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Wie entsteht Landschaft in unserem Kopf, welche Tiere leben in der Stadt, wie werden Freiräume der heutigen Gesellschaft gerecht? Drei Publikationen über das Draußen.

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Lucius Burckhardt: Anthologie Landschaft. Herausgegeben von Thomas Kissling. 997 Seiten, 1500 Abbildungen, 15 × 24 cm, 45 Euro
Lars Müller Publishers, Zürich, 2023

Es ist ein Schatz, den uns der Herausgeber Thomas Kissling und Lars Müller Publishers mit case studio Vogt bescheren: die Anthologie Landschaft ist ein Projekt von Lucius Burkhardt (1925–2003), das er zu seinen Lebzeiten nicht zur Publikationsreife gebracht hatte. Nun liegt es also unter dem Titel, unter dem es Burckhardt bereits angelegt hatte, vor. Es handelt sich um ein Konvolut von über hundert Texten (darunter auch einige wenige von Burckhardt selbst) auf fast 1000 Seiten, das uns nun, gegliedert in neun Kapitel und vier Exkurse, auf eine kultur- und geisteswissenschaftliche Reise mitnimmt. Diese Reise zeigt uns, was unser Bild von Landschaft prägt, wie sich die Vorstellung von Landschaft entwickelt hat und wie Landschaft konstruiert wird. Warum ist Landschaft schön?, hatte sich Burckhardt gefragt – und: „Wieso sehen wir überhaupt die Umwelt als Landschaft, und wann? Und wer sieht sie so?“

Diesen Fragen war Burckhardt zeitlebens nachgegangen, hatte darin abendländisches Denken, bürgerlichen Habitus, in der Landschaft ein Medium entdeckt, das es uns erlaubt, über Natur und Umwelt zu reden. Wie das Denken die Vorstellung von Landschaft und die Vorstellung von Landschaft das Denken prägt, wird in diesem Buch anschaulich. Es geht um das Schöne und um das Erhabene, um den Kampf mit der Natur und um Gartenkunst, um Künstlichkeit und um Natürlichkeit. Es finden sich Texte aus der Bibel und von Karl Marx, von Jean Jacques Rousseau und von Dante, von Goethe, Schiller, Heine, von Paul Klee und Leberecht Migge, Zeitungstexte, wissenschaftliche Texte, Märchen – und natürlich die Beschreibung Tahitis von Georg Forster, der James Cook auf seiner Reise in die Südsee begleitet hatte. Mit fast 50 Seiten ist dieser Text der längste, und er spielt – Burckhardt-Kenner wissen das – eine wichtige Rolle für den Schweizer, der in Kassel gelehrt hatte: Forsters Text ist die Basis für die „Reise nach Tahiti“, einem Experiment, in dem Burckhardt gezeigt hatte, wie sehr unsere Wahrnehmung von den Vorstellungen bestimmt ist und wie sehr Sprache uns dabei leitet, was wir in der und als Landschaft sehen.

Ergänzt um eine Auswahl aus Burckhardts Bildern – ähnlich assoziativ anregend wie die Textsammlung – , behutsam durch Annotationen für eine heutige Leserschaft eingeordnet, ist hier eine Sammlung zugänglich gemacht, die auch nach Jahrzehnten, seit sie angelegt worden ist, aktuell geblieben ist. Können wir doch die regionalen Verflechtungen, den Umgang mit dem Klimawandel, die Fragen nach einem anderen Umgang mit unserer Umwelt nicht beantworten, wenn wir unsere Vorstellung von dieser Umwelt nicht reflektieren. Dazu ist dieses Buch eine wunderbare Grundlage. Es öffnet einen Blick auf die Natur, wie wir ihn über Jahrhunderte erlernt haben. Und es ist, auch das sei angemerkt, der Blick des (gebildeten) Zentraleuropäers, mit wenigen Ausnahmen (Mark Twain, Henry David Thoreau) sind es Texte der Alten Welt. Keine japanische Naturbeschreibung, keine chinesische, keine persische oder arabische, keine Denise Scott Brown und kein John Brinckerhoff Jackson. Das zeigt, wie sehr es Burckhardt darum ging, die kulturgeschichtlich angeeignete Sicht zu untersuchen, wie sehr es ihm dabei um den Blick des Involvierten ging, um die eigene Erfahrung. Einen weiteren Hinweis hierzu gibt Thomas Kissling in der Einleitung, in der er darauf verweist, dass die Texte auch Teil der Lehre, eines Leseseminars waren, das dem Ziel verpflichtet gewesen sei, „Inhalte kritisch zu diskutieren, Zusammenhänge freizulegen und im Zuge dieses Prozesses primär verstehen zu wollen.“ Die Anthologie ist also auch eine Aufforderung, das Verstehenwollen über diese Anthologie auszudehnen und die Reise, die mit ihr begonnen wird, auf eigene Faust fortzusetzen. Gut ausgerüstet dafür ist man nun.



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Josef H. Reichholf: Stadtnatur. Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen 192 Seiten, 13 x 20,5 cm, 24 Euro
Oekom Verlag, München, 2023

Das Zusammenleben von Tieren, Pflanzen und Menschen in der Stadt bekommt seit einiger Zeit eine neue Art der Aufmerksamkeit. Architekturgalerien und -zeitschriften haben das Thema aus der Nische des ökologischen Milieus geholt. Dabei haftet dem neuen Blick auf den Lebensraum Stadt aber noch der Verdacht des Schwärmerischen an, das die Defizite einer von allerlei Technologien geprägten und bestimmten Lebensweise zu kompensieren sucht. Um dem zu begegnen, sei die Lektüre von Josef. H. Reichholfs kleiner Schrift über die Stadtnatur empfohlen. Der Naturschützer und Mitbegründer des Forschungsfelds Stadtökologie entfaltet in diesem Buch einen Blick auf die Biodiversität der Stadt, der selbst die überraschen dürfte, die dem Klischee der naturfeindlichen Stadt schon länger misstrauen.

Reichholf beschreibt die städtische Vielfalt an Tieren, die über das hinausgeht, was weithin bekannt ist. Füchse, Wildschweine, Wanderfalken – ja, aber auch Falter, Singvögel, Insekten. Er beschreibt die Wechselwirkungen zwischen Siedlungsform, der Stadt und deren Umland, zwischen Innenstadt und Stadträndern, aber auch zwischen Wild- und Haustieren, Katzen und vor allem Hunden und deren Hinterlassenschaften. Reichholf geht auf die Art der Pflege von Freiräumen und Gärten ein, darauf, wann Gebäude Tieren die Möglichkeiten bieten, sich in Gebäuden und in ihrem Umfeld anzusiedeln. Die Vielfalt, so konstatiert Reichholft, geht weit über das hinaus, was in den freien, landwirtschaftlich genutzten Flächen vorzufinden ist. Dass dies auch damit zusammenhängt, dass auch in den Städten viel mehr als noch vor Jahren und Jahrzehnten für den Naturschutz getan wird, Wiesen blühen dürfen, Gewässer anders angelegt, Gärten anders bewirtschaftet werden, dass die Stadtbevölkerung hinsichtlich ihres Beitrags zum Naturschutz weit besser als ihr Ruf ist, gehört genauso zur Erkenntnis des Buchs wie die, dass noch viel getan werden kann und könnte.

Entscheidend ist für Reichholf, dass aus den wissenschaftlichen Beobachtungen und Analysen auch Konsequenzen gezogen werden. Er tritt – und das nicht zum ersten Mal – vehement dafür ein, die Menschen stärker in den Naturschutz einzubeziehen, ihn anders zu institutionalisieren als bislang. Die Administrative könne und solle nicht alles richten, so Reichholf, er beklagt im Gegenteil, dass in Naturschutzgebieten insbesondere in Westdeutschland dem Naturschutz kein großer Gefallen getan werde, so lange land- und forstwirtschaftliche Nutzung, Jagd und Fischerei dort weiterhin Priorität genießen, dass die Statuten „eher zugunsten der ‚Nutzer‘ die ‚lästige Öffentlichkeit‘ fernhalten.“ Und genau um diese Öffentlichkeit geht es ihm, sie für Natur zu begeistern, die Natur ihr nahezubringen, Menschen die Möglichkeiten zu geben, aktiv zu sein. Dazu bringt er Naturpatenschaften ebenso ins Spiel wie den Vorschlag, dass Städte Flächen auch auf dem Land erwerben oder pachten könnten, um auf ihnen Natur erlebbar zu machen. In Summe bietet Reichholf hier einen fundierten wissenschaftlichen Blick auf einen Aspekt, der noch viel zu sehr in den Klischees von der naturfeindlichen Stadt und dem natürlichen Land verhaftet ist.



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Susanne Kost, Constanze A. Petrow (Hg.): Kulturelle Vielfalt in Freiraum und Landschaff. Wahrnehmung, Partizipation, Aneignung und Gestaltung. 343 Seiten, 62 farbige Abbildungen 15 x 21 cm, 59,99 Euro
Springer Fachmedien, Wiesbaden, 2022

Die Brücke zwischen heutiger Gesellschaft, der Wahrnehmung von Freiräumen und deren Gestaltung schlägt die Veröffentlichung von Constanze Petrow und Susanne Kost. Die Publikation, ein Sammelband mit Aufsätzen von Autor:innen aus den Bereichen Landschaftsarchitektur, Umweltsoziologie, Kulturwissenschaft und Kulturanthropologie und Ethnologie, baut auf einer Tagung aus dem Jahr 2018 auf. Für die nun vorgelegte Veröffentlichung wurde das Autorentableau erweitert. Der Band – mit wenigen Abbildungen, für eine wissenschaftsorientierte Community aufbereitet – bietet darin einen Einblick in die Tiefe, mit der eine Auseinandersetzung geführt werden sollte.

Im Kern geht es um die Frage, wie Landschafts- und Freiraumgestaltung der kulturellen Vielfalt der heutigen Gesellschaft gerecht werden kann, welche Konflikte sich aus dieser Vielfalt ergeben können und wie man ihnen begegnen kann. Zunächst einmal sei Freiraumverwaltung, das stellt Wulf Tessin in seinem einführenden Text fest, nicht am gesellschaftlichen Wandel, sondern primär am Erhalt und an der Pflege bestehender Grünflächen interessiert. Da aber jeder gesellschaftlicher Wandel auch mit Verhaltensänderungen verbunden ist, muss darauf eben doch Rücksicht genommen werden. Schließlich geht es auch, das macht Constanze Petrow in ihrem Text deutlich, darum, mit Gestaltung das Signal auszusenden, dass keiner in unserer Gesellschaft von der Teilhabe an ihr ausgeschlossen ist. Eine Gestaltung, die die veränderte Zusammensetzung unserer Gesellschaft nicht in eine andere Gestaltung der Freiräume umsetzt, führt letztlich zu Exklusionen und den sozialen Spannungen, die gerade im Freiraum abgebaut werden könnten. Petrow zeigt auf, welche grundsätzlichen Möglichkeiten es gibt, dieser ethischen Maxime gestalterisch zu entsprechen.

Da ein solches respektierendes Gestalten nicht nur technische, sondern erst einmal kulturelle Kenntnisse erfordert, gehen die folgenden Beiträge des Bandes weiter in die Tiefe. Dabei werden sowohl kulturgeschichtliche Entwicklungen der Freiraumnutzung, der Landschaftsgestaltung und der Landschaftsprägung nachvollzogen, in Fallstudien vertieft, als auch die durch kulturelle Prägungen bedingten Erwartungen an den Freiraum erörtert. Da spielen Alter und Religion, Herkunft und Geschlecht eine Rolle. Wie etwa im bekannten Park Superkilen in Kopenhagen sind zeichenhafte Repräsentationen ein möglicher Weg (beschrieben von Bettina Werner und Hilde Evensmo), es gilt aber auch, die verschiedenen kulturellen Bedürfnisse nach geschützten Bereichen ebenso wie nach guter Sichtbarkeit und kollektiven Nutzungsmöglichkeiten zu berücksichtigen – Grit Hottenträger, Melis Gökkaya und Lukas Weber machen dies anhand der Bedarfe von türkisch- und russischstämmigen Menschen deutlich. Lesende werden mit der Entstehungsgeschichte eines „Garten für Religionen“ in Karlsruhe vertraut gemacht (Stefan Helleckes) und erfahren, wie Friedhöfe gewandelten Bedürfnissen gerecht werden können (Judith Pape). Beteiligung spielt stets eine große Rolle und kann helfen, die Kluft zwischen Planenden und denen, für die sie planen, zu schließen – diese Kluft ist bei der Gestaltung von Freiräumen, die von vielen Menschen genutzt werden, überhaupt nicht zu vermeiden.

Beruhigend mag sein, dass letztlich die Wünsche an Freiräume sich so gravierend nicht unterscheiden und es vielmehr darum geht, Freiräume gut nutzbar zu halten, sicher und gut zugänglich zu machen. Und es geht  darum, eine Sicht auf die Menschen zu bekommen, die die Freiräume nutzen wollen – und dabei die eigene Sicht als eine unter vielen zu erkennen.