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Ein Schatz deutschsprachiger Architekturkritik ist gehoben, alte Gewissheiten wie die Relevanz des architekturgeschichtlichen Kanons werden historisiert, aber nicht aufgelöst – die Theorie kommt nicht recht vom Fleck. Drei Bücher werfen dennoch erhellendes Licht darauf, welche Aufgaben für die Geisteswissenschaften anstehen.


Daniel Funke (Hrsg.): Hermann Funke. Architekturkritiken 1962–2003. 354 Seiten, adocs, Hamburg 2022, ISBN 9783943253573, 26 Euro

Daniel Funke (Hrsg.): Hermann Funke. Architekturkritiken 1962–2003. 354 Seiten,
adocs, Hamburg 2022, ISBN 9783943253573, 26 Euro

Beobachtungsschärfen

Viele Leserinnen werden Hermann Funke nicht kennen, denn die Beiträge des 1932 geborenen Hamburgers erschienen in der Zeit (1962–69; 1980–86), im Spiegel (1970/71) und zuletzt in der Jungle World (2003) und sind über einschlägige Suchmaschinen nicht zu finden. Funke studierte an der TU Braunschweig Architektur und promovierte ebenda zum Thema „Bürogebäude + Bürobetrieb“, war Mitarbeiter am Lehrstuhl und im Büro von Friedrich Wilhelm Kraemer und danach im Hamburger Büro von Godber Nissen. Seit 1965 und bis 2002 war er freiberuflich als Architekt, Planer und Publizist in Hamburg tätig, 1970-1976 Deputierter der Hamburger Baudeputation. In Hamburg kamen die Kontakte zu Zeit und Spiegel zustande – namentlich sei hier Rudolf Walter Leonhard benannt, der als Feuilletonchef Funke Platz in der Zeit bot.1) Nun sind Funkes Kritiken, Rezensionen und Essays in einem Buch erschienen, das als Quelle zur Architektur- und Planungspraxis im Kontext von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft in der Nachkriegszeit eine sehr kenntnisreiche, lesenswerte und zudem unterhaltsame Lektüre bietet.
Ein paar Anmerkungen vorab zum Editorischen: Die These, „Anhand von Gebäuden die Geschichte, Gegenwart und Zukunft einer Gesellschaft abzulesen, hatte es in Deutschland vorher noch nicht gegeben“2), lässt in ihrer Normativität Hinweise auf die Geschichte der Architekturkritik vermissen. Es wäre auch hilfreich gewesen, wenn zu den von Hermann Funke besprochenen Bauten Hinweise auf Standort und Zustand ergänzt worden wären, um die aktuelle Relevanz der damaligen Kritiken zu verdeutlichen.
Doch nun zu Hermann Funkes Texten. Souverän gelingt es ihm, das Fachliche feuilletonfähig wiederzugeben, weit über Architektur und Planung hinaus Aspekte der Bauwirtschaft, der (provinziellen) Lokal- und (gesetzgebenden) Bundespolitik sowie der (scheinbar unausweichlichen) Gesellschaftsentwicklung anzusprechen. Und das in einer Erzählweise, die Leselust macht. Die Grundrisse von Scharouns Wohnhäusern „Romeo und Julia“ in Stuttgart nimmt er beispielsweise zum Anlass, die gewöhnlichen Wohnungsgrundrisse mit Küche, Kinder- und Elternzimmern als „gängiges Handlungsschema, bewacht vom Auge des Moralgesetzes“ zu geißeln, als „moralische Anstalt, als Darstellung einiger profaner Handlungen, die von uns erwartet werden“ (Die Zeit, 2. November 1962). Daran hat sich, muss man bitter feststellen, bis heute so gut wie nichts geändert, weil die Immobilienwirtschaft nichts riskiert und ihre Risikoscheu hinter dem dummen Argument „Die Leute wollen es so“ verbirgt. Ungewöhnliche, doch treffende Wörter finden sich in Funkes Kritiken zum Wohnen, wenn beispielsweise im Atriumhaus ein „Nachthemdflur“ entdeckt wird…
Es gibt kaum etwas, dem Funke keine Aufmerksamkeit schenkt. Im Kontext des Hochschulbaus schreibt er 1970: „Wenn sie meinen, das Bauen müsse schneller gehen, haben die Politiker so unrecht nicht. Ihr Fehler ist nur, daß sie dort, wo sie selbst etwas erreichen könnten, in den Verwaltungen, Mißwirtschaft schlimmster Art treiben, Zeit, Geld und den guten Willen von Beamten sinnlos verplempern“. Stimmt heute noch!
Es war Funke auch gelungen, einer breiten Leserschaft Bücher zu empfehlen – bedeutende Werke von Jane Jacobs, Leonardo Benevolo und Siegfried Giedion. Und auch in der Einschätzung grundsätzlicher Entwicklungen zeigt sich Funkes Beobachtungsschärfe, welche die Voraussetzung für gute Kritik ist. Im April 1963 widmet er sich „Knaurs Lexikon der Modernen Architektur“, das gerade im Hatje Verlag erschienen war, um drei „Symptome“ in der öffentlichen Auseinandersetzung mit Architektur zu benennen: das Starsymptom, das Stilsymptom und das Photosymptom.
Nebenbei bleibt festzuhalten, dass Architekturkritik zur damaligen Zeit ein Anliegen öffentlichen Interesses gewesen ist. Davon lässt sich heute so gut wie nichts mehr finden, „neue“ und „soziale“ Medien verschatten die sortierenden Aufgaben jener Medien, die keine Auseinandersetzungsplattform mehr bilden.
Dass ein architekturgeschichtlicher Kanon stets hinterfragt werden muss, ist in wissenschaftlichem Kontext eine Selbstverständlichkeit. Vorsortieren als propädeutischer Zweck der Kritik ist eine Basis der Architekturgeschichtsschreibung, an deren (eurozentrischen) Fundamenten endlich gerüttelt wird. Doch solang keine global vergleichende Perspektive für die Architekturgeschichte definiert und global kritisch hinterfragt ist, bleibt der Erkenntnisgewinn dürftig.

Dietrich Erben: Humanität und gebaute Umwelt. Essays und Studien zur Architekturgeschichte. 346 Seiten, transcript Verlag, Bielefeld 2023, ISBN 978-3-8394-6443-4, 49 Euro

Dietrich Erben: Humanität und gebaute Umwelt. Essays und Studien zur Architekturgeschichte. 346 Seiten, transcript Verlag, Bielefeld 2023, ISBN 9783839464434, 49 Euro


Kanonisierte Geschichte und gebaute Umwelt

Eine Aufsatzsammlung, genauer: eine „bilanzierende Selbstverständigung des Autors“ steuert in diesem Kontext Dietrich Erben bei, der seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design der TU München ist. Mit seinem Schwerpunkt auf der weitgehend deutschsprachigen Fachliteratur und dem europäisch-amerikanischen Kontext klingt ein grundsätzliches Problem an, das globale Perspektiven und Vergleiche erschwert: die Sprache. Altgriechisch und Lateinisch, Englisch und Französisch und Italienisch zu können, darf man von Historikern und Theoretikern erwarten. Aber wer kann chinesische Architekturtheorie erschließen? Sich in japanische Geschichtstheorie vertiefen? Der Autor bleibt wie ein Schuster bei seinen Leisten und tut gut daran, zum Beispiel an Martin Warnkes politischer Ikonographie und „Überleitung zur Form“ anzuknüpfen, auch im Hinblick darauf, dass im SAGE Handbook of Architectural Theory „dekretiert“ wird, „architectural theory (finde) nur noch in englischer Sprache statt (Seite 97).3) Die Sprache ist und bleibt ein Problem der Geschichts- und Theoriewissenschaften – gerade daran könnte KI etwas ändern. Deutlich wird dann aber bei Dietrich Erben die Hinwendung zur Architekturanthropologie, mit der er die im Buchtitel erscheinende „Humanität“ erklärt.

Es ist kaum nachzuvollziehen, dass dafür eine „unverdrossene Zuversicht aller Architektinnen und Architekten“ bemüht wird, denen der Autor in den Mund legt: „Ich baue für den Menschen.“ (Seite 11). Damit geht er jenem immens großen Teil der Architektenschaft auf den Leim, die mit derart hilfloser Floskel eine Art Berufsehre vor sich hertragen. Die aber ist in einem sozioökonomisch dominanten Kapitalismus weitgehend abhanden gekommen. Denn die „gebaute Umwelt“ – ebenfalls Teil des Buchtitels – sieht denn doch ganz anders aus als die architekturgeschichtlich immer noch kanonisierte Auswahl des Gebauten. Dass dem längst fragwürdig gewordenen Kanon etwas Adäquates zur Seite gestellt werden muss, klingt leider nur hier und da an. Erbens Beiträge im Buch sind im übrigen bereits erschienen und hier nun „publikationsstrategisch“ zusammengeführt (Seite 9).

Jörg H. Gleiter: Architekturtheorie zur Einführung. 296 Seiten, Junius Verlag, Hamburg 2022, ISBN 9783960603245, 17,90 €

Jörg H. Gleiter: Architekturtheorie zur Einführung. 296 Seiten, Junius Verlag, Hamburg 2022, ISBN 9783960603245, 17,90 €


Begriffe und Tatsachen

Im Rahmen einer 1977 begonnenen Einführungs-Reihe des Junius-Verlags widmete sich nun Jörg H. Gleiter, seit 2012 Professor für Architekturtheorie an der TU Berlin der „Architekturtheorie zur Einführung“. Es gehe, so Jörg Gleiter im einleitenden Vorwort, nicht um eine Geschichte der Architekturtheorie, sondern um eine „grundbegriffliche Ordnung“. Architekturtheorie erläutert er als „jene Instanz, der die Aufgabe zukommt, neue Traditionen zu bilden, ältere zu verwerfen oder zu bestätigen“ (Seite 10). Wenige Seiten später definiert er: „Architekturtheorie ist die Form der kritischen Reflexion des Konzipiert-, Gemacht- und Wirksamwerdens der Architektur wie auch der Funktion der Architektur im größeren, sich dynamisch ändernden kulturellen Kräftefeld“ (Seite 13). [Kursivsetzung durch die Rezensentin]
In einer dann ausgeweiteten Definition der Architekturtheorie wird präzisiert: Theorie sei praxisbezogen, Praxis sei theoriebildend, Theorie sei zudem Wissenschaft (Seite 15).

Faktisch behandelt Jörg Gleiter dann durchaus bekannte Themen und Begriffe: Theoriesystematik (Theorie und Geschichte, Vitruv und Vitruvianismus bis Moderne), historische Systematik (Tradition und kritische Theorie), Zeichentheorie (weitgehend Semiotik), Phänomenologie (Atmosphäre, Aura, Einfühlung), Ornament, Sprachsysteme (Stil, Rhetorik), Formattribute (Tektonik und Erhabenes) und Ideen zum Raum (Körper und Zeit). Ähnlich wie bei Dietrich Erben findet die – unsere gebaute Umwelt bestimmende – Kraft nur wie eine Randnotiz eine Erwähnung. Im Nachwort schreibt Jörg Gleiter: „Was bleibt, das ist der Architekt. Man kann nicht anders, als Humanismus und Aufklärung und damit das kritische historische Wissen – die der Architektur verbliebenen, widerständigen Momente – gegen die instrumentelle Vernunft, gegen die Märkte und gegen die kulturellen Nivellierungen stark zu machen.“ (Seite 265). Um dann doch auf dem „historischen Gesamtzusammenhang“ des Nachdenkens über Architektur zu insistieren, dem er leider in dieser Einführung keine angemessene Aufmerksamkeit schenkt.

Denn in einem Moment, an dem sich weite Teile der Menschheit selbst abzuschaffen bereit scheinen, Wertesysteme europäischer Geisteskultur sich im medialen Schatten globaler Neuverteilung von Macht und Einfluss sang- und klanglos auflösen und die Folgen digitaler Entwicklungen noch nicht abzusehen sind, kann Architekturtheorie sich nicht in den benannten Begriffsfeldern erschöpfen. Hier schließt sich der Kreis zu Heinrich Wölfflin, den Gleiter selbst im Kontext der Kunstgeschichtsanalyse zitiert: Auf Architekturtheorie treffe zu, „dass nämlich die ‚begriffliche Forschung (…) mit der Tatsachenforschung nicht Schritt gehalten hat‘4).“


1) ZEIT online weist 26 Texte von Hermann Funke aus: https://www.buecher.de/shop/wohnungsbau/architekturkritiken/funke-hermann/products_products/detail/prod_id/64119460/

2) Laura Helena Wurth im Vorwort des besprochenen Buchs, Seite 6; siehe Klaus Jan Philipp: Zur Geschichte der Architekturkritik. Stuttgart 1996

3) Seite 97. C. Creig Crysler, Stephan Cairns, Hilde Heynen (Hrsg.): The SAGE Handbook of Architectural Theory. Los Angeles, 2012

4) Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. München 1917