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Stadt, Land, Landschaft, Territorium


Städte wachsen weiter – wie können Entwerfen, Planen, Handeln im Kontext der aktuellen Diskussionen über ihre Zukunft aussehen? Wie können die Folgen unseres in den Städten und Regionen praktizierten Alltags für Umwelt und Klima aufgegriffen werden? Wie kann Planen und Entwerfen den Menschen und der großen kulturellen Leistung, die unsere Städte darstellen gerecht werden? Zwei neue Publikationen und eine verdienstvolle Neuauflage geben wertvolle Anregungen.

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Ton Matton: Zweifel. Performative Stadtplanung in 13 Vorträgen. 10,5 x 14,8 cm, 160 Seiten, 16,80 Euro
Jovis Verlag, Berlin, 2019

Wer Ton Matton selbst einmal erlebt hat, wird wissen, dass seine Vorträge auch davon leben, dass er improvisiert – was nicht heißt, sie mit Belanglosigkeiten aufzufüllen. Matton hat eine präzise Vorstellung von dem, was er sagen möchte und ein profundes Wissen, aus dem er schöpft, um sein Anliegen zu veranschaulichen. In den in diesem Buch zusammengestellten 13 Vorträgen wird dies deutlich und auf eine überraschend klare Weise nachvollziehbar. Sie wurden in den letzen 12 Jahren gehalten und umkreisen die Frage, was Verantwortung von Gestaltung heute heißen kann, was Stadtplanung bedeuten kann und wie Eigeninitiative ergriffen werden kann in einer Welt, die uns in ihrer Komplexität überfordert. Mattons Botschaft ist des Machers: „Wenn der Versorgungsstaat in einem Kapitalismus ohne Ideologie untergeht und nicht länger in der Lage ist, seine Bürger zu versorgen, dann sollte man die Dinge selbst in die Hand nehmen.“ Matton wendet sich dagegen, sich hinter Sachzwängen zu verstecken und die Verantwortung für das eigene Tun – ob als Stadtentwickler, Stadtplaner, Architekt, Designer, Lokalpolitiker – weiterzureichen. Auch sollten wir uns nicht hinter der Hoffnung verstecken, Probleme durch Technik irgendwann lösen zu können.

Den Ausreden und Illusionen setzt er seine eigenen Initiativen entgegen, seine eigene Haltung entgegen. Bekannt ist sein nach Almere versetztes EW58/08-Typenhaus der DDR, sein Experiment, selbst nach Brandenburg zu ziehen und einen alternativen Lebensentwurf zum Ausgang von dem zu machen, was im Buchtitel als performative Stadtplanung genannt wird. Als ein Beispiel dafür sei die Belebung der Hauptstraße von Wittenberge durch studentische Pop-Up-Nutzungen genannt, die der Bevölkerung wieder die Möglichkeiten zeigte und Mut machte, Räume durch Eigeninitiative ohne Bankkredit zu nutzen, sich zusammenzuschließen und „die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.“ Doch Matton ist nicht naiv: er überschätzt nicht die Macht des Konsumenten, verniedlicht nicht die Herausforderungen, er bagatellisiert nicht, was alltägliches Handeln an Umweltschäden verursacht, er idealisiert nicht das Landleben, informelle Netzwerke und Subsistenzwirtschaft. Es bleiben immer Zweifel. Um so überzeugender die Verve, nicht zu resignieren und die Chancenzu sehen, zu ergreifen. Trotz einiger inhaltlicher Wiederholungen, auch wenn man sich manchmal gewünscht hätte, etwas mehr über den Zusammenhang zu erfahren, auf den sich die einzelnen Vorträge beziehen, ist das kleine Buch ein kraftvoller Appell an Fantasie, Optimismus und den Mut, ein Risiko einzugehen, um etwas mehr Raum für Selbstbestimmung zu gewinnen.



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Juliane Feldhusen, Sebastian Feldhusen (Hg.), Hochschule Osnabrück, Studienbereich Landschaftsarchitektur, Studiengang Freiraumplanung: Mensch und Landschaftsarchitektur. 16 x 24 cm 336 Seiten, 146 Abb., 38 Euro
Jovis Verlag, Berlin, 2019

2015 haben sich Lehrende, Studierende und Emeriti vom Studiengang Freiraumplanung der Hochschule Osnabrück in einem intensiven Halbjahresprogramm über Rolle, Möglichkeiten und Bedeutung der Landschaftsarchitektur ausgetauscht. Als Buch ist die Zusammenfassung dieser Selbstvergewisserung 2019 unter dem allgemeinen Titel „Mensch und Landschaftsarchitektur“ erschienen, so, wie auch das Programm 2015 betitelt wurde. Eine einordnende Bestimmung dessen, was mit Mensch gemeint sein kann, nimmt glücklicherweise die Einleitung vor, um banalisierenden Allgemeinplätzen, die man befürchten könnte, aus dem Weg zu gehen: „Mensch“ heißt eben immer „Menschen“: mit unterschiedlichen Erwartungen, Bedürfnissen, Möglichkeiten, Hintergründen: Als Spielende, als Nutzer, als Erlebende und als Akteure. Auch wenn sicher nicht alle möglichen Sichtweisen auf Landschaftsarchitektur aufgenommen wurden, ist das Buch eine interessante und breit angelegte Sammlung an Aufsätzen und Interviews zum Thema, gegliedert in drei Blöcke „Profession, Haltung, Vermittlung“; „Bedürfnis, Interesse, Absicht“; „Entwerfen, Probieren, Sensibilisieren“.

Von geschichtlichen Überblicken, biografischen Erzählungen, bis hin zu Fallstudien und exemplarischen Einzelaspekten reichen die Beiträge. Sie reflektieren die Fragen von Bürgerbeteiligung und Wahrnehmung, Alltagstauglichkeit und Aneignungspotenzialen, von der Rolle des Freiraums für den Sport und gesellschaftlicher Integration. Die Rolle von WC-Anlagen für den öffentlichen Raum wird untersucht, die Bedeutung sinnlicher Wahrnehmung jenseits des Sehens betont, es wird gezeigt, wie Einrichtung von Freiräumen die Möglichkeiten zu bestimmen Aktionen öffnen und gleichzeitig andere ausschließen kann. Andere Themen bleiben, der Entstehung des Buchs geschuldet, dabei unterbelichtet: die Zusammenhänge mit Klimaveränderungen oder Mobilitätsformen für Landschaftsprägung und als Gestaltungsherausforderung, die Potenziale von Selbstorganisation oder Bewirtschaftungsformen sind allenfalls beiläufig gestreift. So entstand also kein Grundlagenwerk für den Einsteiger in die Landschaftsarchitektur, aber für den bereits mit Grundlagen vertrauten Leser eine Sammlung von wichtigen und anregenden Beiträgen zu aktuellen Haltungen und Herausforderungen.



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ZHAW (Hg.), Sylvain Malfroy, Gianfranco Caniggia: Die morphologische Betrachtungsweise von Stadt und Territorium. 21 x 29,7 cm, 282 Seiten, 200 Abb., 45 Euro
Triest Verlag, Zürich, 2018

Zum Abschluss sei noch auf eine sorgfältig erarbeitete Neuauflage aufmerksam gemacht: 1986 erschien Gianfranco Caniggias Strukturanalyse der Stadt Florenz zum ersten Mal, eingeführt von Sylvain Malfroy, wobei die Einführung fast doppelt so lange ist wie der Text, auf den sie sich bezieht. Das freilich ist kein Mangel – dazu später. Caniggias Analyse der Morphologie von Florenz basiert auf dem Instrumentarium, das sein Lehrer Saverio Muratori entwickelt hat und das sich gegen die funktionalisitisch orientierte Planung der Nachkriegszeit wendete.

Die Analyse der Stadt aus ihrer Geschichte und ihren Typen, eingebunden in das Beziehungsgeflecht der Landschaft und der Traditionen, wie sie Caniggia beispielhaft vorführt, war jedoch nie ein Bemühen um eine historische Beschreibung, sondern eines um das Verständnis dessen, was Malfroy in seiner Einleitung als Paradox beschreibt: „Das Paradox der im Verlauf der Zeit im Raum realisierten architektonischen Eingriffe liegt darin, dass sich diese als etwas Gegenwärtiges präsentieren.“ Denn es geht bei der Untersuchung auch immer um eine ästhetische Erkenntnis, eine Gleichzeitigkeit von geschichtlichem Verstehen und gestalterischem Anspruch, die zur Basis eigenen Entwerfens werden soll. Es geht beim Ansatz von Muratori und Caniggia um ein Verständnis, „das die kollektiv erzeugten Artefakte auf völlig neue Weise ästhetisch erfahrbar macht“, wie Malfroy im Vorwort schreibt. Erst vor diesem Hintergrund ist der Begriff der „Storia operante“ einzuordnen, der für Muratori und Caniggia leitend war – die Vorstellung der operativen Geschichte.

Dafür, wie ästhetische Erfahrung und das Entwerfen des Neuem im Kontext und mit den Bedingungen des Bestehenden verstanden werden kann, bietet die ausführliche Einführung von Malfroy zahlreiche Hinweise. Vor allem aber ist die Einführung – und es ist fast zu empfehlen, sie nach Caniggias Strukturanalyse zu lesen – eine ausführliche Erörterung von Methode, Hintergrund und Vokabular, derer sich Caniggia bedient. Die hohe Wertschätzung, die Malfroy Caniggia entgegenbringt, äußert sich in einer sorgfältigen, ausführlichen Darlegung der Ambivalenzen, die das Vorgehen Caniggias mit sich bringt. Die Rahmungen, die sein Ansatz setzt, sei es durch die Darstellungsmethode, sei es durch den Einsatz von Modellen als Erkenntnisinstrumenten, seien es die Metaphern und die Neologismen, bestimmen grundlegend darüber, wie gesehen, verstanden und interpretiert wird.

So wird insbesondere dem Begriff des Organischen und damit verbunden dem des Stadtorganismus breiter Raum eingeräumt. Mit ihm bleibt, so analysiert Malfroy, das Verhältnis von Entwurf und kollektivem Schaffensprozess, zwischen Erfindung und Regulierung, zwischen Freiheit und Regeln in der Schwebe – und damit letztlich auch das, was Stadt ausmacht. Diese präzise benannte Unbestimmtheit  im Umgang mit Methode und Vokabular macht den großen Wert dieser Publikation wie ihrer Aktualität aus. Denn ein solches Eingeständnis der Unbestimmtheit würde man sich bei denen wünschen, die im Brustton der Überzeugung behaupten zu wissen, wie richtig in und für die Stadt zu entwerfen sei. Es könnte einige der aktuellen Diskussionen über die Stadt fruchtbarer machen.


Weitere Themen der Planung von Lebensraum und Landschaft werden auf dem Landeskongress Archikon2020 am 31. März 2020 in Stuttgart behandelt. Weitere Information >>>