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Die routinierte Nutzung des öffentlichen Raums und die Behauptung seines politischen Gehalts wird mit dem Schafstall im Berliner Hansa-Viertel auf die Probe gestellt. Bild: Folke Köbberling

Es war eine Demonstration, und es war Teil einer Kunstaktion. Vor wenigen Wochen initiierte die Künstlerin Folke Köbberling in Zusammenarbeit mit Schäfern eine Demonstration der besonderen Art. 200 Schafe zogen durch Berlin, vom Haus der Kulturen der Welt über die Straße des 17. Juni ins Hansa-Viertel. Die Aktion sollte auf die prekäre Lage von Schäfern hinweisen. Doch die künstlerische Intervention leistet mehr: Sie trifft tief ins Mark des routinierten und selbstgefälligen Stadtdiskures.

Es sah ein bisschen aus wie auf einer normalen Demo, als am 15. September 200 Schafe, Schäfer und Sympathisanten durch Berlin zogen. Mit Slogans wie „Nur mit Schäfer, Schafen, Ziege und Hund, bleibt das Grünland artenreich und bunt“ wurde eine Weideprämie für die landschaftspflegerische Leistung der Schäfer gefordert, denn auskömmlich ist der Schäferberuf in Zeiten von Billigimporten und Massentierfarmen schon lange nicht mehr.

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Demonstration der Tiere im Tiergarten. Bild: Matthias Reichelt

Mit der Demonstration wird aber auch der Forderung nach ökologischem Stadtumbau Ausdruck verliehen, soll das Diktat und die Dominanz des Automobilverkehrs in Frage gestellt werden: In anderen Ländern haben freilaufende Schafe grundsätzlich Vorfahrt.

Insofern ist diese Demonstration eine in unseren Demokratien erlaubte und übliche Form, für ein Interesse, für ein Defizit Aufmerksamkeit zu bekommen, um damit möglicherweise politisch zu wirken. Bauern, die Mist vor Parlamenten abliefern, sind die bekanntere Form dieses Typus, mit dem auf die Lage von Menschen aufmerksam gemacht wird, die in der Stadt sonst nicht zuhause sind und sich von der politischen Vertretung in den Städten zu wenig beachtet fühlen.

Idyllenkonflikte

Hier ist die Sache aber komplexer. Denn diese Demo ist eine künstlerische Aktion. Folke Köbberling und die Schäfer produzieren mit der Demonstration Bilder von Schafen in der Stadt, die auf eine komplexe Verschränkung von Stadt und Land hinweisen, wie sie in der begrifflichen Gegenüberstellung nicht abgebildet wird. In der üblichen konventionellen Lesart von „der Stadt“ und „dem Land“ werden weder Abhängigkeiten und die daraus resultierende Verantwortung, noch die tatsächliche Siedlungs- und Bewirtschaftungsrealität abgebildet. Unsere Konsumgewohnheiten produzieren Wirklichkeiten jenseits der Städte, die mit der Vorstellung vom erfüllten Leben auf dem Land wenig gemein haben. Siehe die Realität der Schäfer, die bei der Wolle aufgrund des Preisverfalls sogar noch draufzahlen, da die Kosten für die Schur weit über den Erlösen liegt. Und die Wolle, die sich nicht verkaufen lässt, muss als Schlachtabfall entsorgt werden.

Umgekehrt ist in kleinteiligen Siedlungsstrukturen mit Gärten die Artenvielfalt höher als in der intensiven Landwirtschaft. Füchse, Wildschweine, Papageien, Nutrias, Waschbären sind inzwischen selbstverständlicher Teil städtischer Fauna. Schäfer und Schafe in der Stadt könnten deswegen Teil einer Wirklichkeit sein, in der die idyllische Vorstellung des Landes als Ort unveränderlichem Rückzugsort vor den Zumutungen des permanenten Wandels aufgehoben wird. Gleichzeitig ist eine Form der landwirtschaftlichen Nutzung wie die Schafshaltung oder der Haltung anderer Nutztiere, die die künstliche Trennung zwischen Stadt und Land aufreibt, gerade dort möglich, wo die Stadt nicht den städtischen Idyllenbildern von geordneter Dichte und der Trennung von öffentlicher und privater Sphäre folgt. Diese städtischen Idyllenbilder sind nicht weniger Inszenierungen eines Ideals als es die der Naturparks sind. Es ist deswegen nicht zufällig, dass sich die Aktion im Hansa-Viertel verortet, der Bauausstellung der 1950er Jahre, die die Stadtlandschaft als Ideal formulierte und der dichten Stadt der Gründerzeit ein anderes Bild von Stadt entgegen setzte, das vom Gedanken der Vermittlung zwischen dichter Stadt und Landschaft beseelt war. Zwar entspricht es dem heutigen Leitbild der „guten“ Stadt nicht mehr, aber es prägt unsere Städte dennoch wesentlich.

So fremd auf den ersten Blick die Schafe in der Stadt wirken mögen, so wenig sind sie also tatsächlich fern der tatsächlichen Realität der Nutzung des Raums der gesamten Stadt, der Stadtränder, der Regionen, in der sich unterschiedliche Vorstellungen, Produktionsweisen und Funktionsbereiche verschränken. Das Bild, das Köbberling durch die Demo schuf, nimmt prägnant auf diese Komplexität Bezug – und ist gerade darin das, was künstlerische Arbeit leisten kann.

Alternativen des Raums

 

Mit dem Projekt Nachbarn auf Zeit löst Köbberling die Forderung nach Flächen für gemeinschaftliche Nutzung ein, die im Hansaviertel entgegen ursprünglicher Absichten nie eingelöst wurde. Bild: Folke Köbberling

Köbberling besetzt damit aber gleichzeitig auch ein Terrain, das die Künstlerin schon seit Langem bearbeitet. Es geht um die Frage, wem der öffentliche Raum gehört – und was es heißen kann, wenn er tatsächlich allen gehören soll, wenn er nicht nach strengen Normen reglementiert ist, die den Anschein der Ordnung bewahren und den öffentlichen Raum als ein Bild konservieren, in dem sich der Mensch nur wie in einem Bild bewegen darf: als kontemplativer Betrachter, der nichts ändern darf – ihn also eigentlich nicht benutzen darf.
Dieses Bild der Landschaft ebenso wie des städtischen Panoramas als einem Gegenüber, das die Welt als geordnet und unveränderlich inszeniert, ist eines der Macht, denn es setzt voraus, dass es eine Instanz gibt, die die Regeln vorgibt, nach denen dieses Bild bewahrt wird, und die Störungen und Alternativnutzungen sanktionieren kann. Eine aktive Verhandlung über diese Räume wird so wirksam unterbunden.

Die Räume der Stadt der tatsächlichen Nutzung zu öffnen heißt, das unveränderliche Bild des Ideals in Frage zu stellen. Und es heißt, aktive politische Auseinandersetzungen zu führen über die Regeln und Freiheiten dieses Raums. Das bedeutet Konflikt – und die Bereitschaft, den Konflikt zu vermitteln, was aber erst dann möglich ist, wenn er als ein solcher anerkannt wird, wenn also einander widerstrebende Interessen grundsätzlich akzeptiert werden und nicht die Haltung eingenommen wird, dass das hegemoniale Bild das alternativlose ist. In diesem Zusammenhang spielt eine Rolle, dass die Schafsdemo eingebunden ist in das Projekt Nachbarn auf Zeit – es sollen fünf Schafe für einen Monat im Hansa-Viertel bleiben. Hier steht nun ein umgebauter und mit Wolle behängter Holzstall, Bewohner des Hansa-Viertel kümmern sich um die Schafe, Personen, die sich vorher nicht kannten und nun zueinander finden können.

Zum anderen verbleiben 400 Kilogramm Rohwolle der 200 Schafe, die Teil der Demonstration waren, im Hansa-Viertel – um manuell von Bewohnern und Interessierten verarbeitet zu werden, um die Kluft zwischen Roh- und Endprodukt des Konsumalltags zu schließen, in dem die Herkunft und Verarbeitung der Produkte ausgeblendet ist. Gerade also dort, in der Stadtlandschaft der 1950er Jahre, wo die Stadtidylle der Intellektuellen von heute fern scheint, die so gerne von der Stadt und der Urbanität als der Vermittlung von Widersprüchen und Ambivalenzen schwärmen und sie in die Konsensform der dichten Stadt der eindeutigen Regeln gießen wollen, wird der Konflikt inszeniert. Das ist umso prägnanter, als das Hansaviertel selbst einmal eine Form eines Ideals war, in der auch Gemeinschaftsnutzungen im öffentlichen Raum vorgesehen und gefordert, aber nie realisiert wurden.

Heute ist das Ideal ein anderes, eines das mit der Aufhebung von Nutzungstrennung und Dichte eine andere Form der gesellschaftlichen Integration inszeniert. Die Vorstellung eines Konflikts, wie er mit der Schafsdemo sichtbar gemacht wird, kommt in diesem Ideal der geordneten Stadt der vermeintlichen Ambivalenzen freilich nicht vor. Denn dort ist der Konflikt auf dessen Behauptung heruntergekocht – tatsächlich stattfinden soll er nicht. Die Mehrdeutigkeit und Polyvalenz der durchmischten Stadt der Gründerzeitviertel ist ein zutiefst befriedete, ein hegemoniales, ein um seine Spitzen, seine Ecken, seine Stacheln bereinigtes Leitbild, das keine Alternativen zulassen will, da von ihm behauptet wird, es könne die Komplexität der Stadt in sich aufzunehmen. Wirkliche Konflikte werden anderswo in der Stadt ausgetragen.

Konsequenzen konstruierter Realität


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Die Erzählung der städtischen Pastorale ändert sich, wenn echte Schafe ins Spiel kommen. Bild: Matthias Reichelt

Darauf verweist Köbberling mit ihrer Aktion. Mit den Schafen wird aber, und das gibt der Arbeit von Köbberling eine besondere Tiefe – gerade das Bild aufgerufen, das für den Inbegriff der Idylle schlechthin gelten darf: das der Pastorale, in der der Schäfer zur Staffage gehört. Englische Landschaftsgärten sind der durch die Bewirtschaftung mit Schafen entstandenen Vegetationsformen nachempfunden: dem Scherrasen mit Gebüsch und Hutebäumen, durch Mahd, Tritt und Verbiss stabilisiert. Dieses importierte Bild wurde in der Stadt der Nachkriegsmoderne – wie in den Landschaftsgärten – nachgebaut und bis heute aufwändig gepflegt, da es nicht der Vegetation entspricht, die sich ohne oder mit geringerem Pflegeaufwand einstellen würde.

Köbberling wendet also die Zutaten der Idylle gegen diese. Die Schäfer als echten Teil der Landschaft, die künstlich inszeniert wird, anzuerkennen, heißt nichts weniger als die konstruierte Wirklichkeit auf ihren Gehalt kritisch zu befragen – auch auf ihren politischen. Schäfer und Schafhaltung sind ein Produkt von Kultur und Ökonomie – sie erhalten beispielsweise die von den Städtern geliebten Kulturlandschaften der Schwäbischen Alb oder der Lüneburger Heide. Ihre Leistung anzuerkennen wäre also mehr als gerechtfertigt, setzt aber voraus, diese Landschaften als Konstruktionen zu begreifen, setzt voraus, sich einzugestehen, dass Landschaften eben auch anders konstruiert werden könnten. Köbberling fordert nichts weniger als die Anerkennung der Realität, die durch die Konstruktion erzeugt wird – und die damit als Konstruktion sichtbar wird. Sie fordert die Anerkennung der Realität durch die Politik, und sie fordert die Aufrichtigkeit der Planer, der Urbanisten, der Intellektuellen gegenüber den Bildern, mit denen sie operieren.