Mit der neuen Ausstellung im Architekturmuseum der TU München werden Methoden der Aufarbeitung von Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen vorgestellt. Dabei werden auf unkonventionelle Weise unterschiedlichste Quellen kombiniert. Ziel, so heißt es, sei „eine sachliche, transparente, wertfreie und möglichst unabhängige Sichtbarmachung und Darstellung von Fakten und Zusammenhängen“. Verdienstvoll sind die vorgestellten Arbeiten allemal. Ob das Ziel aber nicht eigentlich ein anderes ist?
Anfang Oktober hatte Eyal Weizman in einem Interview mit der Zeit dargestellt, wie wenig die Arbeit von Forensic Architecture mit den Maßstäben der Neutralität zu erfassen und zu verstehen ist. Forensic Architecture und der dazugehörende Ableger Forensis sind die vielleicht bekanntesten Rechercheteams, die sich dem widmen, was Thema einer Ausstellung des Architekturmuseums der TU München ist. Die Verknüpfung von unterschiedlichen Quellen aus Internetforen, Filmen, Aufzeichnen und Bildern, um offizielle Darstellungen von Verbrechen oder deren Leugnung zu hinterfragen und möglicherweise zu widerlegen: „Visual Investigations.“ In der Einleitung zur Ausstellung heißt es, dass das Ziel stets bleibe, „Fakten und Zusammenhänge sachlich, transparent, objektiv und möglichst unabhängig darzustellen.“ Sieben Fälle aus fünf Kontinenten werden ausführlich dargestellt. Das Anliegen entspricht dabei wohl dem, was Weizman im oben genannten Interview aufgeführt hatte: „Die Menschenrechtsarbeit neu zu formatieren, damit sie zu den politischen Herausforderungen unserer Zeit passt, auch zur Welt des Internets und der sozialen Medien.“
Parteinahme
Gezeigt werden beispielsweise in ausführlichem Film und Textmaterial, wie man in Mexiko in den 1970ern Oppositionelle verschwinden ließ. SITU Research, das Centro Prodh und Alicia des los Ríos Merino konnten mit Bildmaterial und Unterstützung der Social-Media Community ermitteln, welche Flugzeuge mit welcher Reichweite dazu verwendet wurden, die Leichen der gefolterten und ermordeten Menschen über dem Meer abzuwerfen, so weit vom Land entfernt, dass sie nicht mehr auftauchen würden. Diese Vorgänge waren Teil eines umfangreichen und durchorganisierten Programms; bis heute ist unbekannt, wer genau die Opfer waren. Grundlage der Recherche sind dabei auch Materialien, die im Rahmen einer militärinternen Untersuchung freigegeben wurden, außerdem Filmmaterial aus Hollywood, das bei der Rekonstruktion des Militärflugplatzes geholfen hat, von dem aus die Flüge starteten. Der Film ist ein Instrument, das auch dazu dient, zu fordern, dass weitere geheim gehaltene Materialien zugänglich gemacht werden sollten.
In einer anderen Arbeit wird etwa das Bild der isolierten Inseln im pazifischen Ozean in Frage gestellt, dem das eines über das Wasser verbundenen Netzwerks gegenüber gestellt wird, das reiche kulturelle Beziehungen zwischen den Inseln bis heute prägt. Dieses Bild der zu einer Gemeinschaft verbundenen Inseln stärkt die vom Klimawandel besonders betroffenen Menschen und widerlegt die Vorstellung der isolierten und dadurch auch vermeintlich rückständigen Völker, die mit zur Rechtfertigung kolonialer Machtausübung diente. Auch das, was tatsächlich bei der Zerstörung des Theaters von Mariupol in der Ukraine geschah, wird rekonstruiert. Nach der Eroberung von Mariupol durch die russischen Streitkräfte hatten hier um die 1200 Menschen Schutz gesucht; am 16. März 2022 wurde des Theater bombardiert, bis heute weiß man nicht, wieviele Menschen dabei den Tod fanden – eine Arbeit vom Center for Spatial Technologies und Forensic Architecture/Forensis.
Andere Arbeiten befassen sich mit dem Tod eines kolumbianischen Journalisten, der die Proteste Indigener filmte und dabei erschossen wurde. Bis heute ist niemand dafür zur Rechenschaft gezogen worden. Klanganalysen, die mehrere Kameraaufnahmen und deren Tonaufnahmen synchronisieren und daraus die Herkunft von Schüssen rekonstruierten, zeigen, dass offizielle Darstellungen zu bezweifeln sind und belegen etwa, dass die Soldat:innen das Feuer auf die Zivilsten aus nächster Nähe eröffnet hatten. Mit Hilfe von Wärmeanalysen älterer Weltraumbilder wird gezeigt, dass schon bald nach dem 6-Tage-Krieg mit der Etablierung israelischer Siedlungen auf palästinensischem Gebiet begonnen wurde; der Wechsel vom Anbau von Oliven zu dem von Wein lässt sich mit diesen Analysen belegen. Damit verbunden sind Enteignungen, Einschüchterungen, Schikanen und Diskriminierungen. Die Repressionen des chinesischen Regimes unter anderem gegen Uiguren und anderer insbesondere muslimischer Volksgruppen, deren Angehörige teilweise jahrelang unter dem Vorwand des Extremismus jahrelang inhaftiert wurden, weil sie ihre religiöse Überzeugung äußerten, werden sichtbar gemacht. Andere Teams deckten illegales Vorgehen der Polizei und falsche Darstellungen von New Yorks Bürgermeiste Bill de Blasio bei Protesten in New Yourk Anfang der 2020er Jahre auf. In einem fortlaufenden Fries werden Entwicklungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts dargestellt, die der Untersuchung und Aufklärung von Verbrechen ebenso wie sie als Instrument der Überwachung und Disziplinierung dienen.
Wertediskurse
Zu sehen ist in München eine intensive Ausstellung, die in aufwendigen Darstellungen zeigt, wie komplex es ist, Geschehnisse zu rekonstruieren und wie dabei eine Vielzahl von verschiedensten Quellen und Methoden genutzt werden kann. Einerseits mag die Ausstellung einem Gefühl von Gerechtigkeit und Aufklärung dienen, das suggeriert, Unrecht könne nicht verborgen bleiben. Sicherheit verschafft dies freilich nicht, allein schon wegen der asymmetrischen Verteilung der Mittel. Deswegen geht es vielleicht in den Arbeiten auch noch um etwas anderes. Das akribische und fantasievolle Engagement transportiert auch ästhetisch eine eigene Form des Verständnisses im Verhältnis von Obrigkeit zu Bevölkerung und thematisiert darin, wie der Zugang zu Rechten geregelt wird und staatliche Identitäten konstruiert werden.
So wie die Figur des Privatdetektivs eine erweiterte Wahrnehmung gesellschaftlicher Zustände im späten 19. und 20. Jahrhundert erlaubte darzustellen und den Verdacht auf jedes noch so unscheinbar wirkendes Detail lenkte, agieren die hier vorgestellten Teams im 21. Jahrhundert als Korrektive öffentlicher Darstellung und bereiten einer Erweiterung forensischer Methoden das Feld. Die Frage nach der Objektivität und Neutralität, mit dem die Kuratorinnen die Ausstellung framen, stellt die Arbeit der vier mit ihren Methoden präsentierten Rechercheteams möglicherweise unter einen zu reduzierenden Aspekt, den der Korrektur falsch und absichtsvoll verschleiert vermittelten Realität. Das ist nicht falsch, aber die Mittel der Initiativen sind stets begrenzt und können sich nur auf einen kleinen Ausschnitt einer Wirklichkeit konzentrieren, sie sind also auch darauf angewiesen, eine Öffentlichkeit zu sensibilisieren und von einem Rechtsverständnis und einer Gerichtsbarkeit unterstützt zu werden, denen die Aufklärung am Herzen liegt. Mehr noch: diese Gruppen sind wichtig für einen Diskurs, der ein Selbstverständnis von staatlicher Souveränität und einem damit verbundenen Verweigerung der Zugänglichkeit von Rechten zur Diskussion stellt, der Alltagsrealität ist und etwa tief in die Frage hineinreicht, wie wir mit Geflüchteten umgehen. Anderes ausgedrückt: Es geht nicht um wertfreie Darstellung, wie es angekündigt wurde, sondern darum, wie Werte sich in der Gewährung von Rechten niederschlagen. Ohne einen daran geknüpften Diskurs werden Arbeiten wie die in München zu sehenden stets nur Misstrauen in offizielle Darstellung säende Akkupunkturen bleiben. Das ist nicht unbedingt wenig, aber eine andere Darstellung der heroischen Unabhängigen hätte ihnen eine andere Rolle zugewiesen, die ihre Arbeit möglicherweise noch wertvoller, vor allem aber wirkungsvoller machen könnte.