Ein Ort, der ohne Hindernisse und für jeden erreichbar ist, birgt wenig Geheimnisvolles. Sitzt man aber in einem Bus, vor dessen Fenstern die Fabrikschornsteine der Wiener Peripherie in sanfte Hügel mit Karomuster übergehen, verspricht der Ausflug eine besondere Erfahrung: Die einer Verbindung von Architektur, Landschaft, Natur und Zeit.
Der Bus hält in Eisenstadt im österreichischen Burgenland, wo die Architekturgalerie Raumburgenland bis zum 20. Mai 2022 in der Ausstellung „out of the blue“ das Land-Art-Projekt „Die Grube“ des Kurators und Designers Peter Noever zeigt. Kernstück der Ausstellung ist ein großflächiges Landschaftsmodell. Auf diesem streuen sich, ausgehend von einer kreisrunden Vertiefung, architektonische Interventionen als Stahl. Eine Topografie ohne Maßstab. Verrieten nicht die Bilder im zugehörigen Katalog, dass sich eine lebensgroße Entsprechung des Modells wenige Kilometer entfernt in einem ehemaligen Bergwerk wiederfinden lässt, könnte es sich ebenso gut um eine Mondlandschaft handeln. Viele Neugierige werden sich mit diesem eigentümlich abstrakten Eindruck zufriedengeben müssen. Das Gelände, in das Peter Noever seit nahezu fünfzig Jahren seine architektonische Kunst webt, steht Besucher:innen nur selten offen. Glücklicherweise ist die Ausstellungseröffnung ein solcher Anlass.
Sparsame Auskünfte
Bekannt wurde Peter Noever (*1941) neben seiner künstlerischen Arbeit als Direktor des MAK (Museum für angewandte Kunst Wien), dessen künstlerische Leitung er von 1986 bis 2011 innehatte. Im Rahmen des zwischen 1988 und 1993 in Zusammenarbeit mit dem Architekten Sepp Müller vorgenommenen Museumsumbaus gewann er bedeutende Künstler wie Donald Judd, Barbara Bloom und James Turell. Sie entwarfen ortsspezifische Kunstwerke, die das Haus und seine Umgebung bis heute prägen.
Der Künstler ist wenig auskunftsbereit, was sein Werk betrifft. Es gehe um die Verschränkung von Architektur, Kunst und Natur. Drei Begriffe, deren schiere Größe den Zugang zum Werk eher verstellt als öffnet. Der Nachsatz ist etwas greifbarer. Er habe in der Ausstellung gerade die Projekte zeigen wollen, die zwar ebenfalls auf dem Grundstück in Breitenbrunn am Neusiedler See verortet, jedoch nicht umgesetzt worden seien. Zum Beispiel „Der Turm“, ein Aussichtspunkt, der die Blickbeziehung zum See, über die Dächer des Ortes hinweg, wiederherstellen soll. Oder das „Haus mit Boot“, eine schwebende Box, die als 50 Quadratmeter großer Ausstellungs- und Kommunikationsraum geplant wurde. Beide Gebäude haben bisher keine Baugenehmigung erhalten. Während Peter Noever von ihnen spricht, wird jedoch deutlich, dass sie für ihn ebenso zum Ort gehören wie die umgesetzten Architekturen, ihm vielleicht gerade als von der Umsetzung unbeeinflusste Konzepte besonders wichtig sind. Er besteht darauf, dass seine Arbeit nicht abgeschlossen sei, obwohl das Ensemble seit über zwanzig Jahren nicht erweitert wurde.
Ins Blaue hinein
Zurück im Bus steigt die Neugierde. Die tief stehende Sonne zwischen dunklen Wolken scheint unbedingt zur Inszenierung des verborgenen Ortes beitragen zu wollen. Genau wie die Zeremonie, mit der das Betreten des Grundstücks verbunden ist. Das Eisentor eines 200 Jahre alten Weinkellers muss aufgeschlossen, ungleichmäßig ausgetretene Steinstufen hinuntergestiegen und ein längliches Gewölbe durchschritten werden, bis sich der Raum in den ausgehobenen Kreis der Grube öffnet. Egal für wie abgeklärt man sich vorher hielt, in der Grube fühlt man sich, als sei man nach dem Sturz durch Lewis Carrolls Kaninchenbau in ein archaisches Wunderland gefallen. Ein überdachter Sitzbereich. In die Wände eingelassenen Bänke und Tische aus Stein. Darauf etikettlose Flaschen mit Traubenmost und Äpfel in tönernen Schalen. Ein privater Ort, ein Wohnzimmer im Freien. So, wie Heim im Geheimnis steckt, entpuppt sich die Architekturlandschaft gleichzeitig als Refugium des Künstlers.
Wenn Peter Noever etwa einmal im Monat das Gelände besucht, wohnt er im Würfel, der durch einen Tunnel mit dem Weinkeller verbunden ist. Die Skulptur, die kein Haus sein will, stellt in ihrer spartanischen Einrichtung die Spuren des Wohnens aus. Eine Kaffeekanne auf einem schlichten Küchenblock aus Beton. Benutze Tassen im Spülbecken, aufgeschlagene Bücher auf dem Tisch.
Zurück in der Grube. Zwei weiß gekalkte Wände bilden von hier aus einem langen, zum Himmel offenen Gang, der über drei rechtwinklig angeordnete Ausgänge in das unwegsame Gelände führt. Peter Noever findet die Pfade mühelos, während das Kamerateam eines regionalen Fernsehsenders Mühe hat, die sperrige Ausrüstung durch das Gestrüpp zu fädeln. Gemeinsam ist den verstreuten Architekturen, dass Mensch, Natur und Raum in unerwarteten Konstellationen aufeinandertreffen. Aus den Löchern streng gerasterter Betonkuben wachsen junge Bäume, in den von Walter Pichler entworfenen „Sitzgruben“ sinkt man in die Perspektive eines Schwimmenden, den Boden auf Augenhöhe.
Zeitfragen
Auf diesem Gelände führt sich Peter Noever die Dinge vor Augen, die ihm etwas bedeuten. So finden sich in der Landschaft neben eigener Architektur auch Arbeiten anderer Künstler und Vorbilder. Beispielsweise die Replik eines Betonelements, das Rudolf M. Schindler 1939 in seinem „Kings Road House“ verbaute, ein frühes Beispiel für den künstlerischen Umgang mit industriell vorgefertigten Baustoffen. Durch dieses Nebeneinander architektonischer Ideen entsteht eine dreidimensionale Gedanken- und Gedächtniskarte, in der der Künstler weiter formt, sich wiederum von den entstehenden Räumen beeinflussen lässt.
„Ich denke, dass vieles in der Architektur deshalb scheitert, weil man in einem Augenblick alle Dinge lösen will. Das funktioniert aber nicht. Man muss natürlich nicht dreißig Jahre lang an einem Haus bauen. Wenn es aber doch möglich ist, dann ist das schon eine Art Luxus und man kommt zu anderen Ergebnissen. Das geht dann ganz automatisch. Man sagt sich: Das müsste man jetzt hier oder das dort…und so weiter“, so Peter Noever in einem im Ausstellungskatalog dokumentierten Gespräch mit dem österreichischen Architekten Klaus Jürgen Bauer.
Die Sehnsucht, die diese über lange Jahre gewachsene Wechselbeziehung zwischen Ort und Architekt auslöst, illustriert, wie weit sich die Wunschvorstellung eines „freien Entwurfs“ von den Bedingungen des Bauens entfernt hat. Wettbewerbskriterien müssen erfüllt, Kosten und Zeitpläne eingehalten und ermüdend dicke Bauordnungen berücksichtigt werden. Auch in den 70er Jahren war „Die Grube“ bereits ein Versuch, den Konventionen des Bauens zu entkommen. Heute jedoch, wo die voranschreitende Zerstörung der Umwelt unhinterfragtes Neu-Bauen moralisch unmöglich macht, wirkt die Freiheit, die Peter Noever und „Die Grube“ verkörpern, wie ein verlorenes Gut.
Diese Freiheit trifft den Kern eines Konflikts meiner Generation, die versucht, den puristischen Betonikonen ihrer Vorgänger abzuschwören, während sie gleichzeitig ihrem Zauber erliegt. Jede Pilgerfahrt zur Bruder-Klaus-Kapelle Peter Zumthors vertieft diese Kluft zwischen Wollen und Sollen ein wenig mehr. Aber warum bleibt in der „Grube“ die sonst damit einhergehende Mischung aus Ärger und Neid aus? Es liegt an der Anwesenheit des Künstlers, an der Zärtlichkeit, die seiner Verbindung zum Ort innewohnt. Gerade im Hinblick auf die Herausforderungen der Zukunft gilt es diese Beziehung in der eigenen Gedanken- und Gedächtniskarte festzuhalten, weil sie im Gegensatz zu atmosphärischem Sichtbeton, einen existenziellen Raum der Zuwendung, der Verantwortung und gegebenenfalls des Widerstandes (*) zu öffnen vermag.