Moderne in Brasilien: In Italien geboren, war die nach Brasilien gezogene Lina Bo Bardi nie Teil der dortigen Avantgarde, sondern eine sehr eigenständige Künstlerin und Architektin, deren Werk erst spät anerkannt und bekannt geworden ist. Überfällige Würdigungen – und mit ihrer Kritik an europäischen Entwicklungen – rücken sie mehr und mehr in die internationale Architekturgeschichte.
„Ich wurde in Rom geboren, in Prati di Castello, einem Vorort, der entstand, als die Stadt Hauptstadt Italiens wurde. Ich wollte nie jung sein. Was ich wirklich wollte, war eine Geschichte zu haben. Im Alter von 25 Jahren wollte ich meine Memoiren schreiben, aber es fehlte mir der Stoff dazu.“ So beginnt die autobiographische Notiz Lina Bo Bardis (1914-1992), die den interessanten Katalog der aktuellen Ausstellung „Poesie des Betons“ über ihr Werk in der Tchoban Foundation beschließt. Kuratiert von Tereza de Arruda sind Skizzen und Entwürfe von sechs realisierten Projekte Bo Bardis zu sehen. Dabei handelt es sich zumeist um Kultureinrichtungen: Casa de Vidro, Solar do Unhão, MASP – Museu de Arte de São Paulo, Teatro Oficina, SESC Pompéia und Casa do Benin. Es sind, so schreibt Tereza de Arruda, „Räume der Sozialisierung, geschaffen zur Förderung des Potenzials von Architektur und Kultur in der Gesellschaft“. Damit umschreibt sie den Kern des Schaffens von Bo Bardi.
Entgegen den üblichen Ausstellungskonzepten im Museum für Architekturzeichnung, werden die ausgestellten Blätter Bo Bardis durch sehr ausführliche Texte sowie durch großformatige Fotografien von Veronika Kellndorfer kontextualisiert. Das macht Sinn, denn wer kennt die sämtlichen in Brasilien entstandenen Bauten schon aus eigener Anschauung? Lina Bo Bardi, die erst spät, ja posthum, zu internationalem Ruhm gelangte, war eine charakteristische Vertreterin der Moderne. Daher verwundert es kaum, wie sehr sie sich für die Architektur des neuen brasilianischen Erziehungsministeriums (1937/43, Oskar Niemeyer, Lucio Costa nach einer Vorstudie Le Corbusiers) begeisterte, als sie 1946 zusammen mit ihrem Mann Pietro Maria Bardi (1900-1999) aus dem Nachkriegsitalien per Schiff nach Brasilien einreiste. Was als kurzer Aufenthalt geplant war, wurde zur Lebensaufgabe. Wenig später wurde Pietro Bardi Gründungsdirektor des São Paulo Kunstmuseums, dessen Entwurf ebenso von Lina Bo stammte wie der des gemeinsamen Hauses.
Kritik an Europa
Gleichwohl, so schreibt de Arruda, blieb zwischen Bo Bardi und den berühmten Protagonisten der brasilianischen Moderne Zeit ihres Lebens eine Distanz bestehen: „Es kam nie zu einem Austausch oder einer Zusammenarbeit zwischen Lina Bo Bardi und der Avantgarde der brasilianischen Architektur zu jener Zeit.“
Absolut modern, stand Bo Bardi, geprägt durch die Erfahrungen des italienischen Faschismus und des Zweiten Weltkriegs, der alten europäischen Architektur äußerst kritisch gegenüber: „Der Krieg zerstörte die Mythen der ‚Denkmäler‘. Auch in den Häusern sollte es keine monumentalen Möbelstücke mehr geben. Auch sie tragen zum Teil dazu bei, Kriege zu verursachen; Möbel sollen ‚dienen‘, Stühle sind zum Sitzen da, Tische zum Essen, Sessel zum Lesen und Entspannen, Betten zum Schlafen, und so wird das Haus nicht mehr ein ewiges und schreckliches Heim sein, sondern ein Verbündeter des Menschen, schnell und unterwürfig, der, wie der Mensch, sterben kann.“
Das eigene Haus
So erweist sich ihr eigenes Haus, die Casa de Vidro, als gebautes Gegenprogramm. Von filigranen Stützen getragen und großzügig verglast, gleicht es einem Baumhaus. Eine Tuschzeichnung des Wohnraums zeigt mit schlichten Strichen auf, wie Innenraum und umgebende Natur miteinander verschmelzen – ebenso wie der Beton ein Leitmotiv in Bo Bardis Werk. „Es repräsentiert auf zeitlose Weise das innovative Denken und die Lebensweise des Paares: einfach, engagiert, voller Vielfalt, Möglichkeiten und Schönheit. Sogar ein Teil der Möbel wurde von ihr spezifisch für den Ort entworfen.“
Dieselbe Leichtigkeit wie die Wohnzimmerzeichnung kennzeichnet ein Aquarell des Museu de Arte de São Paolo (1960/68). Selbst die später knallrot ausgeführten Stützen sind himmelblau, so scheint das transparente Gebäude zu schweben. Ganz im Sinne von Le Corbusiers Architekturdenken wird das offene Sockelgeschoss des aufgeständerten Museums bespielt. Ein weiteres Blatt zeigt auf, wie sich in diesem öffentlichen Raum ein Zirkus einschmiegt. Ob das Ausstellungskonzept für die Bilder im Museu de Arte de São Paolo, mit den massiven Sockeln, die eine Glasplatte halten, an der dann die Gemälde befestigt sind, wirklich überzeugt, das würde ich gerne einmal in eigner Anschauung überprüfen. Mag sein, dass sich so unerwartete Blickbezüge ergeben. Mag aber auch sein, dass dadurch die Eigenständigkeit der Gemälde verloren geht. Veronika Kellndorfers eindrucksvolles Foto des Raums sät jedenfalls zarte Zweifel bei mir.
Im Bestand
Bo Bardis kritisches Verhältnis zur Architektur früherer Epochen hinderte sie nicht, mehrfach im Bestand zu bauen und diesem ihre eigene Note zu verleihen. Beim Solar do Unhão, einem Komplex aus dem 16. Jahrhundert, riss sie im Rahmen der Restaurierung den zweiten Stock des Herrenhauses ab und fügte eine neue große Holztreppe ein, die in traditioneller Weise ohne Nägel konzipiert wurde. Diese Spannung zwischen Innovation und Tradition, wie sie angelegentlich in ihrer Generation auftrat und besonders bei ihrem italienischen Kollegen Carlo Scarpa zu beobachten ist, hat sie selbst sehr anschaulich formuliert: „Natürlich haben wir großen Respekt vor antiken Gegenständen, den echten, und wir haben sie auch in unserem Haus, aber als Relikte, und manchmal sind sie in Schränken verstaut. Aber eine Epoche zu verletzen, indem man ihr Gips und ausgestopfte Papptiere aufzwingt, bedeutet, sich des mühsamen und schmerzhaften Fortschritts der Menschheit nicht bewusst zu sein, wo Inkompetenz, Dilettantismus und Ignoranz sie für jeden Zentimeter, den sie in ihrem Vorwärtsstreben gewonnen hat, Kilometer zurückfallen lassen.“ Ähnliche Gedanken mögen einem angesichts der absurden Altstadtdiskussion durch den Kopf gehen, die derzeit in Berlin tobt.
Bis 22. September 2024 in der > Tchoban Foundation, Museum für Architekturzeichnung, Berlin
Schon 2014 wurde Bo Bardis Werk in München vorgestellt. Zur Ausstellungsrezension >>>