Der japanische Architekt Riken Yamamoto wird mit dem Pritzker-Preis 2024 ausgezeichnet. Dem breiteren deutschsprachigen Publikum dürfte Yamamoto vor allem durch seinen Beitrag zum Wettbewerb für das inzwischen „berlin modern“ genannte Museum am Kulturforum bekannt sein, mit dem er in die Endrunde kam, sich aber gegen den Entwurf von Herzog & de Meuron nicht durchsetzen konnte. Oder durch den Geschäfts- und Hotelkomplex „The Circle“ am Zürcher Flughafen. Doch ein genauerer Blick auf das Werk lohnt sich.
Riken Yamamoto kommt 1945 im chinesischen Peking zu Welt. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs siedelt die Familie nach Japan über und lässt sich in Yokohama nieder. Der Vater ist Ingenieur, stirbt jedoch bereits, als Riken Yamamoto fünf Jahre alt ist. Die Mutter wiederum ist Apothekerin, ihre Apotheke bildet den öffentlichen Teil des Hauses, in dem die Familie lebt, und das den tradierten japanischen Machiya nachempfunden ist. Diese meist langen und schmalen Stadthäuser richten sich mit einem öffentlichen Teil zur Straße, an den sich, häufig durch einen Hof getrennt, die privaten Räume der Familie anschließen. Riken Yamamoto studiert bis 1968 Architektur an der Nihon University in Tokio und erhält 1971 einen Master of Arts in Architektur an der Tokyo University of the Arts. Im Anschluss an sein Studium bereist Yamamoto gemeinsam mit seinem Mentor Hiroshi Hara zunächst verschiedene Länder. So führt in eine lange Rundfahrt 1972 entlang der Mittelmeerküste durch Frankreich, Spanien, Marokko, Algerien, Tunesien, Italien, Griechenland und die Türkei.
1973 gründet er sein eigenes Architekturbüro Riken Yamamoto & Field Shop in Yokohama und reist im Jahr darauf nach Amerika: Von Los Angeles führt ihn diese Exkursion nach Mexiko, Guatemala, Costa Rica, Kolumbien und Peru. Später wird eine ähnliche Tour in den Irak, nach Indien und Nepal folgen. Dabei interessieren ihn weniger die offensichtlichen touristischen Highlights der jeweiligen Länder als vielmehr deren kulturellen und damit auch architektonischen Eigenheiten. Yamamoto kommt so zu dem Schluss, dass die Idee einer Schwelle zwischen öffentlichen und privaten Räumen, die er bereits von Kindesbeinen an von der ihn prägenden heimischen Architektur der Machiya kennt, universell ist. Er hält damals fest: „Ich erkenne, dass das vergangene System der Architektur dazu dient, unsere Kultur zu finden… Die Dörfer waren unterschiedlich in ihrem Aussehen, aber ihre Welten [waren] sehr ähnlich.“ Diese Erkenntnis wird die Arbeiten von Riken Yamamoto fortan bestimmen.
Die universelle Schwelle
Es entstehen zunächst kleine Einfamilienhäuser wie das Mihira House, ein 1976 fertiggestellter Holzbau mit nur etwas weniger als 67 Quadratmetern Grund- und Wohnfläche, oder 1977 ein Sommerhaus in Nagano: die Yamakawa Villa. Beide lassen ein weiteres Thema erkennen, das die Arbeit des Architekten dauerhaft bestimmt: ein klares Ordnungssystem, das den gesamten Bau organisiert. Für die Yamakawa Villa entwickelt Yamamoto ein System von Kuben, die er unter einem langgestreckten gemeinsamen Dach so anordnet, dass sich zwischen ihnen überdachte Freiräume ergeben, die die Räume des Hauses wie Straßen verbinden. Terrassen und Loggien fügen sich wie kleine Plätze in diese Ordnung ein. Die Kuben scheinen auf einem Holzdeck zu stehen scheinen, das eine umlaufende Terrasse um die Räume bildet. Dieses Deck verstärkt die Präsenz der Zwischenräume als strukturierende Größe und bildet die Schwelle zum rund 1.000 Quadratmeter großen Grundstück, auf dem das lediglich 88 Quadratmeter große Sommerhaus steht.
Mit dem Studio Steps in Kawasaki, später auch Ishii House genannt, buchstabiert Riken Yamamoto seine Idee der räumlichen Schwelle 1978 erstmals ganz konkret aus. Für das Ehepaar Ishii, sie Malerin, er Bildhauer, entwickelt er ein Haus, das Wohnen und Arbeiten gleichermaßen ermöglicht und den Eheleuten als Atelier dient, in dem auch Konzerte stattfinden sollten. Über zwei Treppen, eine davon als Tribüne für das Publikum ebenso funktionierend wie als Teil der Arbeitsprozesse im Atelier, öffnet sich der lange Raum in Richtung der Stadtüber ein in fünf mal fünf gleichgroße Teile geteiltes, quadratisches Fenster. Unter dieser doppelten Treppenanlage finden sich, von außen kaum wahrnehmbar, die Privaträume von Herrn und Frau Ishii.
Gemeinschaft in und durch Architektur
Nach und nach werden die Projekte größer: Wohnbauten, Museen, Rathäuser, Grundschulen, Geschäftshäuser und ganze Stadtviertel plant das Büro. Was sie eint, sind die ordnenden Raster in Grundriss und Ansicht. Innerhalb dieser Grids organisiert Yamamoto mit seinem stetig wachsenden Team unterschiedliche Folgen von offenen und geschlossen Räumen, mal gedeckt, mal nach oben geöffnet. Dabei hat er stets im Sinn, auf der einen Seite Gemeinschaft zu ermöglichen und auf der anderen Seite Rückzugsräume für kleinere Gruppen oder das Individuum zu schaffen.
Deutlich wird das etwa bei der 1991 fertiggestellten Wohnanlage Hotakubo Housing in Kumamoto, Japan. 16 gleichförmige Häuser umstellen hier einen gemeinschaftlichen Gartenhof, zudem sie sich mit skulpturalen, betonierten Loggien öffnen, die von schattenspenden Dächern gekrönt sind. Als Variation dieses Themas finden sich auf der Straßenseite offene Treppenhäuser, über die man die insgesamt 110 Wohnungen erreicht. Auch diese Treppenhäuser sind mehr als bloße Erschließungszonen, sondern jene raumhaltigen Schwellen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, die Aufenthalt und damit Begegnung möglich machen.
Der Bau der Saitama Prefectural University im japanischen Koshigay, 1999 fertiggestellt, skaliert dieses Prinzip noch einmal höher. Zwei lange Gebäuderiegel bilden das Rückgrat der großen Anlage, in der sich neun Gebäudeteile durch Terrassen, Brücken und Wege verbinden, zwischen denen sich immer wieder Höfe und Gärten einfügen. Durch die Verteilung der öffentlichen Bereiche innerhalb dieser strengen Organisation verschwimmen die Grenzen der eigentlichen Gebäudeteile in einer größeren Ordnung.
Eine Maßstabsebene weiter fächern Yamamoto und seine Mitstreiter:innen dieses Prinzip im südkoreanischen Seongnam auf, wo 2010 das Viertel Pangyo Housing realisiert wurde. Neun Wohnblocks fügen sich hier zu einer Nachbarschaft zusammen, gebildet je durch mehrere zwei- bis dreistöckige Häuser. Pro Block finden sich die Einzelhäuser durch eine halböffentliche Ebene zusammen, an die die Bauten mit transparenten, halbprivaten Stockwerken grenzen. Oberhalb und unterhalb dieser gläsernen Sockelzone finden sich dann die deutlich geschlosseneren privaten Räume der Häuser. Durch ein leichtes Verschieben innerhalb der Ordnung und eine feine, der Topographie folgenden Höhenstaffelung gelingt es, hier ein gleichermaßen homogenes wie niemals langweiliges Ensemble zu schaffen.
Architektur und Demokratie
So bilden die Bauten des japanischen Architekten ein stabiles Rahmenwerk für unterschiedlichen Aggregatszustände von Gemeinschaft, ohne den Menschen vorzuschreiben, was genau sie darin tun sollen – wohlorganisierte Möglichkeitsräume.
Riken Yamamoto ist nun der insgesamt neunte japanische Architekt, der mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wird. Kein Land weltweit kann mit einer ähnlichen Anzahl derart dekorierter Architekt:innen aufwarten. Wie schon in den Vorjahren bei Francis Kéré und David Chipperfield hebt die Jury auch mit Blick auf die Arbeit von Riken Yamamoto den sozialen Aspekt des Bauens hervor. Der Architekt würde zum Pritzker-Preisträger 2024 ernannt, so Jury in ihrer Begründung, weil er in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür geschaffen habe, „was die eigene Verantwortung mit Blick auf soziale Fragen ist, die Disziplin der Architektur in Frage gestellt hat, um jede einzelne architektonische Antwort zu kalibrieren, und vor allem, weil er uns daran erinnert hat, dass in der Architektur, wie in der Demokratie, Räume durch die Entschlossenheit der Menschen geschaffen werden müssen.“