Man muss gelegentlich innehalten, wenn Fronten sich verhärten, Unfug und Schmähungen verkündet werden und in „social medias“ schändliche Aufrufe zu sinnloser Gewalt an der Tagesordnung sind. Und sich bessere Zeiten vergegenwärtigen, auch, um Schuldzuweisungen an Vorgänger zu hinterfragen. Hieß es in den 1960er Jahren „Wandel durch Handel“, mag das, was draus gemacht wurde, teils schief gelaufen sein. Wenn heute „Handel ohne Wandel“ festzustellen ist, dann manifestiert sich darin nun eine unsägliche Dominanz des uneingeschränkten Kapitalismus, die auch unsere Dörfer, Städte und Landschaften ruiniert. Zusammen mit derzeitigen Kriegszerstörungen sind unvorstellbare Verluste an Menschen, Häusern, Städte, Kulturlandschaften zu beklagen. Es ginge auch anders.
„Wir müssen daher auf der Suche nach Frieden ausdauernd bleiben, in der Hoffnung, dass konstruktive Veränderungen innerhalb des kommunistischen Blocks Lösungen in Reichweite bringen könnten, die heute noch unerreichbar scheinen. Wir müssen unsere Politik so betreiben, dass es schließlich das eigene Interesse der Kommunisten wird, einem echten Frieden zuzustimmen. Vor allem müssen die Atommächte, bei gleichzeitiger Wahrung ihrer eigenen Lebensinteressen, solche Konfrontationen vermeiden, die einem Gegner nur die Wahl zwischen einem demütigenden Rückzug oder einem Atomkrieg lassen. Wenn man im Atomzeitalter den letzteren Kurs einschlagen wollte, dann wäre dies nur der Beweis für den Bankrott unserer Politik – oder den kollektiven Todeswunsch für die Welt.“ Wer sagt das? Sarah Wagenknecht? Ein anderer, der sich als „Putin-Versteher“ beschimpfen lassen muss?
Nein, so äußerte sich John F. Kennedy 1963 in seiner „Peace Speech“ an der Universität in Washington.1) Wenn in der Bundespolitik oder im geeinten Europa doch nur ansatzweise ein dermaßen überzeugendes Friedenskonzept zu erkennen wäre, wie es vor sechs Jahrzehnten von einem mutigen, idealistischen, jungen amerikanischen Präsidenten vorgestellt worden ist.
Handel im Dienst des Friedens
Dem herausragenden SPD-Politiker Egon Bahr (1922-2014) ist das Motto „Wandel durch Handel“ zu danken, dem eine Kennedys Appell entsprechende, friedensorientierte Annäherung verfeindeter Länder zugrunde liegt. Egon Bahr hatte diese Formel ebenfalls 1963 in einer Rede in Tutzing im Kontext einer neuen Ostpolitik bekannt gemacht.2) Durch Handelsbeziehungen entstehen, so die Idee, Beziehungen vielfältiger Art, die im weitesten Sinne friedliche Koexistenzen mit sich bringen. Tatsächlich mauserte sich die Bundesrepublik zu einem Exportweltmeister mit vielen Handelsbeziehungen in alle Welt, wovon „Wohlstand“, Bildung und wunderbare kulturelle, internationale Austauschprogramme, auch die Stärkung der Goethe-Institute resultierten. Der Export sicherte der Bundesrepublik Wohlstand, in dem zunächst Bildung und Aufstiegschancen gleichermaßen wie Konsum zu fassen waren. Meine „Babyboomer“-Generation erlebte das Wirtschaftswunder-Geschwafel, zog in die heute auf Bewohnerschaft wartenden Einfamilienhäuser, begeisterte sich aber auch tatsächlich für technischen und humanistischen Fortschritt um seiner selbst willen; für Grundlagen- und Weltraumforschung, sozioökonomische Redlichkeit. Um es kurz zu machen: Unternehmen brüsteten sich zurecht mit exzellenten Erfindungen und hochwertigen Produkten „made in Germany“, vom Radio bis zum Auto. Intellektuelle nahmen Einfluss auf Politiker, die wenigstens noch wussten, was Intellektuelle sind. Adornos Kapitalismuskritik in den Minima Moralia von 1951 erreichte eine hohe öffentliche Wirkung. Dürfte heute gern in die Schullektüren aufgenommen werden, auf jeden Fall Pflichtlektüre für Wirtschaftsstudierende sein.
Schwarze Schafe gab es immer, die sich mehr damit brüsteten, keinen Pfennig Steuern zu zahlen. Der internationale Handel war in Bahrs Motto jedoch ethisch konnotiert. Und aus dem Wirtschaftswunderland ist eine Wegwerfgesellschaft geworden, die vor wertvollen, denkmalgeschützten und beliebten Gebäuden nicht halt macht.
Wenn sich heute zeigt, dass die Annäherung an Russland nicht gefruchtet hat, dann heißt das nicht, dass dieses Motto falsch war und ein für alle Male erledigt ist. Es enthebt dies den Handel auch nicht seiner grundsätzlichen ethischen Rahmenbedingungen. Schließlich gab es Michail Gorbatschow; wir konnten russische Städte und Architektur und russische KollegInnen kennenlernen. Und schließlich gab es die deutsche Wiedervereinigung – und für Jeden ganz schnell 100 Mark zum Ausgeben.
Handel ohne Wandel
Die heutige Abhängigkeit der deutschen Exportwirtschaft von irgendwo vorhandenen Rohstoffen, Energie und Bauteilen, von Waren aus Billigländern, weltpolitischen Entwicklungen und vielem mehr rächt sich bitter. So muss Wirtschaftsminister Habeck Bücklinge in Katar machen, Kanzler Scholz fährt nach Serbien, wo es Lithium gibt. Die Abhängigkeit offenbart daneben krasse unternehmerische Fehler: Wieso hat „Volkswagen“ nicht längst ein günstiges E-Volkswägelchen im Angebot? Während BMW konsequent auf Neues setzt? Jetzt drängen die Chinesen mit ihrem Können und ihren Autos auf die Weltmärkte, in denen die deutsche Autoindustrie die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Sofort eilt Robert Habeck nach Niedersachsen, um dem VW-Konzern mit unseren Steuergeldern unter die Arme zu greifen? Sofort weist man die Chinesen mit Zöllen in ihre Schranken? Man fasst es nicht!
Die deutsche Autoindustrie hat im 20. Jahrhundert mit passablen Autos großartig verdient, aber die Autos immer fetter und schwerer und stadt- und umweltschädigender gebaut, damit die Gewinnmargen steigen. Öffentlich kritisiert wurde sie dabei von Intellektuellen, die gegenwärtig aber eine Randerscheinung bilden, wenn es um Einfluss auf die Politik geht; die leiht ihr Ohr lieber Lobbyisten.
Die Autoindustrie verpennte den Einstieg in die Mobilität des 21. Jahrhunderts und hält jetzt einfach beim Staat die Hand auf. Genauer gesagt, erpresst sie ihn mit den sattsam bekannten Drohkulissen der abgeschafften Arbeitsplätze. Statt Subventionen zu streichen, um damit öffentliche Bauten wie Universitäten und Schulen in Ordnung zu halten, werden Milliarden neue Subventionen in schlecht gemanagte Unternehmen den Haushalt belasten. Habeck springt in Wolfsburg auf einen uralten Klappergaul – dabei liegt die Verantwortung für unternehmerischen Erfolg einzig und allein bei den Unternehmen. Nicht beim Steuerzahler. VW handelte und kassierte Gewinne – gewandelt hat sich das Unternehmen weder schnell noch weitsichtig genug.
Um auch eine andere Branche zu nennen: Dem Management der Meyer Werft, die auf staatliche Gelder spekulieren kann, sind laut FAZ „haarsträubende Fehler“ vorzuwerfen. Und der Staat soll’s nun richten?3) Wie schlecht es um die Wirtschaftsinnovationen, also einen Wandel beim Handel bestellt ist, hat nun just Mario Draghi in seinem Bericht zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit klargestellt.4)
Es rächt sich zudem, dass die EU nicht als humanistisch-pazifistisches Projekt startete, sondern 1957 als EWG, als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande und der Bundesrepublik. Erst 1992 folgte die Umbenennung in EG durch den Maastricht-Vertrag, 2009 folgte die integrierende Neugründung der EU im Vertrag von Lissabon. Die Binnengrenzen fielen infolge des Schengener Abkommens weg.5) Der Euro wurde 1999 als Buchgeld, 2002 als Bargeld eingeführt. Diese Auflistung macht unverkennbar klar‚ wieviel Mühen auf eine europäische Aussöhnung, europäisches Recht, europäisches Geld verwendet werden musste. Wie leichtfertig die europäische Einigung vielerorts aufs Spiel gesetzt wird, lässt schaudern.
Denn beobachten wir dieser Tage eine panische Renationalisierung in Europa, scheint niemand zu begreifen, was auf dem Spiel steht. Erst werden die Grenzen kontrolliert, dann ist es eine Frage der Zeit, bis sie geschlossen sind. Für die räumliche Erfahrung und Gestaltung unseres gebauten und natürlichen Umfeldes sind Grenzerfahrung essenziell. Mehr noch: Sie führen zu einer transnationalen Identität, wie sie für die Architektur beim diesjährigen Werkbundtag am 2. Oktober im Saarbrücker Pingusson-Bau thematisiert wird.6)
Die Jüngeren wissen nicht mehr, wie das war mit den Grenzkontrollen. Und in der ehemaligen DDR haben viele Menschen offenbar sehr schnell vergessen, was es heißt, in nationalen Grenzen eingesperrt zu sein.
Geldhandel
An den Grenzen mussten wir Geld umtauschen. Und apropos Geld: Darum ging es in der EWG, später in den globalisierten Märkten. Das Geld kam und kommt völlig mühelos über nationale und politsystemische Grenzen. Der Finanzmarkt, der kaum einen anderen Zweck hat, als im wesentlichen mit geringstem Aufwand aus Geld noch mehr Geld zu machen, dominiert nahezu das gesamte Bauwesen weltweit. Es wird mit global gemanagten Krediten finanziert, und von globalen Investitionsmächten werden die Renditen vorgeschrieben.7) Es ist der Immobilienmarkt, dem mehr und mehr Aufmerksamkeit zuteil wird und der die Baukultur zum „nice to have“ degradiert. In diesen Geldhandels-Szenarien ist ein Wandel hin zu sozialökologisch ausgerichteter Baukultur – die auch das Nichtbauen propagieren muss – nicht zu erkennen. Alles nicht neu – aber es muss nicht so bleiben. Am Rande sei hier auf eine Bauaufgabe hingewiesen, die einem Verwertungszwang bislang entzogen war: Kirchen. Sie haben einen religiösen, zugleich sozialen Zweck, bieten freien Eintritt und gehören zu den Höchstleistungen der Architekturgeschichte.8) Paradigmatisch stellt sich hier das Problem, hochwertige Bauten adäquat, das heißt gemeinnützig umzufunktionieren und umzubauen.
Geldmangel
Welche Folgen Handel ohne Wandel für das Gemeinwesen hat, sprechen wir immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven an. Die hier benannten friedens-, kultur- und sozialpolitischen Aspekte beeinflussen unmittelbar Stadt-, Architektur- und Infrastruktur-Entwicklungen. Am deutlichsten im Handel mit bebaubarem Grund und Boden.
Um an solchen Missständen etwas zu ändern, bedarf es politischer Macht und einer Wirtschaftskompetenz, die systemkritisch zu argumentieren weiß. In einer Finanzanlage-Beilage der FAZ am 22.9.24 äußerte sich ein Experte zum „ungenutzten Potenzial des Zinseszinses“, das, so darf man einschränken, nur nutzen kann, wenn man erkleckliche Rücklagen hat. Der Experte fordert „finanzielle Bildung“ und erläutert: „Es ist wichtig, die Mechanismen der Geldvermehrung zu kennen und die Werkzeuge zu suchen, mit denen Sie diese nutzen können.“ 9) Genau diesem Mechanismus könnte man ja den Riegel vorschieben, weil man ihn systemkritisch mit einer Geldvermehrungsstrategie nicht einverstanden ist. Gerade in Wirtschaftswissenschaften wird viel zu selten über Systemgrenzen hinausgedacht. Leider.
1) Es lohnt sich, die 30-minütige Rede anzuhören: „Peace Speech“ des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy 1963 an der American University in Washington D.C., | http://john-f-kennedy.info/reden/1963/american-university/ | anzuhören bei Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=0fkKnfk4k40&t=6s
2) Jörg Lau: Wandel durch Handel. In: Internationale Politik, 1.9.2021 (https://internationalepolitik.de/de/wandel-durch-handel-0)
3) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 9. 2024
5) Ausführlicher erläutert auf der Seite des Auswärtigen Amtes (https://www.auswaertiges-amt.de/de/service/visa-und-aufenthalt/schengen/207786#content_0); Zuletzt traten Bulgarien und Rumänien Ende März 2024 dem Schengen-Raum bei.
6) https://www.deutscher-werkbund.de/werkbundtag-2024-in-saarbruecken-ueberformen-ueber-grenzen-transformations-transfrontaliere/
8) siehe dazu Ralf Meister, Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, im Vortrag auf dem Konvent der Bundesstiftung Baukultur 2024 (https://vimeo.com/1005742348, ab Minute 31:00)
9) FAZ-Beilage, 22.9.24