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Stadtbilder aus dem Anime-Film „Akira“: Gezeichnete Architektur ist mehr als Kulisse, sie verortet den Film in fantasievollen Varianten des wirklich Gebauten. Sie prägt die Atmosphäre des filmischen „Neo-Tokyo“ und betört einmal mehr als eigenständige Kunstform.

AKIRA, cut no. 2204, Toshiharu Mizutani, Poster colour on paper, 25 x 35 cm

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AKIRA, cut no. 1, Final production background, Detail. Toshiharu Mizutani, Poster colour on paper, 93 x 53 cm

Die Zukunft ist bereits Vergangenheit. Zumindest jene, die in dem 1988 entstandenen japanischen Science-Fiction-Anime-Film „Akira“ geschildert wird. Akiras übernatürliche Kraft zerstört dort das alte Tokio, auf dessen Ruinen Neo-Tokyo entsteht, jedoch nur, um 2019 erneut unterzugehen. Mit rasanten Kamerafahrten in dunklen Szenerien erzählt Regisseur Katsuhiro Otomo diese dystopische Geschichte. Wer „Akira“ bisher nicht gesehen hat, dem bietet die Ausstellung mit den Stadtansichten zum Film im Berliner „Museum für Architekturzeichnung“ der Tchoban-Foundation einen kurzen Trailer als Einstieg: Eine jugendliche Motorradgang gerät in die Fänge einer korrupten Macht, die mit übernatürlichen Fähigkeiten experimentiert und prompt die Stadt in den zweiten Untergang stürzt.

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AKIRA, cut no. 182. Final production background. Toshiharu Mizutani, Poster colour on paper, 55 x 42 cm

AKIRA, cut no. 700, Final production background. Toshiharu Mizutani, Poster colour on paper, 26 x 37 cm

„Akira“ hat alles, was auch Ridley Scotts legendären „Blade Runner“ ausmachte, nur dass der Film vollständig von Hand gemalt wurde. Zeichentrick ganz ohne digitale Effekte. Mit seinen 2200 Schnitten setzte „Akira“ Ende der 1980er-Jahre neue Massstäbe in der Anime-Szene und fand weltweite Beachtung, wie Kurator Stefan Riekeles beim Rundgang durch die Ausstellung schwärmt. Dass es überhaupt geklappt hat, die Hintergrundmalereien in Berlin zu zeigen, grenzt für ihn an ein kleines Wunder. Möglich wurde es, weil keine der Figuren zu sehen sind, sondern ausschließlich die Architektur Neo-Tokyos. Diese Idee fand Regisseur Otomo derart „nerdig“, dass er Riekeles Konzept zustimmte.

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AKIRA, cut no. 214, Final production background. Toshiharu Mizutani, Poster colour on paper, 25,5 x 37 cm

In Berlin werden gut 50 jener 300 Bilder gezeigt, die sich bis heute erhalten haben. Den Auftakt in Film wie in der Ausstellung bildet eine detailreiche Stadtvedute des „alten“ Tokio aus der Vogelperspektive. Im Film wandert die Kamera langsam über die lebendig wirkende Szene hinweg und mündet in jener gewaltigen Explosion, die die Stadt zerstört. Anschaulich präsentiert die Ausstellung den Arbeitsprozess von der Skizze zum Bild. Die mit Bleistift ausgeführte Entwürfe eines Stadions etwa wurden von Toshiharu Mizutani in ein ausdrucksstarkes Bild verwandelt: Hell leuchtend liegt dort das Olympiastadion, ein von Kenzo Tanges inspiriertes Stadionoval, in der Dunkelheit, während am Horizont die Hochhäuser der Großstadtsilhouette aufscheinen. Derart stimmungsvoll zeigen sich die meisten Hintergrundbilder. Sie arbeiten mit kräftigen Farbkontrasten, die viel Atmosphäre schaffen und durch ihren Detailreichtum überraschen. Zu sehen sind Straßenszenen und nächtliche Häuserschluchten, sich emportürmende Hochausgebirge und beängstigende Innenräume mit Röhren und Leitungen. Damit die Nachtszenen aber nicht im Schwarz verschwinden, verwenden die Maler dunkles Blau und Grün und dazu Violett. Das kontrastiert mit dem künstlichen Licht der Megacity in Gelb- und Orangetönen. Klassisch komplementär wie in den Bildern des Expressionismus.
Von den rund 20 am Film beteiligten Künstlern sind heute lediglich acht namentlich bekannt. Zwei von ihnen stellt Anime-Experte Riekeles in seiner Ausstellung vor, die beiden Artdirektoren Toshiharu Mizutani und Hiroshi Ohno. Gezeigt werden auch deren Arbeitsplätze, wo auf engstem Raum die bemerkenswert präzisen Bilder entstanden, die anschließend auf der großen Kinoleinwand zu sehen sind. Gemalt wird dort bis heute mit Pinsel und einer pigmentreichen Plakatfarbe, die für eine besondere Strahlkraft der Bilder sorgt. Zudem trocknet sie schnell und ist kostengünstig.
So menschenleer wie sich die Hochhauswelten von Neo-Tokyo in der Ausstellung präsentieren, erinnern sie an die immer noch gängige Praxis, Architektur unbelebt zu fotografieren. Doch dank ihrer kräftigen Palette wirken die Bilder Neo-Tokyos um vieles atmosphärischer, als die oft farbentleerte zeitgenössischen Projektpräsentationen in der Fotografie. Zugleich setzen die Veduten aus „Akira“ eine Kaskade an Assoziationen frei. Das reicht von den Carceri Piranesis über die metabolitischen Bauten Kenzo Tanges zu Filmbauten aus Fritz Langs Metropolis. Ja, es sind Stadtansichten zu sehen, in denen man sich die melancholischen Protagnisten aus Edward Hoppers Gemälden vorstellen könnte. Vermutlich ließen sich etliche weitere Verweise auf japanische Mangas und Holzschnitte entdecken. Doch auch jenseits ihrer Verankerung in westlichen wie fernöstlichen Bildgedächtnissen, lassen sich die Veduten des untergegangenen Neo-Tokyos als kunstfertige Stadtansichten genießen, die beim Wiedersehen im belebten Film staunen lassen, in einer Zukunft, die bereits Vergangenheit ist.

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AKIRA, cut. no. 2211/ Final production background. Hiroshi Ohno, Poster colour on paper, 50 x 36 cm


AKIRA – Die Architektur von Neo Tokyo >>>
bis 4. September 2022
Museum für Architekturzeichnung, Berlin

Stefan Riekeles: Anime Architecture. Imagined Worlds and Endless Megacities. Thames and Hudson, London 2020