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Fast schon konstruktivistische Kunst. Bild: Christian Holl

Stilkritik (49): Unter dem Pflaster kommt der Strand. Auf das Pflaster kommt das Kaugummi. Allzuoft, mag sein, und eine Zierde ist das bestimmt nicht. Aber wollen wir das wirklich, die Stadt, in der kein Kaugummi mehr auf der Straße landet? Wäre das nicht eine Form der kleinkarierten Tyrannei? Und überhaupt: Gibt es nichts Wichtigeres? Doch, gibt es. Der Fall Stuttgart.



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Hier sieht es ja furchtbar aus. Nein? Na gut, dann eben nicht. (Bild: Christian Holl)

Wenn man ein Buch schreiben müsste, in dem erklärt wird, wie man sich in der Stadt zivilisiert zu verhalten hätte, was würde man dort aufzählen? Vielleicht, dass man auf der Rolltreppe rechts steht und links nicht. Dass man nicht früher an die Reihe kommt, wenn man in der Schlange dem Vordermann in die Haken tritt. Dass man Menschen nicht anstarrt, weil sie besonders lange Beine oder eine besonders große Nase haben. Vermutlich müsste man in einem solchen Urbanautenknigge auch darauf hinweisen, dass man Kaugummis nicht auf den Boden spuckt, sondern in ein Papier wickelt und in den Abfalleimer wirft. Aber wer liest heute noch Bücher? Der Knigge für den urbanen Menschen von heute wäre vielleicht eher eine App und hieße Urban Knigge, das ist auch in Ordnung, Dinge ändern sich und Benimmregeln auch. Heute ist es wichtiger zu wissen, was lol, asap, btw und omg bedeuten, als den perfekten Handkuss exekutieren zu können. Die Urban Knigge App würde wahrscheinlich an Körperbewegungen erkennen, dass der Kaugummi schon ziemlich lange bekaut wurde und Gefahr läuft, ausgespuckt zu werden, sie würde dann mit einer Meldung auf das eigentlich korrekte Verhalten hinweisen. So stellt man sich die Smart City vor, die bis in die kleinsten Fasern der eingebildeten Individualität eindringt und uns dahin steuert, wo uns die Macht oder das Regime haben will, wer auch immer die Macht nun eigentlich hat und das Regime verkörpert und wer auch immer ein Interesse daran hat, dass wir uns wie gesteuerte Avatare zielorientiert durch die Stadt bewegen, anstatt sie langsam und ziellos durchstreifen oder in ihr zu flanieren, mit einer Schildkröte an der Leine zum Beispiel.

Von Seattle nach Stuttgart


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Hier muss man irgendwann wieder sauber machen. Gum-Wall in Seattle. (Bild: Wikimedia Commons, Another Believer, CC BY-SA 3.0)

Ob man in Stuttgart aufgrund der Verzögerung und Verteuerung von Stuttgart 21 an den Fortschritt nicht mehr so recht glauben will oder ob ein grüner OB soviel Einfluss hat, dass man die Entmündigung des Bürgers durch Datenkraken nicht hinnehmen will, ist noch nicht ausreichend erforscht. Tatsache ist, das man nicht an einer Urban Knigge App arbeitet, sondern vor Kurzem verlauten ließ, dass man eine „Gum-Wall“ installieren will. Das ist nun keine Gummiwand, an der sich verärgerte Menschen austoben dürfen, ohne größeren Schaden anzurichten, sei es, weil sie sich darüber ärgern, dass Stuttgart 21 noch nicht fertig ist, oder weil sie sich darüber ärgern, dass es vielleicht doch noch fertig wird. Nein, eine Gum-Wall ist eine Erziehungsinstallation, auf die man seine ausgekauten Kaugummis klebt, auf dass sie irgendwann ein ästhetisches Erlebnis vermittle, wie es sonst nur von sogenannten Liebesschlössern behängte Brückengeländer können. Diese Kaugummiwand ist also so eine Form der Liebeserklärung an eine saubere Stadt. Möglicherweise hat es in Seattle aus einer spontanen Laune angefangen – und ist dort zur Sehenswürdigkeit geworden. Aha. Könnte das also die Hidden Agenda sein – eine weitere Sehenswürdigkeit für Stuttgart? Nach Fernsehturm, Weißenhofsiedlung und Stirlings Staatsgalerie machte das dann aber doch eher einen Abstieg sichtbar als dass dieser aufgehalten würde. Zumal man auch in Seattle mit Problemen der Hygiene zu kämpfen hatte und – eine schöne Pointe – zwischendurch mal so richtig sauber machen musste. Also eine ziemlich klebrige und nur mäßig appetitliche Angelegenheit, und so genau weiß man nicht, was das eigentlich soll.

Offiziell formuliert man in Stuttgart so: „Sie (die Kaugummis) sind eine echte Plage auf dem Pflaster der Innenstädte und prägen das Erscheinungsbild negativ. Das eigentlich Selbstverständliche, einen Kaugummi, wenn er nicht mehr schmeckt, in den Mülleimer zu werfen, soll mit Hilfe einer Gum-Wall – einem sogenannten Kaugummifänger – wieder ins Bewusstsein gerückt werden. Stuttgart will mit einer kreativen Idee gegen diese Verschmutzung vorgehen – denn das Entfernen der Kaugummis von Bodenbelägen ist aufwendig und teuer“ – so die Pressemitteilung. Kreativ, soso. Kaugummifänger: omg. Alle Klischees des biederen Schwaben bestätigt: Es geht ums Geldsparen und um die Sauberkeit.

Plötzlich diese Gummimasse


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Kaugummi, wohin man sieht. Fast schon ein Sternenhimmel. (Bild: Christian Holl)

Ein Effekt tritt beinahe unweigerlich ein, denkt man über die Sinnhaftigkeit von „Kaugummifängern“ nach: Man beginnt, auf all die Kaugummis auf dem Boden zu achten. Und siehe da, es sind mehr als man bislang bemerkt hat. Als Städter ist man, das wissen wir seit Simmel, blasiert. Der normale Städter blendet gezielt Dinge aus. Zum Beispiel Kaugummiflecken auf dem Boden. Wie er auch all die Kippen ausblendet, die überall herumliegen und „das Erscheinungsbild negativ prägen.“ Wer also eine Gum-Wall errichtet zeigt, dass er eigentlich vom Land kommt. Und noch zu wenig davon verstanden hat, was Stadt und Urbanität auch ausmachen. Mit der Fülle, der Anonymität umzugehen, damit, dass in der Stadt Menschen Dinge tun, die man selbst nicht tun würde.  Manche spucken eben Kaugummis auf den Boden. Wenn man nicht mal damit fertig wird, wie soll denn Stadt dann funktionieren? Soll man nun auch Tafeln aufbauen, in die man seine Kippen stecken kann?

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Kaugummitoleranzen im Straßenbau. (Bild: Christian Holl)

Nun schaut man also ständig nach den Kaugummis auf dem Boden. Man überlegt sich, welches der kaugummitolerantere Belag ist. Man stellt fest, dass junge Kaugummis weiß, ältere schwarz sind. Dass auf den Straßen viele zu finden sind, wahrscheinlich, weil sie auch aus fahrenden Autos geworfen werden. Sie müssten sehr genau zielen, wollten sie die Gum-Wall treffen. Der Kaugummis sind so viele, dass man sich unwillkürlich fragt, wieviele Gum-Walls man eigentlich brauchen würde, überall in der Stadt, damit sich wirklich der unter der klebrigen Last stähnende Boden tatsächlich erholen könnte. Es müssten soviele sein, dass sie wohl eher keine Verschönerung sein würden. Es wäre schrecklich – wie in einer riesigen Schule aus den Zeiten finsterer Pädagogik. In Stuttgart sollen es vorerst nur drei werden, das sind natürlich zu wenig. Oder, sagen wir es so: Die Gum-Wall wird nichts ändern. Sie aufzustellen ist symbolische Politik. Symbolische Kleinstadtpolitik. Wenn man aber eh nichts ändern kann, wäre es doch eigentlich besser, das Unvermeidliche zu akzeptieren.

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Eine Entdeckung, die Lösung: die Gum-Wall im Boden. Die Gum-Promenade-Tile. (Bild: Christian Holl)

Einen Verdacht allerdings kann man auch nicht so ganz vertreiben. Dieser Verdacht lautet, dass man es hier mit einer Ablenkungsstratgie zu tun hat. Der Dreck der Stadt, für den sorgen nämlich andere als die Kaugummikauer. Nur werden in Stuttgart kaum Kaugummis produziert, sprich: Kaugummis haben keine Lobby. Zudem hat die Stadt eigentlich andere Hausaufgaben zu machen. So ist klammheimlich das IBM Areal mit den Eiermann-Bauten im letzten Frühjahr verkauft worden, erst jetzt erfährt die Öffentlichkeit davon. Dass damit die Voraussetzungen für eine gute Entwicklung des Areals verbessert werden, inklusive allen bereits formulierten Ansprüchen an Nutzungsmischung und Denkmalschutz, darf man zumindest anzweifeln, man kennt die Gesetze der Branche: der neue Eigentümer will sich das investierte Geld ja wieder zurückholen. Ebenfalls klammheimlich ist ein Grundstück zwischen Kunstakademie und Weißenhofsiedlung verkauft worden, ein chinesischer Investor wird dort gängigen unspektakulären Wohnungsbau zu gehobenen Preisen auf einem Gelände errichten, auf dem eine Postfiliale stand. Ein Filetgrundstück. (Information: hier >>>, hier >>> und hier >>>) Aber: Kein Wettbewerb, keine Diskussion, kommunales Vorkaufsrecht: kein Thema – direkt gegenüber der Weißenhofsiedlung, die jetzt aber mal so eine richtige Sehenswürdigkeit ist. Man setzt scheinbar hier auf einmal doch auf den blasierten Großstädter: der soll das, was hier passiert, bitte nicht anstarren. Er soll bitteschön ertragen, dass hier etwas passiert, mit dem er nicht einverstanden ist. Das was hier geschieht,  geschieht fast so beiläufig, als wenn ein Kaugummi auf den Boden gespuckt würde. Nur ist die Wirkung dann leider am Ende doch eine andere – es ist gewissermaßen ein Monsterkaugummi, das hier auf dem Boden landet. Insofern wäre es vielleicht eine Idee, eine House-Wall aufzustellen. Eine Klagemauer des Städtebaus. Dort dürfte man all das sichtbar machen, was in der Stadt „das Erscheinungsbild negativ prägt.“ Mit der House-Wall könnte das eigentlich Selbstverständliche, dass über das, was in der Stadt gebaut wird, auch gesprochen werden darf, wieder ins Bewusstsein gerückt werden, um es im Pressemitteilungsdeutsch zu formulieren. Schon klar: die Verwaltung wird das kaum in Angriff nehmen. In Seattle war die Gum-Wall aber auch keine Idee der Verwaltung.