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Mit zunehmend emotionalisierten Verlautbarungen wird Erinnerungskultur von Geschichtswissen abgekoppelt, das zugleich in großen Teilen der Gesellschaft bildungssystemisch schwindet. Was bedeuten jetzt also Orte und Ortsrezeptionen für die Erinnerungskultur? Ein Diskussionsabend in Berlin und eine aktuelle Studie an der Universität Kassel dienen der Versachlichung emotionaler Scheingefechte – und rücken die alltäglichen „Tatorte“ in den Denkmaldiskurs, der so nah an die Gegenwart rückt wie nie zuvor.


Antisemitismus, Links- und Rechtsradikalismus, Fremdenhass und viele andere emotional besetzte Themen überschatten auch die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die sich um Erkenntnisgewinn bemühen. Es geht um Erkenntnisse, die einerseits geschichtswissenschaftlich, andererseits in der Denkmalpflegepraxis relevant sind. Dabei sind immer Orte im Spiel: seien sie in ihrer Bedeutsamkeit erst noch zu erforschen oder seien sie in der Denkmalpflegepraxis akut, avant la lettre zu berücksichtigen. Dass Orte und Bauten ge- und missbraucht werden, ist nun nichts Neues und verbindet Vergangenheit und Gegenwart seit jeher. An zwei Beispielen sei erläutert, dass die schwierigen Aufgaben nicht im Vergessen und dem Vergegenwärtigen liegen, sondern in den Grauzonen dazwischen, die derzeit ignoriert werden.

Diskussion am 26. Februar 2024 an der AdK Berlin: Rekonstruktion als identitätsstiftendes Thema ist nicht neu, wird aber immer wieder Blickwinkel historischen Bewusstseins offenbaren. (Bild: Ursula Baus)

Diskussion am 26. Februar 2024 an der AdK Berlin: Rekonstruktion als identitätsstiftendes Thema ist nicht neu, wird aber immer wieder neue Blickwinkel historischen Bewusstseins offenbaren. Von links: Aleida Assmann (zugeschaltet), Philipp Oswalt, Max Czollek, Harald Bodenschatz, Johanna M. Keller | Moderatorin. (Bild: Ursula Baus)

Schuld und Stolz

An der Akademie der Künste in Berlin saßen am 26. Februar 2024 kenntnisreiche Persönlichkeiten beieinander, um die Rekonstruktion von Architektur im Sinne des „Bauens am nationalen Haus“ zu hinterfragen.1) Nun füllt die Rekonstruktionsthematik bereits Zeitschriften, Bücher und Regale, sodass man dazu kaum etwas Neues erwarten durfte. Eher schon, dass die politischen Aspekte des Rekonstruierens aus der Gegenwartsperspektive angesprochen werden. So war es vor allem die zugeschaltete Aleida Assmann, die allgemein zur Erinnerungskultur die Motivationen Schuld – aus den nationalsozialistischen Verbrechen – und Stolz – neuerdings auf nationalistisches Bewusstsein bezogen – erwähnte. Max Czollek als Vertreter einer (geschichts-)kulturbewussten Minderheit in der jüngeren Generation fasste den Abend mit einer schlichten, aber erhellenden Frage zusammen. Er frage sich schon, was für eine Gesellschaft es sei, die sich ein „Schloss“ mit historisierenden Fassaden baue – eine berechtigte Frage im Kontext dessen, dass der Förderverein Berliner Schloss gut vernetzt ist, auch mit Vertretern rechter bis rechtsextremer Positionen, wie es Philipp Oswalt recherchiert hat.2)

Berliner Skyline-Kulisse mit Rekonstruiertem (Schloss beziehungsweise Humboldt-Forum) und kulissenhaft Simuliertem (Bauakademie). (Bild: Wilfried Dechau)

Berliner Skyline-Kulisse mit Rekonstruiertem (Schloss beziehungsweise Humboldt-Forum) und kulissenhaft Simuliertem (Bauakademie). (Bild: Wilfried Dechau)

Harald Bodenschatz forderte sachliche Debatten darüber, wo Abgrenzungen zu nicht mehr zu rechtfertigenden Positionen sein müssen und was im Rahmen eines pluralistischen Spektrums zu tolerieren sei. Erst Stimmen aus dem Publikum – unter anderem des Architekturhistorikers Adrian von Buttlar und des Tagesspiegel-Autors Bernhard Schulz – erinnerten daran, welche Vorgeschichte zum Humboldt Forum gehört, welche politische Motivationen den Abriss vom DDR-Außenministerium und vom Palast der Republik erwirkten.3) Im Ganzen kam kaum etwas Neues zum Thema Rekonstruktion zur Sprache, doch umso wichtiger erwies sich die von Aleida Assmann angesprochene Aktualität der Erinnerungskultur zwischen Schuld und Stolz, die Ansatzpunkte für weitere Architekturthemen liefert.

„Dissonant Monuments and Sites“

Plakat der Uni Kassel Copyright

Plakat-Ausschnitt, entworfen an der Universität Kassel (Copyright: Fachgebiet Städtebau, Julia Webersinn)

Denn in diesem Kontext ist eine Studienarbeit der Universität Kassel, Fachgebiet Städtebau (Stefan Rettich) zu sehen.4) Dort knüpft ein Seminar an den Denkmalpfleger Norbert Huse (1941-2013) mit seinem Thema der „unbequemen Denkmale“ an, das dieser Ende der 1980er Jahre aufgeworfen hatte.5) „Deutschmale“ ist nun der Titel des Kasseler Seminars, in dem „Dissonant Heritage“, „Nuclear Heritage“ und mehr oder weniger problematische Erinnerungen und dazugehörende Orte untersucht werden. Das auch eingedenk der Tatsache, dass die Zeitzeugen natürlich sterben und dass die „Oral History“ an dieser Stelle zu relativieren ist.

European Dissonant Hertige – kartiert. (Bild: BBSR)

European Dissonant Heritage – kartiert. (Bild: BBSR)

Orte aber bleiben – sofern sie bleiben können. RAF- oder NSU-Tatorte, aber auch der Hambacher Forst, in dem für Klimaschutz demonstriert wurde, oder die Mutlanger Heide gehören dazu, wo in den 1980er Jahren die Friedensbewegung gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen der US Army agierte. Wir wissen es: Orte, an denen sich historisch Bedeutsames ereignet, geraten allzu schnell in Vergessenheit und/oder werden bewusst zerstört. Wie zum Beispiel die JVA in Stuttgart-Stammheim, das 1963 fertiggestellte, damals modernste Gefängnis der Bundesrepublik. In der JVA fanden die Baader-Meinhof-Prozesse statt, 2022 wurde beschlossen, dass sie dem Neubau eines Justizkrankenhauses weichen muss. Die Orte, an denen RAF und NSU Verbrechen begingen, die Orte, an denen Fremdenfeindliche mit Gewalt und Feuersbrünsten gegen Geflüchtete vorgingen, gilt es im öffentlichen Gedächtnis und damit im Wissen über Geschichte zu halten. Das ist die Aufgabe der Denkmalpflege, die angesichts teils fahrlässiger, teils ignoranter Ortszerstörungen schneller reagieren muss als bisher. Hinkt sie schon beim Schutz der Nachkriegsmoderne und generell der Architektur des 20. Jahrhunderts hinterher, zeichnet sich hier eine weitere Einflusslücke ab. Die Probleme sind bekannt. So sei an eine ICOMOS-Konferenz erinnert, die sich 2021 dem „Dissonant Heritage“ widmete,6) zudem sei das Projekt „Integrated approaches to Dissonant Heritage in Europe“ des BBSR erwähnt.7)

Tatorte der RAF (Bild: Universität Kassel)

Tatorte der RAF (Plakat, entworfen an der Universität Kassel, Copyright: Fachgebiet Städtebau, Julia Webersinn)

Wie deutet man den Alltag?

Geschichtsunterricht ist in den letzten Jahren immer mehr zugunsten von wirtschaftsrelevanten Lehrfächern (MINT) reduziert worden. Mit dem Ergebnis, dass junge Menschen unverschuldet von Geschichte außerordentlich wenig wissen. Es geht ja nicht allein um Erinnerungskultur, sondern ganz erheblich darum, dass Geschichte als geisteswissenschaftliche Disziplin erkenntnistheoretisch und methodisch fundiert werden muss – und das so entstehende Fundament immer wieder ins Wackeln kommt. Wer weiß das noch im Kontext schnell aufeinander folgender politischer Systemwechsel?8)

Unabhängig davon sind Orte, an denen Geschichte anschaulich vermittelt wird, umso wichtiger, was Auswirkungen auf die Denkmaldiskurse haben muss. Und immer wieder ist einzufordern, dass die Denkmalpflege in ihrer Macht gestärkt wird. Die Denkmalpflege wächst zunehmend in geschichtsdidaktische Aufgaben hinein, die in ihren Wirkungen neu auszuloten sind. Schulklassen sollten nicht nur nach Versailles oder Auschwitz reisen, sondern lernen können, ihre gebaute Umwelt als Quellen des Geschichtswissens selbst zu erkennen und zu lesen. Es wird deswegen auch darauf ankommen, Architektur besser, das heißt schneller und effizienter dem Zugriff ökonomischer Interessen – letztlich dem Markt – zu entziehen. Das ist seit langem Aufgabe der Denkmalpflege, deren 1975 gewachsene Flügel aber immer weiter gestutzt werden.

Tatorte von Rechtsextremen (Bild: Universität Kassel)

Tatorte von Rechtsextremen (Plakat, entworfen an der Universität Kassel, Copyright: Fachgebiet Städtebau, Leander Feiertag)

Die Hölle der Lebenden

Das Kasseler Semesterprojekt zeigt, dass ArchitektInnen inzwischen wachsendes Interesse an der Bedeutung von Orten und ihrem Erhaltungswert haben, weil Orte als analoge Wissensquellen gelten können. Von einer breiten Bewegung kann man – leider – noch nicht reden, denn zu viele ArchitektInnen wandeln auf den alten, marktkonform auf Neubau kaprizierten Berufswegen. Sensibilität für die Deutung alltäglicher Umgebungen entwickelt sich nicht von selbst, sie bedarf der Schulung und einer Bewertungsdiskussion, deren Grundlagen immer wieder neu auszuhandeln sind. Das erinnert natürlich gleich an die „Hölle der Lebenden“9), zu deren Teil man werden kann – oder der man etwas entgegen setzen möchte. Architektur und Orte werden deswegen zu Erkenntnisquellen, die dem digitalen Nirwana immer mehr entgegensetzen können. Man muss sie allerdings erkennen und erhalten.


1) Nachzuhören hier: http://schlossdebatte.de/

3) siehe Beitrag Politik und Pathos

5) Norbert Huse. Unbequeme Denkmale. In: Mörsch, Georg; Strobel, Richard (Hrsgg.): Die Denkmalpflege als Plage und Frage. Berlin 1989, Seite 96–101

6) „In Restauro: Post-war Heritage of Art and Architecture in Cenral an Eastern Europe. Integrated Approaches to Dissonant Monuments and Sites. 22.-23. Juli 2021, dokumentiert 2023: https://www.icomos.de/data/pdf/icomos-inrestauro-2023-0905-0755-08.pdf

8) 1998 wurde die „International Oral History Association“ gegründet.

9) Italo Calvino: Die unsichtbaren Städte. Ital. 1972, dt. 1977