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Architektur, was sonst?

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2013-2014, Majdan-Proteste, Kiew, Ukraine. Die Besetzer:innen errichteten Barrikaden aus Paletten, Sperrmüll, Autoreifen und Eis, um das Protestcamp auf dem Majdan vor Angriffen der Polizei zu schützen. (Bild: Oleksandr Burlaka, 11. Dezember 2013, CC BY-NC 2.0)

In einer wichtigen Ausstellung geht das Deutsche Architekturmuseum dem Zusammenspiel von Protest und Architektur nach. Dabei wird der Architekturbegriff so weit gefasst, dass auch die Aktionen der Letzten Generation aufgenommen werden können. Gut so. Mit einem solch weitgefassten Verständnis von Architektur lässt sich besser erkennen, was sie leisten kann.

In einem Beitrag vom 13. September der FAZ nimmt sich Claudius Seidl die zur Brust, die Ressentiments schüren. Ressentiments gegen die „da oben“. Ressentiments der angeblich schweigenden angeblichen Mehrheit. Aiwanger will sich mit ihnen die Demokratie zurückholen, Merz schließt Kreuzberg aus Deutschland aus und die Poschardts dieser Welt werfen anderen vor, im Elfenbeinturm zu sitzen. Seidl hält dagegen: „Wer da spricht, sind nicht die Normalbürger, es sind Minister, Parlamentarier, einflussreiche Journalisten“. Sie geben vor, ein Problem zu beschreiben, das sie erst schaffen, um es instrumentalisieren zu können. Sie suggerieren Verschwörungen, Verbote, Einfluss, wo sie nicht zu finden sind – um Gründe zu haben, den Status Quo zu verteidigen und sich dabei noch als Befreiungskämpfer inszenieren zu dürfen. Um „abzulehnen, was zu tun ist.“ (1)

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2017–2018, MTST-Protestcamp „Povo Sem Medo“, São Paulo, Brasilien. Mit 33 000 Beteiligten und über 12 000 Hütten war das Protestcamp „Povo Sem Medo“ nicht nur die bekannteste Besetzung der Movimento dos Trabalhadores Sem Teto („Bewegung der Arbeiter*innen ohne Dach“), kurz MTST, sondern auch eine der größten in Lateinamerika. (Bild: Mídia Ninja, 1. Oktober 2017, CC BY-NC-SA 2.0)

Die gerade eröffnete Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum könnte besser nicht terminiert worden sein. Sie widmet sich dem Protest und der Architektur. Und fasst damit das Feld der Architektur sehr weit, stellt all die Formen des Protestes in den Mittelpunkt, die sich räumlich artikulieren. Das sind fast alle. Die Barrikaden des 19. Jahrhunderts wie die Camps von Gorleben und New York, die Besetzungen von Frankfurt und São Paulo, die Baumdörfer vom Hambacher Forst, die Demonstrationen der Mütter von Verschleppten und Ermordeten in Istanbul und Buenos Aires. Die Ausstellung analysiert die Bauformen, die Abläufe, die Mittel des sich räumlich artikulierenden Protestes. Und auch wenn die Gelbwesten, der Sturm auf das Kapitol, Proteste gegen die linke Regierung in Mexico-City mit ins Tableau aufgenommen sind, so stehen kaum übersehbar die Proteste für Menschenrechte, Klimaschutz, Mitbestimmung oder die Einhaltung von Versprechen im Vordergrund. Gezeigt werden die Bauern in Indien, die für die Mindestrpeise für Getreide kämpften, Benachteiligte, überwiegende Schwarze in den USA, die gegen Armut protestierten, die Menschen von Kairo, die sich auf dem Tahirplatzes gegen das Unterdrückungsregie Mubaraks wandten.


Aneignungen, Blockaden, Ikonen


http://hdl.loc.gov/loc.pnp/ppmsca.53537

1968, Resurrection City, Washington, DC, USA. Unterschiedlich gestaltete A-Frame-Häuser. Diese wurden vom vierköpfigen Bauausschuss entworfen und in den ersten Wochen der Proteste von Freiwilligen und Bewohner*innen des Camps errichtet. (Foto: Marion S. Trikosko, 21. Mai 1968, U.S. News & World Report magazine photograph collection, Library of Congress; Public domain)

Dabei werden Gebäude besetzt, Symbolbauten erobert. Oft dient die Architektur im Rahmen des Protestes aber ganz grundlegend als Wetterschutz, Versammlungsort, Organisationsstruktur. Damit ist ein nicht unerheblicher logistischer Aufwand verbunden. Toiletten müssen bereitgestellt werden, Orientierung muss möglich sein. Manchmal muss es sehr schnell gehen, dann reichen fürs erste drei Stangen und eine Plane, mit denen sich jede:r ein Zelt bauen kann, bevor die etwas stabilere Konstruktion errichtet werden kann. Material muss verfügbar sein, darf nicht viel kosten. Architekt:innen und Bauexpert:innen sind deswegen auch regelmäßig beteiligt, in einem Fall, der Ressurrection City von Washington, DC, ist die Architektur im Vorfeld von vier Architekten entworfen und das Camp aus vorfabrizierten Elementen errichtet worden.

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2019–2020, Hongkong Raumgreifende Barrikaden aus Ziegeln und Bambusstangen. (Bild: Studio Incendo, 13. November 2019; CC BY 2.0)

Sehr oft geht es bei den Protesten darum, den Zugriff durch die Polizei oder das Militär zu erschweren, hinauszuzögern oder gar zu verhindern. Deswegen werden beispielsweise Baumhäuser errichtet. Und gibt es keine Bäume, werden andere Hilfsmittel eingesetzt. Die Häuser von Lützerath sind so hoch, dass Sondereinheiten der Polizei eingesetzt werden müssen. So genannte Krähenfüße auf den Straßen sollen die Reifen der Einsatzwagen platzen lassen. Monopods sind so konstruiert, dass der Eingriff der Polizei leicht das Leben der Protestierenden in Gefahr bringen kann und deswegen länger dauert.

Und schließlich geht es im Protest auch darum, mit Bildern mediale Wucht zu entfalten. Damit kann die Wirkung des Protestes, der Druck erhöht werden, kann internationale Aufmerksamkeit geweckt werden. Die Bilder dienen der Selbstvergewisserung, sie tragen dazu bei, dass sich die Protestierenden als Gemeinschaft erleben. Es entstehen Ikonen. Dieser Rolle der Architektur seien sich die Protestierenden immer mehr bewusst, so Oliver Elser, der kuratorische Leiter der Ausstellung, gezielt würden Erkennungszeichen und Zeichen produziert – auch wenn die mediale Bedeutung auch früher eine große Rolle gespielt habe. Barrikaden etwa seien lange schon mehr Symbolbilder des Protestes als wirkungsvolles Instrument. Mit der symbolhaften Wirkung und der ästhetischen Qualität setzt auch ein, dass so manches Plakat nach dem Ende des Protestes wie ein Kunstwerk gehandelt wird und in einen ökonomisch-kulturellen Kontext eingespeist wird. Der mag wiederum rückwirkend legitimierend wirken, dabei wird allerdings auch das Objekt gegenüber dem sozialen, politischen, gesellschaftlichen Anliegen überbewertet.

2020–2021, Farmers-Proteste, Delhi, Indien. Umgebaute Traktoranhänger mit Bannern und Dekoration an der Singhu border. Wo sonst reger Verkehr herrschte, befand sich während der Farmers-Proteste in Delhi eine bis zu zehn Kilometer lange, dichte Siedlung aus Zelten, Hütten und in Traktoren. (Bild: Satdeep Gill, 15. Februar 2021, CC BY-SA 4.0)
2019–2020, Hongkong Aktivist*innen mit Masken, Helmen, selbstgebauten Schilden und Regenschirmen, um sich vor den Tränengas- und Wasserwerfereinsätzen der Polizei zu schützen. Im Gegensatz zu den ortsbezogenen Strategien von 2014 waren die Proteste von 2019–2020 von „fluiden“ Taktiken geprägt, die unter dem Motto „Be Water“ standen. Foto: Studio Incendo, 1. Juli 2019 (CC BY 4.0)


Den Blick öffnen


Die Ausstellung – das DAM konnte seine Räume am Interimsstandort für diese Ausstellung um 1000 Quadratmeter erweitern – stellt all diese Themen sehr umfassend und anschaulich dar. Eine chronologische Reihe beschreibt wichtige Stationen – von den Pariser Barrikaden von 1830 bis zum Protest im Fechenheimer Forst von 2021. Thematische Inseln zeigen Instrumente des Protestes, etwa die bereits erwähnten Krähenfüße, ein als Helmersatz verwendetes Küchensieb, gelbe Westen, die Uniform eines einsatzleitenden Polizisten von Anfang der 1980er und ihr Pendant von heute. Prinzipien der gezeigten Architektur und der räumlichen Organisation werden erläutert; 13 Fallstudien gehen ausführlicher auf einzelne Proteste, deren Ziele, Intentionen, Verläufe, Kontexte ein. Dazu gehören die Hongkong-Proteste 2014 und 2019, Occupy Wallstreet, die Startbahn West, der Tahrir-Platz, die Resurrection City, der Majdan, Gorleben, Lobau, ein gefährdetes Auegebiet an der Donau, das sich von Wien bis zur Slowakei erstreckt.

Studierende der TU München der HfT Stuttgart haben unter der Leitung von Andreas Kretzer Modelle zu diesen Case Studies erstellt, die in ihrer Realitätstreue hohe Anschaulichkeit bieten. Die ist ohnehin zentral für die Ausstellung: Die gezeigten Fotos sind von hoher dokumentarischer Qualität, die Texte gut lesbar; ein aus Dokumentationen zusammengestellter Film von Oliver Hardt ordnet die Bewegungen nach den verschiedenen Stadien während des Protestes. Beindruckend gleich der erste Raum: Wenige Zentimeter über dem Boden schwebt eine Hängebrücke, die im Hambacher Wald drei Baumhäuser in luftiger Höhe miteinander verbunden hatte; ein berückendes Modell der Hambacher Baumhaussiedlung im Maßstab 1:10 macht die eigene Schönheit dieser filigranen Architektur sichtbar.

Ist das Architektur? Die Frage, auf die beim Presserundgang ebenso wie in der Ausstellung selbst eingegangen wird, ist schon in diesem ersten Raum beantwortet: Das ist Architektur, was denn sonst? Die Rechtfertigung, die das Kurator:innen für die Ausstellung meint geben zu müssen, zeigt möglicherweise, wie eng das Verständnis des Publikums von Architektur befürchtet wird; wie sehr befürchtet wird, dass dieses Verständnis von einer materiellen Qualität des Beständigen abhängig ist, wie sehr befürchtet wird, dass Architektur als Objekt gesehen wird, dessen autonome Qualität vom gesellschaftlichen Kontext unabhängig ist.


Unpolitisch geht nicht


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Oben: 2011, Tahrir-Platz, Kairo. Textiles Zeltdach zum Schutz gegen die Julihitze (Bild: Ahmed Abd El-Fatah, 15. Juli 2011. CC BY-NC-SA 2.0)

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2011, Occupy Wall Street, New York. Protestierende im verschneiten Zuccotti Park, einem Platz im Financial District von Manhattan. Durch einen Wetterumschwung entwickelte sich das Camp von einer radikal offenen Struktur unter freiem Himmel zu einer dichten Stadt mit Privatzelten. (Bild: David Shankbone, 29. Oktober 2011. CC BY 2.0)

Es könnte aber einen anderen Grund für die Rechtfertigung geben – nämlich die, dass die Rechtfertigung gar keine ist. Sondern dass sie den Verdacht zerstreuen soll, man wolle möglicherweise das Anliegen teilen, das einer oder mehrere der Proteste artikulieren. Indem betont wird, dass das Gezeigte Architektur ist, wird gleichzeitig dementiert, dass eine politische Position bezogen wird. Und so wird die Architektur des Protestes als Vorläufer und Experiment für andere Architektur interpretiert: die leichten Überdachungen aus Seilen und Planen erinnerten an das Münchener Olympiastadion, die Kletternetze der Claremont Road in London „scheinen Vorläufer der Kunstinstallationen Tomás Saracenos zu sein“, so auf einem der Wandtexte.

Aber wer das Politische der Architektur zeigt, ergreift noch nicht Partei. Dieses Politische wird erst sichtbar, wenn man nicht die konkrete Botschaft zum Thema macht. Die Häuser sind politisch, weil sie in das Geflechts aus materiellen und immateriellen Beziehungen und Verknüpfung eingewoben sind, das den Protest konstituiert. Und deswegen kann die Ausstellung helfen, Architektur auch jenseits des Protestes als Medium unter Medien zu verstehen, wie es in einer aktuellen Veröffentlichung heißt: ein Medium, „das Zugänge, Anschlüsse und Abschirmungen organisiert – und Wissen, Subjektivität und soziales Verhalten ebenso verändert wie Klima und Umwelt.“(2)

In der Ausstellung heißt es: „Wer sich mit Sekundenkleber auf einer Straße fixiert, errichtet zwar kein Bauwerk, aber für kurze Zeit entsteht eine Art menschlicher Barrikade.“ Und genau diese Protestform wird ja kriminalisiert, gegen sie wird mit harten Strafen, mit Vorbeugehaft vorgegangen. Merz, Aiwanger und Konsorten geht es darum, Proteste wie diese, wie die von Lützerath oder dem Hambacher Forst zu delegitimieren wollen, ihnen die Basis zu entziehen. Die Verschiebungen, die damit einhergehen, sind kalkuliert: Industrie- und kapitalfreundliche Politik wird so verschleiert, der Aufschub von notwendigen Transformationen zum Widerstand verklärt. Um so wichtiger ist deswegen diese Ausstellung, die gerade im Rückblick zeigt, wie wichtig Proteste sind, dass Proteste ohne Architektur und Architektur ohne den Kontext des Politischen nur unzureichend beschrieben sind. Und dass Protest und Architektur in ihrem Zusammenwirken unentbehrlich für die Kultur der Aushandlungskultur und der Teilhabe in einer Gesellschaft sind, gerade weil sie die Grenzen dieser Kultur ausloten.


Protest/Architektur – Barrikaden, Camps, Sekundenkleber. Ausstellung im DAM im Ostend. Bis zum 14. Januar 2024. In Kooperation mit dem MAK Wien, das die Ausstellung im Anschluss zeigt.
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Der empfehlenswerte Katalog »Protestarchitektur – Barrikaden, Camps, raumgreifende Taktiken 1830–2023«, aufgebaut wie ein Lexikon, ist im Verlag Park Books erschienen und kostet 19 Euro
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(1) Claudius Seidl: Anstiftung zum Bürgerkrieg, FAZ vom 13. September >>>
(2) Moritz Gleich, Christa Kamleithner (Hg:): Medium unter Medien. Architektur und die Produktion moderner Raumverhältnisse. Basel 2023, Klappentext.