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Stilkritik (128) | Seit einiger Zeit beherrschen „Narrative“ populäre und wissenschaftliche Diskurse, mit denen vermeintliche Wahrheiten entkräftet werden und neue geschaffen werden sollen. Beispiele aus den Architekturdebatten zeigen, welche Konsequenzen die „Migration“ von Begriffen von einer Fachdisziplin in eine andere oder gar in die breite Öffentlichkeit nach sich zieht. Architekturgeschichte und alle Kämpfe um Deutungshoheiten sind davon betroffen, wenn von neuen Narrativen die Rede ist.

oben: Courtesy Gerd de Bruyn bei facebook


Wie ein Donnerschlag klingt es, wenn von einem Paradigmenwechsel die Rede ist. Weit weniger hochtrabend hört es sich an, wenn von einem neuen Narrativ geraunt wird. Es lässt sich gefahrlos vorschlagen, weil es thesenartig keinen Wahrheitsanspruch erhebt, sondern einfach mal zur Diskussion gestellt wird. Seine vermeintliche Harmlosigkeit lenkt davon ab, dass gerade diese auf unreflektierte Zustimmung hoffen lässt.

Märchenstunden

die architekt 5.2023, "Ein Generationenheft"

die architekt 5.2023, „Ein Generationenheft“

„Narrative“ dominieren mehr und mehr populäre und wissenschaftliche Diskurse, Publizistik; auch Ausstellungswesen und vielfältige Kulturarbeiten sind mit neuen Narrativen konfrontiert. Die Zeitschrift die architekt hatte sich zum Beispiel im Heft 5.2023 des Themas ‚Generationen‘ angenommen. Um den G-Begriff geht es seit einiger Zeit vor allem im Kontext der Klimaschutz-Bewegungen, die Ansprüche kommender Generationen geltend machen. Dazu hatte Nils Minkmar, Jahrgang 1966, einen Beitrag verfasst, in dem der Begriff „Generation“ in seiner Bedeutungslosigkeit geradezu vernichtend betrachtet wurde.1) In die architekt argumentiert die Autorin Elina Potratz zunächst auch in diesem Sinne, um dann ins Gegenteil zu schwenken und die Generationszugehörigkeit, wenn sie so empfunden werde, als gerechtfertigt zu sehen.2) Hier sind die Geschichtswissenschaften tangiert, in denen die Narrative inzwischen als Erklärungsmuster anerkannt sind, die ohne weitere Quellenangaben im Diskursraum toleriert werden – unter anderem, weil emotionale Äußerungen als Argumente hingenommen werden. So haftet dem Narrativ eine vernunftskeptische Komponente an, die seine Rolle im Kontext der „Cancel Culture“ erklärt.2a)
Wenn es um Klimafragen geht, schlagen politische Strategien auch gern mit einem „Narrativ“ eine Brücke in die Zukunft. So schreibt Ökonom und Stiftungsgründer Klaus Wiegandt: „Wir brauchen ein neues Klima-Narrativ. Unser derzeitiges Narrativ über die Folgen ist viel zu harmlos, und es wiegt die Weltbevölkerung in Sicherheit über deren Beherrschbarkeit“.3)

Norbert Frei: Im Namen der Deutschen. C. H. Beck, München 2023

Norbert Frei: Im Namen der Deutschen. C. H. Beck, München 2023

Zwei Beispiele zur historischen Relativierung seien genannt: Lautet eine weltweite Deutung der Leistung Mahatma Gandhis, dass seine Idee gewaltlosen Widerstands und religiöser Toleranz eine vorbildlichen Zug hat, so ändert sich dieses Narrativ gerade dahingehend, dass in Indien seine Mörder gefeiert werden. Was immer in Indien schief laufen mag: Ein Schuldiger ist schnell auszumachen, wenn ein Narrativ geändert wird.4) Sehr aufschlussreich sind auch neuere Untersuchungen, die der Art und Weise nachspüren, wie in der Nachkriegszeit nach einem Umgang mit der NS-Diktatur gesucht worden ist.5) Als müsse man nur eine neue Erzählweise finden, ein akzeptables Narrativ. So lohnt es sich sehr, bei Norbert Frei nachzulesen, wie sich die Bundespräsidenten im Nachkriegsdeutschland – von Theodor Heuss über Heinrich Lübke, Gustav Heinemann und Karl Carstens bis Richard von Weizsäcker – äußerten, um der Republik mit diversen Narrativen ein unerträgliches Schuldbewusstsein zunächst zu ersparen und sie langsam in eine fragwürdige „Normalität“ zu begleiten. Das Narrativ mutierte dabei von der „Vergangenheitsbewältigung“ zur „Erinnerungskultur“.6)

Das Narrativ – fragile Fakten

Das „Narrativ“ taucht in den Sozialwissenschaften seit den 1990er Jahren auf, um sinnstiftende Erzählungen zu akzeptieren, mit denen Ansichten und Verhaltensweisen gerechtfertigt werden. Rekurriert wird dabei darauf, wie Jean-François Lyotard mit dem englischen Begriff narrative in seinem 1979 erschienen Werk La condition postmoderne argumentierte. Thomas Kniebe fasste vor einigen Jahren essayistisch zusammen, wie sich das Narrativ – wie so viele Begriffe mit „Migrationsgeschichte“ – im Deutschen in verschiedenen Disziplinen ausgebreitet und aufgeplustert hat.7) Eine Lanze für die wissenschaftliche Relevanz des Erzählens, des Narrativs, der Narratologie in der Geschichtswissenschaft brachen Achim Saupe und Felix Wiedemann, ohne allerdings die geschichtsphilosophischen Relationen in die Bedeutung und Glaubwürdigkeit des Erzählens einzubeziehen. 8)

Die Konjunktur des Begriffs Narrativ ist kaum noch zu stoppen, gerade deswegen muss auch in Architekturdiskursen bewusst sein, wie schwammig das Narrativ ist, das bis zu fake news reichen kann. Geradezu gefährlich werden Narrative, wenn sie normativ aufgeladen werden und mit populistischen, nicht weiter hinterfragten Thesen daherkommen.
Narrative drängen in der Überhöhung der Mitteilungsform das Mitgeteilte in den Hintergrund und schwächen insofern wissenschaftliche Kommunikation, in der die Mitteilungs- und Darstellungsweisen sich nicht im Erzählerischen verlieren dürfen. Beim deutschen Historikertag in Leipzig wurde denn auch beraten, was es mit „fragilen Fakten“ auf sich hat. Konkret: Galten deutsche Kolonialisten über Jahrzehnte und reingewaschen in der NS-Diktatur bis in die Gegenwart als nebensächlich, ist ihr verbrecherisches Gebaren heute unstrittig. Aber nun erst geht die Auseinandersetzung darüber los, was denn war, was kolportiert wurde, was relativiert wurde – und was sich in Form „fragiler Fakten“ im deutschen Bewusstsein festgesetzt hat.
Ähnliches zeigt sich in der Einschätzung der Revolution von 1848: Die Revolution von 1848 gilt unter Historikern als gescheitert. Der Historiker Christopher Clark präsentiert eine andere Sicht: Das Ereignis habe die moderne Welt erschaffen.9)

Um nicht missverstanden zu werden: Vermeintliche Wahrheiten zu hinterfragen, ist ein Grundsatz für Geschichtswissenschaften. Die jeweils neuen Erkenntnisse jedoch nur als neue Narrative zu präsentieren, ignoriert die methodischen Grundlagen der Wissenschaft – respektive übergeht eine wissenschaftsmethodische Debatte.

Und die Architektur?

Die Architekturgeschichte und die Architekturgeschichtsschreibung ist in besonderem Maße von prekären Narrativen geprägt. Nicht zuletzt, weil im wesentlichen KunsthistorikerInnen die Architekturgeschichte „geschrieben“ haben und Quellenforschung zwar als zwingend gilt, Quellenkritik jedoch nicht. Mit der Architekturkritik der Gegenwart sieht es nicht viel besser aus. Sie wird dort geschwächt, wo Architektur zum Beispiel nur präsentiert oder „vermittelt“ wird und ArchitektInnen einfach zu ihren Werken „interviewt“ werden. Drei Fragen ans Büro richten: Fertig ist die Publikation. Das Werk von Architekten ausstellen, mehr oder weniger erläuternde Texte dazustellen und das ganze von der jeweiligen Büros vielleicht auch bezahlen lassen – das ist alles gut und hat seine Funktion an der Schnittstelle zu breiter Öffentlichkeit. Aber es genügt nicht, um büroübergreifende Themen zu erschließen, in größere Zusammenhänge zu stellen, um das nicht Erreichte anzusprechen, um Bezüge zu anderen Disziplinen und Phänomenen herzustellen.

Das Narrativ der jeweiligen ArchitektInnen wird zu selten hinterfragt, der O-Ton soll’s richten. Auch in den Architektennarrativen verändert sich allerdings die Thematik. Berichteten Architekturbüros ein Zeit lang von ihrer „Philosophie“, sprechen sie heute gern von ihrer „Haltung“. Nicht zuletzt liegt dies daran, dass in den Universitäten Architekturvermittlung wie eine Selbstvermarktungsstrategie gelehrt wird, einen Lehrstuhl für Architekturkritik gibt es meines Wissens nicht, die seltene Kombination mit Architekturtheorie ausgenommen. Ein Narrativ zur hinreichenden Kenntnis zu nehmen, indiziert nicht zuletzt das Desinteresse an seiner wissenschaftlichen Relevanz.


1) Nils Minkmar: Vorsicht, G-Wort. Wer sind eigentlich die „Stimmen ihrer Generation“? Zur Unschärfe eines Begriffs, der Aufklärung durch Geschwätz ersetzt. In: Süddeutsche Zeitung, 7.1.2023

2) Elina Potratz: Generation Bye Bye. In: die architekt 5.2023, Seite 15-19

2a)  Julian Nida-Rümelin: Cancel Culture. Das Ende der Aufklärung? Piper, München 2023

3) In: Bericht zum Zeit – Wissen – Kongress, 28. September 2023; Klaus Wiegandt ist Gründer und Vorstand des Forum Verantwortung

4) Anant Agarwala, Sonia Bouissou: Gandhi muss weg! Dossier, in: Die Zeit, 2.11.2023

5) Hilmar Klute: Deutsche Deutungskämpfe. Waren antisemitische Entgleisungen in den Achtzigerjahren möglich, weil das Land noch nach einem Narrativ für seinen Umgang mit der NS-Diktatur suchte? In: Süddeutsche Zeitung, 9./10.9.2023

6) Norbert Frei: Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit. C. H. Beck, 2023

7) Tobias Kniebe: „Erzähl“. Das Modewort ‚Narrativ‘. In: Süddeutsche Zeitung, 25. August 2017 (https://www.sueddeutsche.de/kultur/modewort-narrativ-erzaehl-1.3640669)
„Anfang der Achtzigerjahre fingen angelsächsische Geisteswissenschaftler allerdings an, das Wort ‚Narrativ‘ gehörig aufzublasen. Schuld war der Versuch, Jean-François Lyotard, den französischen Gründervater der Postmoderne, ins Englische zu übertragen. Aus dessen ‚grands récits‘ oder ‚Metaerzählungen‘ – gemeint waren die Hauptströme der abendländischen Philosophie im Gefolge Kants und Hegels – wurden dabei die ‚grand narratives‘, die es nach Lyotard zu überwinden galt. Irgendwann fiel der erste Teil dann weg, das Narrativ war jetzt per se groß. Nicht mehr irgendeine Erzählung, sondern mindestens eine sinnstiftende Herkunfts- oder Entwicklungsgeschichte, ohne die eine Gemeinschaft nicht existieren kann. Als solche schlich sich das Wort dann auch ins Deutsche ein, zum Beispiel gilt etwa ‚Liberté, Égalité, Fraternité‘ als ‚Narrativ der Französischen Revolution‘. Inzwischen ist das Wort auch im Alltagsgebrauch angekommen.“

8) Achim Saupe, Felix Wiedemann: Narration und Narratologie. Erzähltheorien in der Geschichtswissenschaft. Docupedia-Zeitgeschichte, 28.1.2015 / https://docupedia.de/zg/Narration

9) Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. München 2023; Clark im Gespräch mit Peter Neumann und Maximilian Probst, in: Die Zeit, 21.9.2023