz: Die fortschreitende Dezentralisierung und Partikularisierung von Sozialstrukturen rückt bürgerliches Engagement wieder stärker in den Fokus. Dabei werden beispielsweise Nachbarschaftsinitiativen, unter Einbezug von den oben genannten Kollektiven, zum neuen Credo zeitgenössischer Selbstorganisation.
Die dabei entstehende DIY-Ästhetik wird wiederum von Stadtmarketingstrategen genutzt, um das Image der „kreativen Stadt“ gewinnbringend im Tourismussektor zu etablieren. Ein neuer Biedermeier-Stil im halb-öffentlichen Raum ist entstanden: Unter dem Deckmantel einer sozialromantischen Verklärung machen Cafés, Hotels und andere kommerzielle Anbieter Gebrauch von der scheinbar niedrigschwelligen EPAL-Außenmöblierungen, um ihre ausgemachten Zielgruppen anzuziehen. Das einst Offen-Provisorische beginnt sich zu wandeln. Die EPAL-Palette wird dabei zur Protagonistin in einem neuen Lehrstück vom kapitalistischen Realpragmatismus; sie ist von der sub-kulturellen Basis zur Ware aufgestiegen.