• Über Marlowes
  • Kontakt

Die jüngere Vergangenheit


Die Nachkriegsmoderne hat uns einen reichen Schatz an Bauten hinterlassen, der sich bisweilen auch als Bürde erweist. Vier Neuerscheinungen öffnen den Blick auf die Komplexität des Bestandes und die Möglichkeiten, einen Zugang zu ihm zu finden – oder mit seinem Verlust umzugehen.



1746_KF_WDWM

Frank Eckardt, Hans-Rudolf Meier, Ingrid Scheurmann, Wolfgang Sonne (Hg.): Welche Denkmale welcher Moderne? Zum Umgang mit Bauten der 1960er und 70er Jahre. 324 Seiten, 38 Euro
Jovis Verlag, Berlin, 2017

„Welche Denkmale welcher Moderne?“ baut auf einem Forschungsprojekt auf – welchem Gegenstand es sich widmet, ist nicht präzise bestimmt: Nimmt der Titel eine Eingrenzung auf die 1960er und 70er Jahre vor, sind im Buch selbst auch Projekte der 80er diskutiert. Die Frage, wie man diese Zeit eigentlich klassifizieren soll, die keine „Nachkriegsmoderne im engeren Sinne“ ist, wie es die Herausgeber in der Einleitung formulieren, ist Teil dessen, was hier zur Diskussion gestellt wird. Tatsächlich verweigert sich die Vielfalt der (möglichen) Denkmale einer eindeutigen Zuordnung. Weil aber Denkmalpflege „nicht alles und jedes, nur weil es gewesen ist“ (Wolfgang Sonne) unter Schutz stellen kann, müssen Kriterien gefunden werden. Das Buch stellt in der Breite der Beiträge dieses Ringen um die Kriterien in den Mittelpunkt, darin noch zusätzlich wertvoll in der europäischen Perspektive, die den Horizont bereichernd weitet. Erfreulich ist zudem, dass nicht nur formale Maßstäbe angelegt werden, sondern auch soziale Zusammenhänge thematisiert werden – so wird das „Marl der Migranten“ von Carsten Müller unter die Lupe genommen. Hier geht es um die Menschen mit fremden Wurzeln, „denen es täglich gelingt, in zwei Welten zu leben – auch ihre Vergangenheiten, ihre Geschichten müssen Platz haben in der Aufarbeitung unseres kulturellen Erbes, wenn wir es gemeinsam antreten wollen.“ Den Schluss des Buches bilden Fallstudien von jeweils zwei Seiten, die am Beispiel Erhaltungsformen und Fragestellungen konkretisieren, dabei allerdings in der Kürze zu wenig Information geben, als dass man sie tatsächlich einordnen könnte.

Weitere Information >>>


1746_KF_Aufbruch

Lavesstiftung (Hg.): Aufbruch. Architektur in Niedersachsen 1960 bis 1980. 200 Seiten, 38 Euro
Jovis Verlag, Berlin, 2017

Auf einer der letzten Seiten konstatiert der unter anderem für die Städte Hannover und Wolfsburg zuständige Denkmalpfleger des Landes Niedersachsen: „Obwohl hinsichtlich einer angemessenen Unterschutzstellung der herausragenden Bauten der 60er und 70er Jahre noch viel zu tun ist und viele Hauptbauwerke der Epoche bereits zerstört worden sind, stimmen die Entwicklungen der letzten Jahre hoffnungsvoll.“ Die Aufmerksamkeit für die jüngere Vergangenheit ist, auch wenn sich noch lange keine ungeteilte Wertschätzung ausmachen lässt, deutlich gestiegen. „Aufbruch. Architektur in Niedersachsen 1960 bis 1980“, von der Lavesstiftung herausgegeben, ist selbst ein Beispiel dafür. 40 Bauten und Ensembles aus Niedersachsen werden auf jeweils zwei Seiten vorgestellt, typologisch geordnet und je mit einem Text zum entsprechenden Bautyp eingeleitet. Gerahmt wird dieser Hauptteil des Buchs von Essays zur Architektur der Nachkriegszeit im Allgemeinen, vor allem aber der Niedersachsens im Besonderen – unter anderem von Wolfgang Kil, Karin Wilhelm und Olaf Gisbertz. Zeitzeugen kommen zu Wort, die Constructra-Ausstellungen werden thematisiert, die besondere Rolle von Hannover, Wolfsburg und Braunschweig für den Diskurs der Nachkriegszeit verdeutlicht. Entstanden ist eine im Ganzen sehr sorgfältige erarbeitet Übersicht, die dem Freund der Nachkriegsmoderne Freude machen dürfte.

Weitere Information >>>


1746_KF_Licht

Thomas Erne, Ralf Liptau (Hg.): Licht – Material und Idee im Kirchenbau der Moderne. Band 11 der Publikationsreihe des Kirchbauinstituts Marburg KBI. 144 Seiten, 20 Euro
Jonas Verlag, Kromsdorf/Weimar, 2017

Diese Veröffentlichung über Licht im Kirchenbau der Moderne geht auf eine Tagung zurück, die 2015 in der Kapelle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin stattfand. Die Gedächtniskirche nimmt deswegen kaum zufällig eine wichtige Rolle in dieser Publikation ein. Dabei ist verdienstvoll, dass die Rolle der Glasmaler hier besonders gewürdigt wird. Nicht nur bei Gedächtniskirche, sondern auch in anderen Kirchen haben diese Künstler Wesentliches geleistet: Die Arbeit von Hans Theo Baumann prägt die Matthäuskirche in Pforzheim von Eiermann ebenso wesentlich wie die von Emil Kies und Gabriel Loire die Mannheimer Trinitatiskirche von Helmut Striffler. Und  das, was Gabriel Loire für die Gedächtniskirche schuf, gehört zu ihrer Qualität wie die Leistung des Architekten.
Der Schwerpunkt der Publikation liegt auf dem Kirchenbau der Nachkriegszeit. Die Beiträge widmen sich unter anderem der Öffnung des Kirchenbaus über Panoramafenster in der Nachkriegsmoderne, dem östrerreichischen Kirchenbau der Nachkriegszeit, dem Kirchenlicht als architektonischer Frage der 1960er Jahre. Zwei Mal wird das Thema allgemein im Diskurs des 20. Jahrhunderts verortet, zudem eine Kirche von Martin Elsaesser in der Nähe von Frankfurt von 1927/28 vorgestellt: die Gustav-Adolf-Kirche in Niederursel.
Dass das für den Kirchenbau so wesentliche Thema des Bauens mit Licht für den Kirchenbau der Moderne nicht erschöpfend behandelt werden kann, versteht sich von selbst – aber die Mischung aus exemplarischer Vertiefung und allgemeinem Überblick zur Thematik ist bei allen Grenzen, die eine aus einer Tagung hervorgehende Publikation hat, stimmig und anregend.

Weitere Information >>>


1746_KF_Karstadt

Bärbel Möllmann / Andrea Döring (Hg.): Zwischen Vergangenheit und Zukunft | Karstadt: Der Katalog zur Ausstellung. 112 Seiten, 18 Euro
Bocholt, Berlin, 2017

Seit 2009 stand das Kaufhaus leer, das 1970 eröffnet worden war – ein typisches Haus seiner Zeit. Im Frühjahr 2017 ist das Karstadt-Gebäude in Bocholt schließlich abgerissen worden. Dass es so kommen würde, wussten die Bocholter schon eine Weile – der Leerstand sei ein Schock gewesen, so die Stadtplanerin Andrea Döring. Er markierte das Ende einer Phase der Stadtgeschichte, die die Stadt zu einer Einkaufsstadt eigener Qualität gemacht hatte. Aber die Abhängigkeit von nationalen wie globalen Entwicklungen hatte auch hier ihren Preis – der Eigentümer, KarstadtQuelle, war gezwungen, einen harten Sanierungskurs zu fahren. Mit einer Ausstellung von elf Künstlern haben der Euregio Kunstkreis Bocholt, die Kuratorin Bärbel Möllmann und Andrea Döring der Enttäuschung und der Desillusionierung ein Format gegeben, das es erlauben könnte, den Schock zu verarbeiten. Im Rahmen eines Workshops haben die Fotografen das Haus gemeinsam erkundet und Spuren der Vergangenheit, des beginnenden Verfalls und des Vandalismus festgehalten – in mal berührenden, mal bedrückenden Bildern, in Ausschnitten, Details, Totalen. Man mag es kritisieren, dass der Kunst zukommt, den Abriss noch zu nobilitieren, da er aber schon vorher beschlossen war und so oder so gekommen wäre, ist dieser Weg, von einem Stück Stadtgeschichte Abschied zu nehmen, um sich auf das Neue einlassen zu können, sicher nicht der Schlechteste.

Weitere Information >>>