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Mimikry

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In Stuttgart, wo kaum ein Stein auf dem anderen bleibt, wird gebaut, was das Zeug hält. Bei einem Neubau mitten im Zentrum fällt nun im Vergleich beispielsweise zum nahegelegenen Dorotheenquartier kaum auf, dass hier zuvor ein anderes Haus stand – ins Auge sticht dennoch der Unterschied zwischen Bestandserhalt, Rekonstruktion und Mimikry.

Architekten: Wulf Architekten, Stuttgart


„Mäusle, was moinsch? G’fällt des der Mami?“ – fragt ein ergrauter Herr im legeren Edeloutfit seine Tochter. „Für Ihre Frau ganz sicher eine gelungene Überraschung“, meint die Verkäuferin. Es geht um ein kleines Accessoire im vierstelligen Kostenbereich, das in der Hermès-Boutique angeboten wird – im Erdgeschoss eines Neubaus mitten in Stuttgart. Das Hermès-Sortiment: Gediegen, handwerklich sehr hochwertig, teilweise von erbitternder Geschmacklosigkeit, und irgendwie ist alles auf Pferdeliebhaber zugeschnitten. Und „Mäusle“ kann es mit jedem Pferd aufnehmen, trägt makellose Reiterstiefel, einen Pferdeschwanz und meint lapidar: „Woisch, wenn’s der Mami ned g’fällt, schenksch’s der Tande Irmi.“

Lageplan an der Schulstraße: Neubau (1), Stiftskirche (2) und der "König von England" (Copyright: Wulf Architekten)

Lageplan am Johannes-Brenz-Platz: Neubau (1), Stiftskirche (2) und der „König von England“ (3) von Karl Gonser (Copyright: Wulf Architekten)

Bestand …

Zwischen der Königstraße und dem Dorotheenquartier (siehe „Stuttgart mondän“) erstrecke sich, so Tobias Wulf beim Besichtigen des Neubaus, die wohl lukrativste Luxusmeile der Republik. Verglichen mit der Münchner Theatiner Straße und der Kö in Düsseldorf ist es vielleicht ein „Luxusmeilele“, aber lukrativ ganz gewiss.
Es haben dennoch rund um die Stiftskirche beschauliche öffentliche Räume überlebt. Zu Füßen von Hans Kammerers Commerzbank-Anbau im Westen der Kirche traf man sich über Jahrzehnte bei der jährlichen Architekten-Hocketse, schlotzte seine Viertele und fand immer etwas, worüber sich bruddeln ließ. Der öffentliche Raum an der Neubau-Längsseite gammelt als Hinterhof vor sich hin – das mag sich alsbald ändern.


"König von England", 1956 von Karl Gonser gebaut

„König von England“, 1954-56 von Karl Gonser gebaut. (Bild: Ursula Baus)

Auf der östlichen Kirchenseite steht wie ein Meilenstein der Stadt-Baugeschichte der „König von England“ – ein fantastisches Geschäfts- und Bürogebäude des Hochbauamt-Mitarbeiters Karl Gonser aus dem Jahr 1954-56. Es gehört zum Besten, was in der Innenstadt zu finden ist und kündet von der Zeit, in der Hochbauämter auch eine Brutstätte der Baukultur waren. Karl Gonser (1902-1979) hatte in Stuttgart bei Paul Bonatz und in Berlin bei Erich Mendelsohn gearbeitet, war Assistent beim Stadtplaner Heinz Wenzel an der TH Stuttgart und Stadtplaner in Köln gewesen. 1953 wurde er Direktor der Staatsbauschule Stuttgart, leitete später als Stadtbaudirektor das Stuttgarter Stadtplanungsamt und konzipierte mit Hans Volkart den Wiederaufbau der Altstadt von Heilbronn. Der 2012 sanierte „König von England“ zeugt davon, dass Architektur die Zeitläufte umso eher überstehen kann, wenn sie als ein Stück Stadt entworfen ist.

2017 beginnt der Abriss des hier noch erkennbaren Gebäudes, das eine feingliedrige Fassade wie das im Vordergrund noch erhaltene Geschäftshaus besaß. (Bild: Ursula Baus)

2017 beginnt der Abriss des hier noch erkennbaren Gebäudes, das eine feingliedrige Fassade wie das – im Vordergrund links – noch erhaltene Geschäftshaus von 1954 besaß. (Bild: Ursula Baus)

Die unspektakuläre und zum Ort hervorragend passende Bebauung auf der Südseite der Stiftskirche wurde nur mäßig gepflegt. Und dann stand auf einmal ein Zaun als Vorbereitung zum Abriss darum, dem Ärger darüber ließ ich bei facebook freien Lauf. Bot doch die Gebäudekonstellation an dem kleinen Platz vis-à-vis der Stiftskirche bis dahin eine dezente Randbebauung, in der die Vertikalgliederung der Fassaden den Blick unspektakulär nach oben lenkte und zugleich um die Ecke zur Schulstraße lockte.

Die Masse des neuen Gebäudes am Durchgang von der Stiftskirche zur Schulstraße springt ins Auge. (Bild: Bridiga González)

Die Masse des neuen Gebäudes am Durchgang von der Stiftskirche zur Schulstraße springt ins Auge. (Bild: Bridiga González)

Verzwickte Ecke zwischen Bestand und Neubau (Bild: Ursula Baus)

Verzwickte Ecke zwischen Bestand und Neubau (Bild: Ursula Baus)

… und Strategien der Adressbildung

Als erstes stellt sich für die neue Eckbebauung die Frage, was gegen eine Sanierung des Bestands gesprochen haben mag. Kurz und knapp benennt es der Architekt: Der Bestand bot der Bauherrschaft keine repräsentativen Raumhöhen und im technisch-ästhetischen Anspruch keine Chance zu höheren Mieteinnahmen. Und damit ist nutzungsmäßig die Gentrifizierung der Stadt par excellence auf den Punkt gebracht: Im Erdgeschoss wird jetzt ein Luxussortiment für „Mäusles“ und in den Obergeschossen ein luxuriöses Büroambiente für Anwälte und ähnlich gut verdienende Dienstleister angeboten. „Adressbildung“ nennt sich das im Immobilien-Marktgeschrei. Anfänglich geplante Wohnnutzung entfiel.
Entscheidend gegen diese Strategie eines Investors könnte nur eine Unter-Schutz-Stellung seitens einer Behörde wirken, auf die in Stuttgart niemand zählen kann. Auch hätten die Behörden auf den Neubau in seiner Masse Einfluss nehmen können – Architekten können es nicht.

Im Schnitt gut zu erkennen: Die gleiche Etagenzahl führt zu höherem Gebäude. (Copyright: Wulf Architekten)

Im Schnitt gut zu erkennen: Die gleiche Etagenzahl des Bestands führt im Neubau zu höherem Gebäude. (Copyright: Wulf Architekten)

Wulf Architekten hatten 2015 den unter drei Büros ausgelobten Wettbewerb gewonnen. Man muss ihnen vorab zugutehalten, dass sie keine Platz-da-jetzt-komm-ich-Haltung haben wie manche „Stararchitekten“, die kaum mehr als die eigene Formensprache nach Selbstvermarktungs- oder Verewigungsstrategien pflegen.
Mit der Materialität des Neubaus knüpfen Wulf Architekten an den „König von England“ (siehe oben) an, der in Sichtweite steht und gebäudetypologisch als Vorbild wirkt. Gleichzeitig das schlüssige Konzept des unmittelbaren Nachbarbestandes aufzunehmen und mit einer vertikal rhythmisierten Fassade um die Ecke zu lenken, wollten sie nicht.

Blick in Richtung Stitfskirche (Bild: Brigida González)

Blick in Richtung Stiftskirche (Bild: Brigida González)

Und so dominieren jetzt horizontal betonende Geschossdeckenbänder den kräftigen Kubus, der nicht mit aufdringlichen, formalen Gesten auftrumpft, sondern mit sorgfältig durchgearbeiteten Details vergleichsweise zurückhaltend bleibt. Gut hätte es dem Hinterhof an der Längsseite getan, wenn auch das Arkadenmotiv des „König von England“ aufgegriffen worden wäre – was natürlich die Verkaufsfläche reduziert hätte. Damit erklärt sich aber, warum der neue Kubus doch ein wenig so aussieht, als sei er mit nutzbaren Kubikmetern richtig vollgepumpt worden.
Das vollverglaste Erdgeschoss und die hohe, darüberliegende Etage sind dem Handel vorbehalten, darüber sind zwei Büroetagen, und ganz oben im Staffelgeschoss Lüftung und Kältetechnik untergebracht. Die „Adresse“ Stiftstraße 3 macht jetzt etwas her.

Längesseite mit Hermès-Dekoration im Erdgeschoss (Bild: Brigida González)

Längesseite mit Hermès-Dekoration im Erdgeschoss (Bild: Brigida González)

Nun ist vor allem die Längsseite des Neubaus sehr sorgfältig strukturiert und detailliert. Die Fassade aus Kirchheimer (Franken) Muschelkalk trägt sich selbst und weist angenehme, nicht zu monotone Rhythmisierungen auf.

Rechts ist der Eingang zu den Büros dezent zurückgesetzt: Das Entree darf gediegen, aber bitte nicht protzig sein – und schon gar kein „neumodischs Glomb“. Die Geländer in den Büroetagen aus dünnem Stahl spielen retromäßig mit der Spaghetti-Ästhetik der Fünfzigerjahre, was neugierig aufs Interieur macht.

2040_Wulf_Gonzalez_TreppenhausZusammenfassend kann man sagen: Puristische Eleganz, hochwertige Materialien, vernünftige Grundrisse, nicht zu viel, nicht zu wenig – hochwertige Substanz und Anmutung. Atmosphärisch ist den Architekten alles gelungen, was man in diesen vergleichsweise engen, räumlichen Verhältnissen erwarten kann. Am Eingang überraschen in die Wand eingelassene Leuchten – wie man die wohl putzen kann?
Die Etagen sind überaus hell und erlauben vielfältige Nutzungsoptionen. Was an den Geländern außen als Referenz an die Fifties wirkt, überzeugt innen mit hoher Transparenz.
Ironie oder Lust am dekorativen Experiment ist Sache der Architekten nicht – und hat im Umfeld der schwäbischen Luxusmeile, wo es um nachhaltige „Adressbildung“ geht, wohl auch nichts verloren.

Im neuen Haus lassen sich Referenzen und Rücksichtnahmen auf stadträumliche Bezüge erkennen, aber es sieht weder retro, noch rekonstruiert aus – im besten Sinn also eine Art Mimikry-Architektur, angepasst an die Umgebung, um auch diese zu schützen. Schade nur, dass der Bestand nicht gerettet wurde.

Büro mit Aussicht (Bild: Brigida González)

Büro mit Aussicht (Bild: Brigida González)

Luxus für wen?

Wie allerdings verändert sich die Stadt durch dieses vergleichsweise kleine Stück Architektur?  Das nahegelegene Stuttgarter Kaufhaus Breuninger – Investor beim Dorotheen-Quartier – wies just, am 26. September 2020, in einer doppelseitigen Anzeige in der Süddeutschen Zeitung  auf seinen „neuen Glanz“ hin. Es starte der „Breuninger Flagship Store (…) in einen fulminanten Modeherbst. Hochwertige Premium- und Luxus-Accessoires von Alexander McQueen bis Valentino“. Die Preise für die Accessoires liegen in der Größenordnung ganzer Monatsgehälter von den gerade hochgelobten Krankenpflegekräften. So funktioniert die Gentrifizierung von Quartieren, der man durchaus eine Aufwertung von Stadtsubstanz danken kann. Doch geht mit der Gentrifizierung allzuoft auch die Fragmentierung der Stadt einher. In Stuttgarts Zentrum manifestiert sich immer deutlicher die Kaufkraft ihrer Bewohner, auch derer, die aus der Stuttgarter, wohlhabenden Mittelstands-Umgebung kommen. Vielleicht kam das „Mäusle“ aus Reutlingen oder Böblingen, mutmaßlich nicht aus Zuffenhausen oder Gablenberg …


Kernbereich der Büroetagen (Bild: Brigida González)

Kernbereich der Büroetagen (Bild: Brigida González)

Bauherr:  Aachener Grundvermögen Kapitalverwaltungsgesellschaft mbH
Architekten / Planungsteam:
Wulf Architekten, Stuttgart
Kai Bierich, Jan-Michael Kallfaß, Sonja Schmuker (PL), Julia Krattenmacher
Bauleitung:  ohlf schoch architekten, Stuttgart
Tragwerksplanung:  Knaak+Reich, Reutlingen
Landschaftsplanung:  Jetter Landschaftsarchitekten, Stuttgart
Baukosten:   ca. 5,5 Mio. Euro