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Prof. Dr.-Ing. Günther Uhlig – oder GU, wie er selbst zeichnete – war immer unterwegs. Ohne Titel und ohne Visitenkarte, aber nie ohne ein paar druckfrische Bücher, auf die man zu Recht neugierig schielte. Diese Bücher spiegelten seine breite Interessen und eine spannende Auswahl an Beiträgen unterschiedlichster Disziplinen. Auf Nachfrage gab er kurze Kommentare oder begeisterte Statements, aus denen man schließen konnte, ob dieses Buch oder jenes Thema künftig den akademischen Diskurs oder die gesellschaftspolitischen Debatten prägen wird. Schließlich lebt die Stadt von der Neugier.

Günther Uhlig im Jahr 2000 (Bild: Leo Schenk)

Günther Uhlig, geboren 1937 in Königsberg an der Eger, hat Architektur, Städtebau und Sozialwissenschaften an der TH München, der TU Berlin und FU Berlin studiert und als freier Mitarbeiter in Architekturbüros in Paris und Berlin, unter anderem bei Georg Heinrichs gearbeitet. In den 1970er Jahren war er wissenschaftlicher Assistent im interdisziplinär zusammengesetzten Assistentenpool der RWTH Aachen am Lehrstuhl für Planungstheorie bei Gerhard Fehl, wo er zum Thema Kollektivmodell – Einküchenhaus promovierte. Zurück in Berlin arbeitete Günther Uhlig als Berater des Senators für Bau- und Wohnungswesen und übernahm danach die Leitung der Programmentwicklung der Internationalen Bauausstellung in Berlin. Den Lehrstuhl für Wohnungsbau, Siedlungswesen und Entwerfen an der Universität (TH) Karlsruhe leitete er von 1984 bis 2003. Parallel dazu gründete er das Büro für Stadtforschung, Planung und Architektur in Karlsruhe. Günter Uhlig kam bereits 1974 als Redaktionsmitglied zu ARCH+ in Aachen und war von 1984 an Mitherausgeber der Zeitschrift für Architektur und Städtebau.

Günther Uhlig 2014 (Bild: Jan A. Wolff)

Günther Uhlig 2014 (Bild: Jan A. Wolff)

Ein zentrales Thema für ihn war die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Kontext der Moderne und ihren inneren Widersprüchen. Er folgte gern Walter Benjamin und den frühen Befreiungsschlägen, doch er hinterfragte die Dialektik von kulturellem Anspruch und stadtfeindlichen Rationalisierungen der Nachkriegsmoderne. Günther Uhlig war immer auf der Suche nach Weichenstellungen der Moderne und Alternativen für das Wohnen. In der Gewissheit, dass die Geschichte nicht linear zu beschreiben ist, und Entwicklungslinien unterbrochen, abgerissen und nicht weiterverfolgt werden, arbeitete er zur Wohnungsreform im 19. und 20. Jahrhundert und suchte beispielsweise im Pariser Süden bei Candilis, in London in den Entwicklungen in Lillington und Islington oder in dänischen Beispielen des Siedlungsbaus nach alternativen Vorbildern und Referenzen.

Mit dem Ökonom Klaus Novy forschte er zu der Genossenschaftsbewegung und der Wiener Siedlerbewegung. Ihre gemeinsame Ausstellung Siedlerbewegung im Roten Wien im Bücherbogen am Berliner Savignyplatz wurde von einem Themenheft der ARCH+ begleitet. 35 Jahre später wurde die Ausstellung im Rahmen eines Reenactments im ARCH+ Studio 2016 mit Verena von Beckerath, Beatrix Novy und Günther Uhlig neu präsentiert und damit nachdrücklich die Aktualität der Frage belegt, wie aus Eigeninitiative und Selbsthilfe der Prozess gesellschaftlicher Veränderung initiiert werden kann.

Gemeinsam mit seinem Kollegen und Freund Nikolaus Kuhnert war er auf der Suche nach Wegen aus dem spätfunktionalistischen Wohnungsbau und nach der Wiedergewinnung städtische Qualitäten. Ihr maßgeblicher Beitrag zum Memorandum, das später von der IBA aufgegriffen wurde, zitiert Hannah Arendt zur verschwundenen Öffentlichkeit und beschreibt Öffentlichkeit als Raum, der jenseits seiner wirtschaftlichen und städtischen Funktionen den sozialen Rahmen für öffentliches Verhalten setzt. Dieses Verständnis von Öffentlichkeit hat er selbst gelebt: Er war diskussionsfreudig, aber immer ausgesprochen höflich, nie ins Private abschweifend, aber immer interessiert und neugierig auf andere Positionen und Lebensweisen.

Sein Lehrstuhl für Wohnungsbau, Siedlungswesen und Entwerfen an der Universität (TH) Karlsruhe war ein anderer Ort: mit offenen Türen für die Studierenden und mit vielen spannenden Gästen, mit gesellschaftspolitischen Themen und Diskussionen (allen voran mit Marc Fester),
mit der wunderbaren Bibliothek, in der es immer einen Kaffee und die Zeit für ein Gespräch gab.
Mit dem Mut zum pädagogischen Experiment war Günther Uhlig als Hochschullehrer mindestens so neugierig wie seine Studierenden und sein Team. Günther Uhlig hörte dabei sehr aufmerksam zu und stellte genau die richtigen Fragen.

Günther Uhlig (Bild: Leo Schenk)

Günther Uhlig (Bild: Leo Schenk)

Seine Vorlesungen waren spannend, seine Kurzvorträge und Statements aus dem Stegreif unvergesslich. Günter Uhlig war ein umsichtiger Denker und brillanter Analytiker. Mit großer Präzision und bildreicher Sprache konnte er Städte beschreiben, Entwicklungen und Zusammenhänge in der Stadtentwicklung und im Wohnungsbau erklären und neue Konzepte und Planungstheorien erschließen. Seine Überzeugung, dass es unterschiedliche Ebenen gleichzeitig und nebeneinander zu denken gilt, schien dabei immer auf. Und mit einem Augenzwinkern stellte er fest, dass wohl die Stadt weniger in der Krise sei als unsere Theorien.

Wer so voran denken und seine Gedanken fliegen lassen kann, ist schwer zu fassen. Auch wenn GU mit schneller Feder seitenlange Texte in einer Nacht auf das Papier bringen konnte, ohne auch nur ein einziges Wort korrigieren zu müssen, hat er leider nur wenige Vorträge schriftlich verfasst. Zwischen Buchdeckeln eingefangen wurde allenfalls, was als Beitrag oder Dokumentation beauftragt war. Er hat viele wichtige Prozesse initiiert, wie beispielsweise die 3. Regionalkonferenz und den internationalen Teamwettbewerb zum Südraum Leipzig, für den er namhafte Kollegen aus aller Welt nach Deutschland holte, um die Diskussion um Zukunftsperspektiven für die Region zu starten. Auch hat er sein umfangreiches Wissen als Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des IRS Leibniz Institut für Raumbezogene Sozialforschung eingebracht. Zudem hat er zahlreiche einflussreiche Positionen bekleidet, wie z.B. die Leitung des Deutschen Werkbundes Baden-Württemberg e.V., oder als Vertreter und später als Präsident der deutschen Hochschullehrer im Beratenden Ausschuss bei der Europäischen Kommission in Brüssel. Er hat viele Weichen in seinem Umfeld und für seine Wegbegleiter gestellt. Dabei hat er sich nie als freier Denker einbinden oder einspannen lassen. An seinem eigenen Denkmal hatte er kein Interesse. Der Blick zurück galt allenfalls der Spurensuche für neue Perspektiven für das Wohnen und die Stadt. Und das passte zu seiner Überzeugung, dass es keine einfachen Wahrheiten gibt, und wir uns immer wieder neu auf die Suche nach Verständnisebenen begeben müssen, um zu fragen, welche Zielsetzungen wir als Kollektiv und als Individuum verfolgen wollen.

Das Fest, mit dem Günther Uhlig und Markus Neppl gemeinsam die Übergabe des Lehrstuhls gefeiert haben, belegte einmal mehr, mit welcher Leichtigkeit er seine Wege beschritten hat. GU ging nicht in den Ruhestand, sondern als leitender Redakteur nach Mailand zu Domus, als Mentor in Graduiertenkollegs und als Lehrbeauftragter an verschiedene Universitäten. Die neue Generation von Studierenden hat dabei sicherlich nicht schlecht über die umfangreichen Literaturempfehlungen gestaunt. Als ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Karlsruher Zeit hat es uns nicht verwundert, dass, kaum aus der Tür getreten, an der nächsten Ecke schon neue Themen und Aufgaben auf ihn warteten.

Seinem 80. Geburtstag haben wir im Kreis seiner ehemaligen Karlsruher Mitarbeiter mit Blick auf den Rhein gefeiert. Der Rhein war Thema des von ihm initiierten Rheinkollegs des DWB, das Bindeglied zwischen den Architekturhochschulen in Karlsruhe und Straßburg, und auch die Verbindung von Karlsruhe nach Köln, wo Günther Uhlig in den letzten Jahren lebte. Dieser große Mann hat uns geprägt und verbunden. Er hat in unserem Leben Spuren hinterlassen. Günther Uhlig ist am 19. November 2021 in Köln verstorben. Es bleibt unsere große und tief empfundene Wertschätzung für Günther Uhlig und unsere Dankbarkeit. Vielen Dank für alles!