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Die Stadt als Handlungsfeld (Bild: MSA – Pötting, Tronich, Wentzien)
Der Städtebau als Disziplin hat sich gründlich gewandelt. Er entwickelte sich von einer rationalen Vorgehensweise omnipotenter Gewissheit zu einem interaktiven, sensiblen, zuweilen demütigen und dennoch visionären Handlungsfeld. Für den Umgang mit unseren oft fragmentierten Städten voller Brüche, für den Umgang mit  komplexen räumlichen, sozialen und organisatorischen Gefügen gibt es kein Patentrezept: Nur eine Vielfalt von Herangehensweisen kann der Vielfalt der Stadt gerecht werden. Ein Plädoyer für methodischen Pluralismus.

Mit diesem Beitrag starten wir die Serie „Städtebau.Positionen“. In ihr stellen Professorinnen und Professoren deutscher Hochschulen Perspektiven auf die Stadt und die Disziplin der Planung vor. Die Serie versteht sich als öffnender Beitrag zum Diskurs über Stadt, als Panorama der städtischen Vielfalt und Themen, mit denen umzugehen wir herausgefordert sind.



Stadt ist das, was jeder kennt. Schaut man genauer hin oder fängt man gar an zu theoretisieren, wird es schwieriger. Ist Stadt eine Ansammlung von Häusern, eine Verdichtung von Aktivitäten, eine Sammlung von Geschichten oder schlichtweg in Form gegossenes Baurecht? Ist die Stadt eine smarte Matrix digitalisierbarer Algorithmen, ein Knotenpunkt im infrastrukturellen Netzwerk, ein Konglomerat aus verschiedenen Gebäude- und Ensembletypen oder eine „Ablagerung menschlicher Mühen“? (1)  Jeder Versuch einer singulären Erklärung im Sinne eines Entweder-Oder greift zu kurz. Statt dessen muss es um die Summe aller konstituierenden materiellen und immateriellen Parameter der Stadt gehen: als gebautes Schwarmphänomen voller Beziehungen und Abhängigkeiten. Nicht nur heute ist ein Vielfalt an Perspektiven gefragt – auch die Geschichte zeigt, wie verletztlich Konstrukte sind, wenn sie nicht komplex genug angelegt sind.


Neue Veduten

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Vedute Wilhelmsburg 2008 (Bild: Atlas IBA Hamburg)

Der Begriff Stadt leitet sich etymologisch vom althochdeutschen „stat“ (Ort, Stelle) ab und bezeichnet eine Wohnstätte oder Siedlung. Angesichts spezifischer urbaner Phänomene bereichern neue Termini und Attribute den Diskurs, so beispielsweise Stadtland, Zwischenstadt, Kulturlandschaft, Multiple Stadt, Generic City, Posturbia, Ville Poreuse, Technoburb, Metrozone, Sofortstadt oder Urban Flotsam, … Diese Begriffswolke zeigt nicht nur die vielfältigen Facetten und spezifischen Charaktere unserer komplexen urbanen Natur, sondern auch, mit welcher wachsenden Begeisterung Menschen die sich ändernden Phänomene und damit verbundenen Lebensweisen verstehen wollen.

Die Form der Stadt wird durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen bestimmt und unterliegt einem steten Wandel. Die Verteidigungsfunktion brachte Bollwerke, das Bevölkerungswachstum Stadterweiterungen, Abwanderungen Rückbau, die Automobilität breite infrastrukturelle Korridore, Tunnel und Parkhäuser, die Logistik des Handels riesige Factory-Outlets am Stadtrand, das Brachfallen von Industriestandorten Konversionen. Die Mobilitätswende wird neue Stadtraumtypen einfordern und eine Flächenrochade im Straßenraum nach sich ziehen. Stadt hatte nie eine fixierte homogene Gestalt, aus unterschiedlichen programmatischen Einflüsse bekam sie ihr heterogenes Aussehen. Die alten gemalten Stadtansichten sind abgelöst durch collagenhafte Bilder oder neue Veduten – Ausdruck von Vitalität und Lebendigkeit.


Stadt oder Architektur


Wie kann auf diese Dynamik Einfluss genommen werden? Der Glaube an die Planbarkeit von Stadt variierte im Lauf der Zeit zwischen den Extremen. Der schier unbezwingbaren demiurgischen Zuversicht standen Phasen gegenüber, in denen die Auseinandersetzung mit und der Gestaltung von Stadt völlig aufgegeben worden ist. In den 1970er Jahren reifte die Erkenntnis, dass rein funktional ausgerichtete Masterpläne nach ihrer Realisierung harscher Kritik ausgesetzt waren und oft scheiterten. Sowohl in der modernen Stadtplanung als auch in vielen Idealstadtentwürfen zeigt sich, dass der Wunsch scheitert, ein unveränderliches Endergebnis auf Dauer zu fixieren. Stadt ist nicht Architektur.

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Gebaut als Manufaktur, weitergedacht als Idealstadt und heute denkmalgeschütztes Weltkulturgut, aber keine Stadt (Bild: Joachim Schultz-Granberg 2014)

Die durch Angelus Eisinger beschriebene „Stadt der Architekten“ (2) blendet Teile der Stadtwirklichkeit oft aus. Ihre Realisierung führte meist nicht zum Erfolg oder verlief zumindest ganz anders, als sich die Schöpfer im besten Sinne vorstellten. Le Corbusier würde heute die von ihm geplante Stadt Chandigarh in Indien bis auf wenige Wahrzeichen kaum noch wiedererkennen. Auch zahlreiche ambitionierte, von Architekten konzipierte Idealstadtentwürfe – wie die Kolonie San Leucio bei Caserta 1773, die Saline in Chaux von Ledoux 1774, die 30 in der Mitte des letzten Jahrhunderts in England realisierten New Towns bis hin zur Hauptstadtneugründung Brasilia 1956 – verkümmerten oft auf dem Weg in die Realität und schufen Wirklichkeiten, die weit entfernt von planerischen Visionen auf dem Baugrund landeten. Nicht zuletzt gilt die Sprengung der Pruit-Igoe Siedlung in St. Louis 1972 als das Ende des modernen Autorenplans als endgültiges Scheitern der Planbarkeit: der Nullpunkt der Stadtplanung.

Nach diesem Ende planerischer Zuversicht richtete man sich zunächst auf den überschaubaren und kontrollierbaren Maßstab der Architektur. Architektur ist Teil des unmittelbaren städtischen Zusammenhangs und hat das Potenzial, Stadträume zu bilden und Aktivitäten ebenso wie Nutzungen anzuziehen. Die Wirkung der Architektur auf den Stadtraum offenbart sich in vielen Projekten für Baulücken, Stadtreparaturen, Arrondierungen, die mit unterschiedlichem Grad urbane Aspekte berücksichtigen. Handbücher über Stadthäuser, bauliche Sockel, städtische Ecken, Vorder- und Rückseiten von Gebäuden, den Sinn und Unsinn städtischer Blöcke bilden einen Katalog typologischer Lösungen und das gestalterische Handwerkszeug für diese Art urbanistisch motivierter Gestaltung.

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Stadt im Gebrauch: Basketball um den Stützpfeiler einer Autobahn in Shanghai (Bild: Joachim Schultz-Granberg)

Eine solche formale Deklination städtischer Details ist wichtig, jedoch nicht ausreichend. Man könnte dies als einen architektonischen Urbanismus im weiteren Sinne beschreiben, in der sich der Urbanismus einer Gestaltidee unterordnet – daher ist fraglich, ob Urbanismus hier nicht der falsche Begriff ist, da dabei eine architektonische Herangehensweise eine weiterführende Auseinandersetzung mit der Stadt ausschließt und diese als Architektur missversteht. Der morphologische Werkzeugkoffer des Architekten würde zum Beispiel in Großwohnsiedlungen, an Stadträndern, entlang von Brüchen, bei Transformation und in Gewerbegebieten versagen. Hier fehlt nicht nur die Auseinandersetzung mit der realen Stadt im Gebrauch, sondern auch der Zusammenhang zwischen Stadtform und gelebter Stadtwirklichkeit. Städtebau ist eine Praxis, die sich an gesellschaftlichen Rahmenbedingungen orientieren muss.


Neue Methoden


Im Jahr 1999 erschien das Buch Everyday Urbanism von John Chase, Margaret Crawford und John Kaliski. Es begründet eine Methode, die den blinden Fleck des modernen Planers ins Blickfeld rückt: den Reichtum und die Vitalität des täglichen Lebens. Urbanismus in diesem Sinne ist Resultat moderierter Einzelmaßnahmen, getragen durch lokale Akteur*innen. Mittel sind urbane Interventionen, die erstaunliche Wirkungen entfalten können und die Komponente der Improvisation ins Spiel bringen. Was wäre das schrumpfende Halle Neustadt in den 1990er Jahren ohne eine Strategie der urbanen Interventionen? (3) Hier kommen Partizipation und Reallabore ins Spiel, die vor Ort räumliche Lösungen ausloten und Planungsprozesse in Gang setzen. Inwieweit „Everyday Urbanism“ großen urbanen Transformationen adäquat ist und sie gestalten kann, ist allerdings die Frage. Auch wenn Michael Speaks sagte: „Everyday is not enough“ (4), – diese Methode hat ihre Möglichkeiten ebenso wie ihre Grenzen.

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New Urbanism in Deutschland: Kirchsteigfeld bei Potsdam, 1993–1998. (Bild: Wikimedia CC BY-SA 3.0)

Nach dem Nullpunkt entstand als alternative Methode ab den späten 1970er Jahren in Amerika der New Urbanism. Diese Richtung versteht sich als Nachbarschaftsdesign und favorisiert fußgängerfreundliche Kleinstädte, die zum Teil als exklusive Gated Communities gebaut wurden. Das Prädikat einer Bühne für öffentliches Lebens kann ihnen nicht verliehen werden. Prominentes Beispiel ist die Retortenstadt Seaside, sie entstand 1979 und war Drehort für den Film Truman Show, dessen Protagonist Truman Burbank in der Stadt als Darsteller seiner eigenen Reality Show gefangen war. Die Entwurfsgedanken folgen dem sogenannten Smart Code, einem strikten Katalog städtebaulicher Komponenten wie Straßenprofile, Gebäudeecken und -typen sowie Straßenlampen, die nach einem Zonierungsprinzip angeordnet werden können. Die Idee des Smart Codes ist vielleicht ein modus operandi, doch haftet der willkürlichen Festlegung auf neotraditionalistische Bauformen der Duft spießiger Katalogvorstadt an und reduziert sie auf ein stilistischen Korsett.

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Euralille, Bahnhof, mit einem Genbäude von Christian de Portzamparc. Foto von 2007 (Bild: Wikimedia Commons, CC BA-SY 2.5, Remi Jouan)

Eine weitere Antwort auf das Scheitern paternalistischer Planung war der Posturbanismus, der auf die städtebauliche Wirkung sehr großer Baukörper setzt: Das Haus wird zum Stadtteil. Euralille (1989–1994) ist ein riesiges Kongresszentrum von OMA am Knotenpunkt französischer und englischer Hochgeschwindigkeitszüge und steht für das Konzept der Bigness. Im eigentlichen Sinne ist die Haltung antiurban, aber immerhin eine plausible Antwort auf den großen Maßstab von Infrastrukturkorridoren. Mit einer Komposition von Stadtplätzen à la Camillo Sitte käme man hier nicht weit. In ähnlicher Weise verschreibt sich der Infrastrukturelle Urbanismus dem wichtigen Thema der Mobilität und entzieht den Straßenraum hinsichtlich gestalterischer und strategischer Aspekte der Verkehrsplanung.


X-Urbanismus


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Städte brauchen ein komplexes Instrumentarium. (Bild: Christian Holl)

Die Begriffswolke der Urbanismen endet hier nicht. Ob Landschaftsurbanismus, ökologischer Urbanismus, taktischer Urbanismus, typologischer Urbanismus – die Reihe ist lang und wird weiter ergänzt werden. Diese Suche nach wirksamen und relevanten Planungsmethoden macht deutlich, dass keine Methode, mag sie es noch so sehr suggerieren, der Komplexität städtischer Vielfalt genügt: Sei es das maßgenaue Fügen von städtebaulichen Setzungen mit architektonischen Mitteln, das strategische Ausloten von Leitideen in großem Maßstab, die situative Akupunktur im Bestand, das taktische Experimentieren im Straßenraum oder das prototypische Testen von Lösungen im Reallabor: Jeder Ort braucht nicht nur eine spezifische Methode, sondern eine geschickte Kombination von Vorgehensweisen, die alle Maßstäbe einschließen, räumliche Qualität schaffen und strategisch operativ sind.

Städtebauliche Probleme brauchen nicht nur den „Schraubendreher“ der Architekten, sondern ein komplettes Instrumentarium, die geschickte Hand und gesammelte Kraft, die den Raum für die Programmierung und Gestaltung von Stadt strategisch ausloten und entwickeln kann. Die zu oft vereinfacht ins Feld geführte Reduktion des Städtebaus auf den Begriff der Stadtbaukunst und der postulierte morphologische Gestaltungswillen urbaner Straßenräume und Plätze, städtischer Ecken, Vorder- und Rückseiten ist wertvoll, aber reicht nicht aus, da er mit dem Fokus auf die Kernstädte nur einen verschwindend geringen Bereich unserer Städte in den Blick nimmt. Als methodisches, typologisch eingeengtes Korsett ist Stadtbaukunst blind für breitere und aufgeschlossenere Herangehensweisen.

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Integration von temporären Nutzungen durch ein räumliches Passepartout – prozessuale Strategie statt Masterplan. (Bild: Studio Schultz Granberg)

Methodische Freiheit und neue Planungsformate sind auch die notwendige Antwort auf viele offene Zukunftsfragen, angesichts derer die formelle Planung oft nicht wirkungsvoll genug ist. Wie wollen wir leben und welche Form von Stadt und Umwelt braucht es dazu? Diese Frage kann nicht durch eindeutig festgelegte Stadtformen vorbestimmt werden. Es geht um Toleranz für die Vielfalt von Lebensentwürfen, darum, Mehrdeutigkeit zuzulassen, die vorhandenen Freiräume dem Gemeinwohl zu widmen und schlussendlich den Raum präzise zu gestalten, egal ob es um ein Quartier in einer Schwarmstadt, eine Alternative zu Einfamilienhäusern am Stadtrand, ein Detail einer Lärmschutzwand oder den Bau einer neuen Stadt geht.

X-Urbanismus bezeichnet einen opportunen Methodenpluralismus: offen für gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und soziale Dimensionen und städtebauliche Verfahrenskulturen. Zunehmend wird die gesetzlich gefasste formelle Bauleitplanung mit Akteur*innen im Rahmen von kooperativen Verfahren ergänzt, oft sind selbst berufene Stadtmacher Initiatoren von Planungsprozessen, die mehr Zeit und Raum einnehmen und gesellschaftliche Belange aufgreifen. Der Autorenplan wird mit kollaborativer Verfahrenspraxis zu einer Strategie für das Gemeinwohl. Der Prozess erlaubt Diskurspraxis, Reflexion sowie Neuorientierungen, und er öffnet Räume für Aneignung und zukünftigen Möglichkeiten, die selbst der lebhaftesten Fantasie von Architekt*nnen und Planer*nnen zur Zeit der Konzeption nicht zu entspringen vermögen. Die Stadtwirklichkeit ist immer reichhaltiger, unverhoffter. Und generell auf der Überholspur.



(1) Carlo Cattaneo 1925
(2) Angelus Eisinger: Die Stadt der Architekten – Anatomie einer Selbstdemontage, Birkhäuser 2003
(3) Kolorado, Projekt von Raumlabor zu Zeiten massiver Schrumpfungsprozesse in Halle-Neustadt
(4) Micheal Speaks in Mehrotra: Everyday Urbanism, Michigan Debates on Urbanism (vol. 1). University of Michigan, 2004