Klimawandel, Energiewende, Demografie oder Populismus – die Herausforderungen von Städten sind immens. Nachhaltigkeit als Leitbild und Antwort scheint sich immer mehr durchzusetzen. Selbst bei der Auswahl von Chemnitz als Europäische Kulturhauptstadt 2025 wurde großen Wert auf eine nachhaltige Entwicklung gelegt. Doch was genau bedeutet das eigentlich?
Karl-Marx-Kopf. Aufmarschstraßen. Plattenbauten. Die rechtsextremistischen Krawalle 2018. Chemnitz hat nicht den besten Ruf. (1) Die Bewertung der sächsischen Großstadt durch Externe ist häufig klischeebetont. Wie bei vielen Städten – nicht nur in Ostdeutschland – lässt sich am Beispiel Chemnitz erklären, wie Zuschreibungen von außen zu einem negativen Standortfaktor werden. Die Folge: Junge, kreative Menschen ziehen da nicht hin – trotz guter Bildungsmöglichkeiten. Oder viel schlimmer: Sie verlassen ihre Heimatstadt. Die meisten wohl für immer.
Rechtzeitige Trendwende
Mitte der 1980er-Jahre lebten etwa 320.000 Menschen in der sächsischen Stadt. Ende 2020 waren es rund ein Drittel weniger, etwa 245.000 Menschen. Das Durchschnittsalter betrug mehr als 45 Jahre – Chemnitz war damit die älteste Kommune Deutschlands. Im „sächsischen Manchester“ vermengen sich der Megatrend demografischer Wandel mit anderen nationalen und internationalen Entwicklungen zu einer ganz bitteren Melange: Zu ihnen gehören die Folgen der Wende, der Strukturwandel und die Tatsache, dass Chemnitz aus europäischer Sicht zwar genau in der Mitte liegt, aber von den nächsten Zentren Leipzig, Dresden oder Berlin aus aber eindeutig Peripherie ist. Es hält noch nicht einmal ein ICE in Chemnitz.
Die Ernennung Chemnitz‘ zur „Europäischen Kulturhauptstadt 2025“ Mitte Januar 2021 kommt daher einem Heilsversprechen gleich. Die Stadt hatte sich unter dem Motto „C the Unseen“ in einem mehrjährigen Verfahren gegen Nürnberg, Hildesheim, Hannover und Nürnberg durchgesetzt. In ihrem Abschlussbericht (2) hob die Jury hervor, dass die Stadt in ihrer Bewerbung einen glaubwürdigen Ansatz präsentiere, um die Herausforderungen vieler Städte exemplarisch anzugehen, der „schweigenden Mitte“ eine Stimme zu geben und das damit verbundene Festivaljahr als Aufbruch zu einer nachhaltigen Kultur- und Stadtentwicklung zu nutzen.
In ihrer Bewerbung (3) betonte die Kommune unter anderem eine „Kultur des Machens“, um der Transformation zu begegnen, die Chemnitz mit vielen anderen ehemaligen Industriestädten in Europa teilt. Dieser DIY-Spirit war in der Stadt in den vergangenen Jahren deutlich zu spüren: Auf dem ehemaligen Prachtboulevard Brühl wurde vor Corona urbanes Lebensgefühl immer deutlicher. Projekte für kollektives Wohnen und Kultur vor Ort verstetigen sich. Rund um die Band Kraftklub (4) ist in den vergangenen Jahren ein Netzwerk entstanden, dem es gelang, den Krawallen 2018 ein Festival mit Musikern wie Casper, Marteria oder Die Toten Hosen gegenüber zu stellen.
Eine Stadt bekennt sich zu ihren Schwächen, stellt sich den Herausforderungen und sucht – mit der Unterstützung von Kultur und Kreativität – Ansätze für eine bessere Zukunft. Dies ist ein beliebtes kommunales Narrativ, das früher wohl Imagepflege, heute jedoch Placemaking genannt wird: Ob Liverpool, Glasgow, Tallinn, San Sebastian oder Marseille – nur um ein paar der vergangenen Kulturhauptstädte zu nennen: Sie alle nutzten die internationale Aufmerksamkeit und die finanzielle Förderung des Kulturhauptstadtstatus, um angesichts der Herausforderungen vor Ort, inszenierte, aber auch wirklich konkrete zu einer nachhaltigen Stadtplanung und -entwicklung aufzubrechen. Ganz so wie es auch offiziell von der Europäischen Kommission gewünscht ist. Phönix aus der Asche – ein Motiv, das europäische Städte angesichts der bewegenden Geschichte des Kontinents mit einem enormen wirtschaftlichen Strukturwandel, Kriegen, Konflikten und Naturkatastrophen immer wieder bemühen. Doch was bedeutet eine konkrete Hinwendung zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung überhaupt?
Von der Forstwirtschaft zum zukunftsorientierten Leitbild
Die genaue Definition und der Ursprung von Nachhaltigkeit sind umstritten. Im deutschsprachigen Raum wurde er zum ersten Mal verbrieft 1713 verwendet: Carl von Carlowitz fasste damals in einem Aufsatz zusammen, welche katastrophalen Konsequenzen Raubbau an der Natur haben können. Durch seine Arbeit in der Montanindustrie im sächsischen Erzgebirge erlebte er den Zusammenbruch eines Systems, das zuvor noch als selbstverständlich wahrgenommen wurde. Um den Hunger nach Holz als Brennstoff, aber auch als Baumaterial für die Minen und Siedlungen zu stillen, hatten die Menschen Kahlschlag betrieben. Der sogar in Chemnitz geborene von Carlowitz schlug als Alternative eine nachhaltende, also nachhaltige Organisation der Holzwirtschaft vor.
Wald ist ein komplexes System: Bis ein Baum seine volle Funktionsfähigkeit erreicht hat, vergehen Jahrzehnte. Gleichzeitig ist er neben Moosen, Pilzen oder Tieren nur ein ökologisches Subjekt mit Ansprüchen oder Stakeholder, wie es neudeutsch heißt. In diesem Mosaik sind es unzählige Faktoren, die über die Entwicklung entscheiden. Eine passende Allegorie für menschliche Siedlungen.
Nachhaltigkeit betrifft jedoch nicht nur die Ökologie. Allgemein gehören auch noch Gesellschaft und Ökonomie dazu. In diesen drei Messdimensionen lässt sich die Nachhaltigkeit eines Prozesses, eines Systems, aber auch die Wirkung von konkreten Objekten, Produkten und Dienstleistungen messen. Sie helfen, sinnvolle Indikatoren zu bestimmen, um so ein zukunftsorientiertes Leitbild zu ermöglichen.
Die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit
In der Ökologie ist das Ziel einfach: die Grundlagen biologischen Lebens auf diesem Planeten zu bewahren, jenes „Raumschiff Erde“, wie es Buckminster Fuller 1968 nannte. Damit Leben gedeiht, braucht es vor allem sauberes Wasser, saubere Luft, Nahrung und ein gutes Immunsystem.
Was passiert, wenn die dafür wichtigen Kreisläufe gestört oder kaputt sind, kennen wir aus Geschichtsbüchern. Wir spüren es aber auch immer deutlicher: Extremwetterphänomene wie Hochwasser, Dürre oder Stürme sind Symptome des Megatrends Klimawandels. Biokrisen wie Bienensterben, Missernten oder Seuchen sind dagegen genauso Disruptionen, wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Meteoriteneinschläge.
Um die Risiken zu minimieren, hat der Mensch über Jahrtausende Anpassungsstrategien entwickelt – das Ziel: Resilienz, also Widerstandsfähigkeit. Deiche, Kanalisationen, Wasserreservoirs, solide Gebäude oder Abfallentsorgungssysteme sind nur ein paar Beispiele, ohne die das Leben in Städten nahezu unmöglich wäre.
Das Ziel sozialer Nachhaltigkeit ist der Frieden. Was mitunter kitschig klingt, ist die Grundlage für Entwicklung, Entfaltung und fairen Austausch zwischen Menschen als Individuen, aber auch als Gruppen. Wissenschaft und Bildung, soziale und medizinische Versorgung, Kultur und Kreativität sind wichtige Handlungsfelder der sozialen Nachhaltigkeit. Anhand von Kriminalität, Armut oder gewalttätigen Auseinandersetzungen lässt sich recht deutlich nachweisen, dass sie nicht erreicht wurde.
Die Messung sozialer Nachhaltigkeit durch Indikatoren ist nur teilweise möglich. Der leicht schwammige Begriff des Gemeinwohls bietet aber entlang bestimmter Indizes eine Orientierung, zum Beispiel durch die Nachhaltigkeitsentwicklungsziele der UN oder anhand der Aspekte Teilhabe und Eigenart, wie sie der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (5) beschrieben hat.
Die ökonomische Nachhaltigkeit lässt sich als vor allem ressourcenorientiert beschreiben: Ob Geld, Holz, Beton oder vor allem Zeit – damit der Mensch Dinge planen, bauen und entwickeln kann, braucht er Rohstoffe, Werkzeuge, Know-how und Arbeitsstunden. Die Ergebnisse wurden lange Zeit nur nach Rendite und (Ausfall-)Risiko bewertet, nicht aber nach den Folgen, dem möglichen Schaden und der Wirkung.
Als Beispiel dienen Gebäude oder Infrastrukturen, die für wenige Stakeholder immense finanzielle Gewinne bringen, durch Emissionen, Kapitalabfluss oder einer fragilen Bausubstanz hingegen der Gemeinschaft schaden: Immobilienspekulation, die Ansiedlung schmutziger Industrien oder die Dominanz fossiler Mobilität sind nur drei Symptome nicht-nachhaltiger Ökonomie.
Nachhaltige Entwicklung bedeutet meist Reparatur
Nachhaltigkeit ist wohl die letzte Utopie einer Balance aus Ökologie, Gesellschaft und Ökonomie und ein konstanter Prozess der Anpassung an die alltägliche VUCA-Lage.(6) Für lebenswerte, funktionierende Städte kann Nachhaltigkeit eine Stromversorgung aus erneuerbaren Energien bedeuten oder effiziente Wasser- und Müllkreisläufe, eine post-fossile Mobilität und Logistik, sichere Quartiere, eine diverse Kultur. Meist bedeutet es erstmal eine Reparatur und Transformation fragiler, obsoleter Systeme. In der Medizin wird so ein Ansatz Salutogenese genannt: die Strategie, Gesundes zu fördern.
Der Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ könnte für Chemnitz ein Salutogenese-Ansatz sein oder eine, wie es im zweiten Bid Book beschrieben wird, Stärkung der „kollektiven Selbstwirksamkeit, die zum Erhalt unserer Gesellschaft essenziell ist.“ Grundlage ist die langfristige Kulturstrategie der Stadt, die bis 2030 „Kultur Raum geben“ will und die als sogenannte Kulturentwicklungsstrategie eine wesentliche Säule im Bewerbungsprozess aller Städte war. Darin enthalten sind wenig greifbare oder messbare Ankündigungen, Netzwerke zwischen der Stadt und ihres Umlandes, aber auch auf europäischer Ebene zu stärken sowie die Förderstruktur zu verändern, um Kulturschaffende und Kreative vor Ort leichter mit Ressourcen zu versorgen.
Konkreter hingegen wird im Bid Book die Entwicklung „losgelöster Orte“ beschrieben, also Orte, an denen Menschen „nicht lange verweilen wollen“, wie Bahnhöfe, Haltestellen, Parks oder die Ufer des namensgebenden Flusses, der Chemnitz. Angsträume sollen transformiert oder überhaupt erst aktiviert werden und so zu Treffpunkten und Orten der Kreativität werden, um die „gesellschaftliche Funktion des öffentlichen Raums wieder zu gewinnen“. Ein spannender Punkt ist dabei beispielsweise die Entwicklung der typischen Garagenhöfe, die Plattenbauquartiere flankieren. Mit einem Augenzwinkern wird hier die Silicon-Valley-Legende des Gründungsmythos Garagen-Unternehmung aufgegriffen. Auch die Plattenbauten selbst sollen durch ein Residenzprogramm ihr oftmals unbegründetes, negatives Image verlieren.
Über das Veranstaltungsjahr 2025 hinaus sollen Orte nachhaltig aufgewertet und Menschen in Chemnitz gehalten werden. Sie sollen dafür sorgen, dass diese Orte belebt werden, aber auch schlicht als Bewohnende in der Stadt bleiben. Im Bid Book wird daher überwiegend ein Fokus auf die gesellschaftliche Nachhaltigkeit gelegt: Kultur und Kreativität werden zu Mitteln und Werkzeugen, um die Zivilgesellschaft zu stärken, die Lebensqualität auszubauen und damit ganz klassisch die Standortfaktoren der Kommune zu erhöhen. Die ökologische Nachhaltigkeit soll, unterstützt durch den Green New Deal der EU, vor allem über eine Modernisierung der Infrastruktur gewährleistet werden. Auch eine Verbindung zwischen Bergbau und der Ur-Idee von Nachhaltigkeit durch von Carlowitz wird Rechnung getragen.
Reicht das?
Auch wenn ein Bid Book kein Strategieprogramm für die ökologische Resilienz einer Kommune ist – all dies, womit der Anspruch der Nachhaltigkeit eingelöst werden soll, wirkt noch zu unvollständig und bruchstückhaft, als dass man sich damit zufrieden geben könnte. So stellt sich die Frage, welche Rolle die ökonomische Nachhaltigkeit bei der Strategie spielen soll. Ein Blick in andere, ehemalige Europäische Kulturhauptstädte zeigt leider häufig, welche Verpflichtungen sich die Kommunen durch die Ausrichtung eingehen. Manch einer spricht in dem Kontext von einem „Weißen Elefanten“: Diese sind zwar besonders schön und wertvoll, benötigen jedoch immense Ressourcen, weshalb sie häufig zum Niedergang ihrer Eigentümer geführt haben. Man muss das ernst nehmen – zu viele Beispiele stehen für die gescheiterten Versuche, die Entwicklung einer Kommune oder Region durch Kulturbauten oder Events nach vorne zu bringen, siehe Space Center in Bremen (7), die Affäre um den Nürburgring (8) oder die Ausrichtung der Kulturhauptstadt in Weimar 1999.(9)
Angesichts der Herausforderungen wünscht man der Stadt Chemnitz, dass sich Zweifel als unbegründet erweisen und ihr Anspruch aus der Bewerbung und ihre Strategie aufgeht. Dass die Stadt mit der Hilfe von Kultur und Kreativität und einer Bevölkerung, die von der Aufmerksamkeit und den Subventionen profitiert, zu einem europäischen Symbol der Nachhaltigkeit wird: Auf breiten Aufmarschstraßen gibt es genug Platz für Fahrradstreifen und Schienen. Die Dächer von Plattenbauten sind ideal für Solarpaneele. Eine offene Zivilgesellschaft, Bildung, Kultur, Medizin und Sozialwesen schützen vor Populismus und Aggression. Nur der Karl-Marx-Kopf – der müsste wohl bleiben, wie er ist.