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Weil man inzwischen mit professionellen und teils bereits in Gesetze geflossenen Beteiligungsverfahren unerfreuliche Erfahrungen gemacht hat, wird nach neuen Ideen gesucht, um die vermeintliche Kluft zwischen Volk und Politik zu überbrücken. Der Volksmund weiß es: Guter Rat ist teuer. Wenn jetzt die „Bürgerräte“ wie Pilze aus dem Boden schießen, steht der Blick auf Intention, Methode und Ergebnisse an.
Ein Zentrum des Machtgefüges in Deutschland: das Berliner Regierungsviertel (Bild: Wilfried Dechau)

Die Idee

Aus Frankreich schwappte das Format „Bürgerräte“ in die deutsche Politik. Hat doch der gewiss nicht einfältige, aber elitär auftretende Präsident Emanuel Macron bereits 2019 versucht, mit seinen Bürgern zum Thema Treibhausgasemissionen ins Gespräch zu kommen und dadurch nahbarer zu wirken.1) Die Idee ist ja nicht schlecht: Dass sich bei Beteiligungsverfahren diejenigen in Stellung bringen, die als Lobbyisten, Partei-Verpflichtete, Anlieger und Betroffene eigene Interessen berücksichtigt wissen möchten – und nicht die übergeordneten, gemeinschaftsorientierten Belange –, weiß man inzwischen. Also sucht man die Mitmacher für die „Bürgerräte“ per Los aus. Und dann?

Konzeption des Bürgerrat-Verfahren "Deutschlands Rolle in der Welt". (Bild: Verein "Mehr Demokratie")

Konzeption des Bürgerrat-Verfahren „Deutschlands Rolle in der Welt“. (Bild: Verein „Mehr Demokratie“)

Bürger- und ExpertInnen

Bürgerräte gab es zum Beispiel zum – durchaus politischen, aber etwas blumigen – Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“.2) Interessant ist, wer dieses Thema überhaupt „fand“: Es waren „wissenschaftliche und Durchführungs-Institute, die Fraktionen des Bundestags und gesellschaftliche Akteure“. Wer entschied, welche „Institute“ zum Zuge kamen? Wer suchte warum welche „gesellschaftliche(n) Akteure“ aus? „Akteure“ – dieses Sprachmonster! Jeder Verbrecher, jedes Genie, jede Plaudertasche, jeder Faulpelz, jede nimmermüde Aktivistin, jede Philosophin, jeder Krankenbruder: Sie alle sind „gesellschaftliche Akteure“.

Ich konnte auf der Website zunächst nicht finden, welche „Expert*innen“ befragt wurden und wer festlegte, welche Expert*innen zu befragen seien. Wohl ist aufgelistet, welche Institutionen teilnahmen: die üblichen Verdächtigen, Verbände, Akademien, parteinahe Stiftungen und so weiter.3) Im Abschluss-PDF sind dann doch Namen aufgelistet – sie reichen von Hermann-Josef Baaken vom Verband Tiernahrung über Ralf Becker von der Evangelischen Landeskirche in Baden bis zu Anahita Thomas von der Anwaltskanzlei Baker McKenzie.4)

Und die Bürger? Das waren deutsche StaatsbürgerInnen über 16. „Unter den 160 Teilnehmenden sollten die Geschlechter, Bundesländer, Ortsgrößen, aus denen die Teilnehmenden kommen, Bildungsabschlüsse und Migrationserfahrungen so abgebildet sein, wie sie in der Gesamtbevölkerung Deutschlands verteilt sind.“ Was ist dann noch „Zufall“?5) Initiiert und finanziert wurde der Bürgerrat übrigens privatwirtschaftlich,6) und das Ergebnis ließe sich – wie nicht anders zu erwarten – als eine Art Sonntagspredigt vortragen.7) Dass sich die Teilnehmenden des Bürgerrats – zwischen 16 und 90 Jahre alt – mehrheitlich positiv über das Prozedere äußern, überrascht nicht. Sie lernen durch die Teilnahme, unterhalten sich, freuen sich, dabei zu sein – und dann sind wir wieder beim Thema: Bildung und Wissen. Bürgerräte sind also auch oder vorrangig als Bildungsformat zu werten. Entscheidungsbefugnisse haben sie – anders als Volksentscheidverfahren – natürlich nicht. Aber vielleicht doch Einfluss, den es zu bewerten gilt.

Nun ist es jedoch eigentlich Aufgabe der Parlamente, solche hochpolitischen Themen wie Deutschlands Rolle in der Welt zu debattieren – und in einzelnen Außen-, Wirtschafts-, Sozial- oder Verteidigungsfragen zu entscheiden. Ob die Parlamente dazu die Bürgerräte brauchen? Bieten die wissenschaftlichen, diplomatischen, öffentlichen, medialen Quellen keinen hinreichenden Verlass mehr? Dass PolitikerInnen nicht wissen, wie „das Volk“ denkt und fühlt, scheint mir ohnehin falsch zu sein, denn Lokalpolitiker beispielsweise kennen ihre Heldinnen und Pappenheimer nur zu gut. Es gilt also zu differenzieren.

Top-Themen der Bildung (Bild: Website der Montag-Stiftungen)

Top-Themen der Bildung (Bild: Website der Montag-Stiftungen)

Stadt, Land, Flüsse

Denn schon gibt es viele weitere Bürgerräte. Die Montag Stiftungen haben beispielsweise einen Bürgerrat zum Thema Bildung und Lernen initiiert.8) Zwar ist die Bildung Sache der Kultusministerkonferenz, doch rücken die Montag Stiftungen den Perspektivwechsel von den ExpertInnen hin zu den BürgerInnen und versprechen sich eine „Bereicherung“. Hier können derzeit noch keine bahnbrechenden, neuen Ergebnisse vermeldet werden. Ein Blick auf die „Top-Themen“ offenbart aber bereits, dass alles auftaucht, was längst thematisiert ist. Bemerkenswert ist allenfalls, dass die Wichtung der Themen und das Gewicht der Bürgerbefragung Einfluss auf die Entscheidungsträger in der Politik haben könnte. Und das ist nicht wenig. Solange sich die Resultate aber in belanglosen Allgemeinplätzen erschöpfen, wird kein Politiker etwas gegen sie haben, sich aber auch nicht provoziert fühlen und beeinflussen lassen.

Wenden wir uns den Architektur- und Stadt- und Landesplanungsthemen zu. Hier sind die Entscheidungswege ganz anders strukturiert als in den „weichen“ Bildungs- oder Selbstverständnis-Themen, die sich fürs gefahrlose Schaulaufen von Politikern eignen, um ihre Nähe zu den Menschen zu demonstrieren.

Zudem spielt – wenn es um Fragen des Planens, Bauens, Genehmigens geht – das Expertentum eine klare Rolle. Der stehen jedoch Interessen aus dermaßen vielen Sektoren entgegen, dass BürgerInnen in Bürgerräten heillos überfordert wären, sich in alles hineinzudenken. Das muss ja auch nicht sein, denn einzelne Themen bergen schon Konfliktstoff genug, der Wissen vernichtet, politischen Einfluss manipuliert, wunderbare Initiativen von Idealisten zeitigt oder die Ignoranten und Nörgler auf den Plan ruft. Im Planungswesen spielen die jeweiligen konkreten Betroffenheiten eine immense Rolle, die von „neutraler“ Seite einerseits ausgeglichen, andererseits ausgehalten werden müssen. Üblicherweise ist das die Aufgabe einer Öffentlichen Verwaltung, die in der verfassungsgemäßen Gewaltenteilung administrativ tätig ist. In der Demokratie mehr oder weniger weitsichtig getroffene Entscheidungen muss die Verwaltung umsetzen – und sie wird dabei nicht selten von Bürgerbeteiligungsszenarien erheblich ausgebremst.

Das komplexe Gefüge aus politischen, bürgerlichen, verwaltungstechnischen und privatwirtschaftlichen Begehrlichkeiten im Bauwesen ist deswegen auch in einem Bürgerrat, der sich erfahrungsgemäß aufs Große und Ganze noch einigen kann, eher nicht gut untergebracht. [12.7.21: Ich danke an dieser Stelle Manfred Kreische, der auf Peter Dienel (1923-2006) hinwies. Ab 1970 arbeitete Dienel an der „Planungszelle“, um Partizipation im Planungswesen zu etablieren. Dienel verstand darunter „eine Gruppe von 25 nach einem Zufallsverfahren ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern, die aus erster Hand informiert und assistiert von 2 Prozessbegleitern Lösungen für ein ihnen vorgegebenes, als schwer lösbar geltendes Problem erarbeitet“.]

Wissen und Nichtwissen

Was immer wieder auffällt, ist das fehlende Wissen bei den allermeisten Beteiligten ­– was man ihnen nicht vorwerfen kann, denn wer kann schon alles wissen oder auch nur das, was nicht zum Beruf gehört, verlässlich verfolgen. In politischen Kreisen beauftragt man mit guten Gründen Gutachter mit fachlichen, wissenschaftlichen Expertisen. Der Bundesrechnungshof hat nun beispielsweise moniert, dass das Verkehrsministerium 21 Mio Euro für externe „Berater“ hat ausgeben wollen – es wurde rund das Dreifache, was misstrauisch macht. Gutachten haben für Beauftragende ja den Vorteil, dass diese die Gutachten-Ergebnisse strategisch verkünden können. Und genau das auch machen. Aber dann mit kräftigen Gegenargumenten – wenn nicht Gegengutachten rechnen müssen.

Wie es mit Beteiligungsverfahren weitergeht, lässt sich schwer sagen. Was wir derzeit an Misstrauen, Ignoranz und sogar Verachtung gegenüber Virologen, Immunologen und anderen Wissenschaftlern beobachten müssen, lässt wenig Gutes dazu erwarten, dass Menschen Architekten, Planern, Verwaltung und Technikwissenschaften wachsendes Vertrauen entgegenbringen. Als Bildungsformat dafür, wie dieses Vertrauen gestärkt werden könnte, taugen Bürgerräte, wie gesagt, kaum.

Begrünte Säulen am Kanzleramt (Bild: Wilfired Dechau)

Begrünte Haustechnik-Säulen am Kanzleramt (Bild: Wilfried Dechau)

Wissen versus Konsens

Denn ein weiterer Aspekt ist zu berücksichtigen. In einer Radio-Diskussion forderte Claudine Nierth vom Bürgerratsverein „Mehr Demokratie e. V.“, der die „Rolle Deutschlands in der Welt“ aufgegriffen hat, „Konsensformate“, um der Spaltung der Gesellschaft entgegen zu wirken. Aber es wunderte doch ihre Analyse, dass Bürgerräte das Parlament nicht ersetzen, sondern unterstützen sollte. Man fragt sich gleich: worin denn?
In einer ihrer Veranstaltungen, so Claudine Nierth, habe ein Abgeordneter gesagt: „Ich bräuchte im Grunde genau solche Bürgerräte, die mich beraten in der Politik. Ich muss jetzt Klimapolitik machen. Das war jetzt üblicherweise nicht mein Metier, aber jetzt könnte ich tatsächlich von so einem Bürgerrat erfahren: Ist es denn jetzt mehr die Verkehrspolitik, ist es die Agrarpolitik, ist es die Wärmedämmung oder ist es die Flugreise. Ich weiß nicht genau, was die Bürgerinnen und Bürger sich darunter vorstellen und von mir erwarten. Das heißt, Bürgerräte können einen guten Peilsender bieten und solche konkreten Fragen beantworten, und das sind Orientierungshilfen für die Abgeordneten. Die werden schließlich im Parlament beraten von Experten, die haben Umfragen, aber ein Bürgerrat hat ja die Möglichkeit, dass er die Expertenmeinung hört, und zwar die Pro- und Kontrameinung“ – und dann eine konsensfähige Meinung abgeben könne.9)

Das muss man sich mal klarmachen: Ein Politiker möchte sich hier eine konsensfähige Meinung von Bürgerräten servieren lassen, anstatt eine wissenschaftlich fundierte zur Diskussion zu stellen. Solche Verfahren kann ich kaum gutheißen, weil Wissenschaft aufgegeben wird, um die Polarisierung der Gesellschaft abzubauen.

Suchen wir also in Themen, in denen wissenschaftliche Zuverlässigkeit relevant ist, besser nach anderen Verfahren, um die Mitmenschen in Kenntnis davon zu setzen, worauf es ankommt. Die Bürger „beraten“ die Politik? So ist das in der repräsentativen Demokoratie nicht gedacht. Die Politik ist gewählt worden, um konsensfähig zu entscheiden und zu handeln. Und nicht dafür, sich Konsens von den Bürgern liefern zu lassen.


1) 150 zufällig, per Losverfahren ermittelte Franzosen sollten erarbeiten, wie bis 2030 diese Emissionen um mindestens 40 Prozent reduziert werden.

4) siehe Anm. 3, Seite 6 f.

7) siehe Anm. 3, Seite 13 f.