In Mannheim ist eine Ausstellung zu sehen, die Schieflagen und Spaltung der Stadt auf engstem Raum inszeniert. Mit seinem neuen Projekt übt das Kollektiv Rimini Protokoll scharfe Kritik am neoliberalen Stadt-Alltag.
Der Titel der Ausstellung »Urban Nature«, so viel sei vorweg geschickt, führt leicht in die Irre. Es geht hier nicht um Natur in der Stadt, um Frei- und Grünräume oder um die Frage, wie sich die Stadt auf den Klimawandel einstellen muss; es geht auch nicht um die Fragen des Zusammenlebens von Menschen, Tieren und Pflanzen in der Stadt.
Was man im Mannheimer Kunstmuseum in einer komplex in einander verwobenen Choreografie geboten bekommt, sind Geschichten von Menschen einer Stadt, deren Biografien sich extrem voneinander unterscheiden. Die Ausstellung ist eine Produktion des Kollektivs Rimini Protokoll, das sich einen Namen damit gemacht hat, brennende Themen mit Mitteln des Theaters zu behandeln, dabei aber für das Theater untypische Orte zu wählen, das Publikum miteinzubeziehen und nicht-professionelle Darsteller:innen aus ihrer Lebenswirklichkeit berichten zu lassen.
Bei »Urban Nature« begegnet das Publikum ebenfalls solchen Wirklichkeiten, sieben individuellen Biografien, etwa einem Gefängniswärter mit einem Nebenjob als Bestatter, einer Grafikerin, die, von ihrem Berufsalltag desillusioniert, in die illegale Canabis-Produktion eingestiegen ist, um mehr Zeit für ihr Kind zu haben. Ein Wissenschaftler verwirklicht in seinem Leben das Ideal des Teilens, um verantwortungsvoll mit Raum und Ressourcen umgehen zu können, eine Fondsmanagerin mehrt das Geld der ganz Reichen und will auch in der Freizeit immer gewinnen; eine aus Marokko Geflüchtete träumt davon, als Flugbegleiterin arbeiten zu können. Hinter all diesen Geschichten stehen, so Dominic Huber von Rimini Protokoll im Interview, echte Personen, konkrete und reale Geschichten.
Exemplarische Individuen
Die Personen treten in einer jeweils für sie typischen Umgebung auf, in der Werkstatt eines Gefängnisses, im Büro in einem der obersten Geschosse eines Hochhauses, an einem Brunnen in einem dichten Stadtviertel, in einer Obdachlosenunterkunft. Auch wenn Barcelona die Stadt ist, in der wir uns befinden (dort war die Ausstellung zuerst zu sehen), sind die Szenen so anonymisiert, dass sie sich auch gut in anderen Städten finden ließen: Hier geht es um das Exemplarische der Individuen.
Der Clou der Inszenierung ist, dass die Besuchenden die Rollen spielen, die die Dramaturgie vorgezeichnet hat: Sie sind entweder Klient:innen, Gefängnisinsassen, Obdachlose, Tourist:innen oder sie schlüpfen in die Rolle einer der sieben Protagonist:innen; sie fragen ab, wie hoch die Risikobereitschaft für ein Investment ist, scannen die Gefängnisinsassen, tragen die Tasche mit den ganzen Habseligkeiten als Geflüchtete. Sie doppeln dabei die jeweilige Rolle, die parallel dazu auf Bildschirmen eingespielt wird.
Das Konzept involviert die Besuchenden der Ausstellung damit auf eine recht direkte Weise, konfrontiert sie miteinander, bringt sie in Situationen, die ihnen normalerweise fremd sind, etwa die, als Obdachloser schnell wieder einen Ort verlassen zu müssen, der zum Schlafen hätte geeignet sein können. Das regt zur Auseinandersetzung mit den verschiedenen Menschen einer Stadt an, anstatt deren Alltag nur passiv zu rezipieren. Manchmal kreuzen sich die Wege der Protagonist:innen auch, aber eigentlich sind sie in ihrer Welt eingeschlossen, abgekapselt, ein echtes Zusammenleben findet nicht statt und beschränkt sich höchstens darauf, einmal die gleiche Bank einer Haltestelle zu benutzen.
Das Konzept der bewundernswert präzise aufeinander abgestimmten Choreografien, mit denen die Besuchenden in ihren unterschiedlichen Rollen auf den Parcours geschickt werden, funktioniert leider nur, wenn sich je Slot von etwa 70 Minuten genügend Teilnehmende eingefunden haben; bei meinem Besuch musste Museumspersonal einspringen. Auch ist die Zeit sehr knapp bemessen – für jedes Szene sind es nur wenige Minuten –, so dass es schwerfällt, sich in eine Situation einzufinden, die Konfrontation in den Rollen wirklich zu spüren.
Wer macht die Regeln?
Die Biografien der einzelnen Protagonist:innen werden auch benutzt, Wissen über die Stadt zu vermitteln. Etwa, dass der Wasserverbrauch je Person in der Vorstadt, in Suburbia bedeutend höher ist als in der Innenstadt. Dass die meisten Smart-City-Technologien vor allem Investment und Geschäftsmodell sind. Über welche Lücke in den gesetzlichen Regelungen sich mit Marihuana Geld verdienen lässt.
Die Inszenierung übt eine recht deutliche (und in ihrer Zuspitzung etwas holzschnittartige) Kritik an der neoliberalen Stadt, daran, wie sie Ausschluss und Elend produziert, daran, dass sie Ausbeutung auf der Basis von Werten wie der ständigen Verfügbarkeit von Annehmlichkeiten produziert. Rimini Protokoll verlagert die Gründe für diese Schieflage einerseits in die einzelnen Menschen, ihre Gier, ihre Gedankenlosigkeit, macht aber andererseits auch systemische Bezüge sichtbar. Die Produkte, die in der Gefängniswerkstatt hergestellt werden, werden nicht als solche gekennzeichnet, um deren Verkauf nicht zu gefährden, in ihrem Preis sind zwar Löhne für die Gefangenen berücksichtigt, die übrigen Kosten aber werden von der Allgemeinheit getragen.
Die bessere Zukunft taucht jenseits von Sehnsüchten nur selten auf. Dass Stadt über die Initiativen einzelner hinaus politisch gestaltet werden könnte, wird nicht zum Thema gemacht. Die Träume der Geflüchteten auf ein besseres Leben haben kaum Aussicht, Wirklichkeit zu werden. Dass das Gefängnis ein vergleichsweise komfortabler Aufenthaltsort ist, weil der Arzt im Notfall in wenigen Minuten zur Stelle ist, ist Ausdruck des Zynismus, auf dem diese Stadt basiert. Die, die am meisten davon profitieren, haben kein Interesse, daran etwas zu ändern.
So mag sich der Titel der Ausstellung vielleicht erklären: Er suggeriert, dass es die Naturgesetzlichkeit der dichten Städte und Metropolen ist, sozial scharf und tief voneinander getrennte Welten zu produzieren – hier im Museum nur wenig dichter nebeneinander, als es vor dessen Türen der Fall ist, so perfekt aufeinander aufbauend und ineinandergreifend wie die Choreografie der Inszenierung. »Urban« ist hier kein Versprechen mehr, sondern ein globaler Zustand der Ungerechtigkeit, der in der Stadt nur besonders eklatant zum Ausdruck kommt. Für den Besuchenden, der in aller Regel wohl weder Canabis anbaut, noch aus Marokko geflüchtet ist, ein Anstoß, sich über den Alltag der Stadtbewohnenden Gedanken zu machen, die er sonst so wirkungsvoll ignoriert, vielleicht auch, weil er sich zu wenig Fragen stellt. Eine der Personen der Ausstellung, ein zwölfjähriges Mädchen, tut das zumindest in der Ausstellung noch. Es fragt sich, warum die Stadt so gefährlich ist, dass ihre Eltern sie davor warnen müssen. Sind es die Menschen, die die Regeln missachten oder geht die Gefahr von denen aus, die diese Regeln machen? Lassen Sie die Stadt nicht im Stich, bittet der Wissenschaftler. Haben wir genau das nicht schon getan?
»Urban Nature« von Rimini Protokoll (Haug/Huber/Kaegi/Wetzel)
Bis 16. Oktober 2022, Kunsthalle Mannheim, Friedrichsplatz 4, 68165 Mannheim
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