• Über Marlowes
  • Kontakt

Überwachte Räume

2350_Bew_Raeume_Aachen_LinkedinVerrohung? Radikalisierung? Terror? Was hört und liest man nicht alles an Erklärungen der Tatsache, dass sich Gewalt in Wort und Tat in den deutschen Alltag einschleicht. Attentate, Terrorangriffe, Amokläufe, Shitstorms – das alles ist nichts Neues, aber was sich derzeit im Land verändert, hat eine andere Dimension, die sich auch im öffentlichen Raum ablesen lässt. Zudem werden die Universitäten zu Austragungsorten der Cancel Culture – zulasten der Forschungs-, Lehr- und Meinungsfreiheit. Ein aktueller Skandal an der RWTH Aachen University ist symptomatisch.


Nachtrag am 13.12.2023:
Link zum Offenen Brief an den Rektor der RWTH Aachen, Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Ulrich Rüdiger, gegen die Absage der Lecture von Mme. Phoebe Walton:
https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSdZi3ElJWcLAN7m1oqArU-saKKyylmvGMMv33hYwqPF1M572A/viewform?fbclid=PAAaZtdEcmA5g6M1sAx5v2TGzzBXbpblotgCxKlEhfXLs1aKs-L4oQwkIKrtE_aem_AbmBplnLixvk5_uyr80pS2olaQ4sw79MYZEnnEcsfgpvCfWxUez0WCASHR9-84561b4

Nachtrag am 14.12.2023:
Studierenden ist es gelungen, das „Montagabendgespräch“ am 11.12.23 selbständig und außeruniversitär stattfinden zu lassen. Eyal Weizmann und Phoebe Walton wurden in einer Zoom-Schaltung angehört. Wir danken Berna Düven für diesen Hinweis.


Immer wieder: Feind- und andere Bilder

Es bedarf einführender Sätze in die gegenwärtige Diskurslage, um den Skandal an der Architekturfakultät der RWTH Aachen University zur Diskussion zu stellen. Gelinde gesagt, ließe sich die Weltlage gerade als gereizt bezeichnen. Immer mehr Menschen prügeln aufeinander ein, schießen um sich, metzeln und meucheln, zündeln und bomben. Und sie funktioniert leider, leider immer und immer wieder: die Feindbildkonstruktion, mit der auch selbst verschuldete, missliche Verhältnisse Anderen zur Last gelegt werden sollen. Es geht im folgenden bei „überwachten Räumen“ nicht um die Überwachungskameras, mit denen Wohlhabende ihr Hab und Gut zu schützen versuchen. Nicht um „Gated Communities“, „résidences clôturées“, in denen Sicherheitsaccessoires als Statussymbol dienen. Es geht nicht um die Zaunorgien in den Einfamilienhausgebieten, mit denen der Spießer sich gegen seine Mitbürgerinnen verbarrikadiert. Diese Symptome entsprechen aus der Perspektive des öffentlichen Raums durchaus einer Ich-Bezogenheit, die seit dem Erstarken der Social Media die Aufgaben der Pädagogik 1) und einer aufklärenden Presse ad absurdum führen.
In einem bemerkenswerten Beitrag hat der Bildwissenschaftler Horst Bredekamp kürzlich auf die Rolle der grausamen Bilder zum 7. Oktober 2023 hingewiesen. Die praktizierte Willkür barbarisch agierender Terroristen, die am 7.10.23 über Tod und Leben von Feinden und Freunden entschieden, entfalte ihre Wirkung durch die grausame, fast gleichzeitige Bildverbreitung. Deswegen, so Bredekamp, kommen zivilisierte Gesellschaften um ein Bilderverbot nicht herum, analog zum Verbot kinderpornografischer Darstellungen.2) Hier geht es schlichtweg um Verbrechen – nicht um ein Cancel Culture-Phänomen.
Die Kombination ich-betonender Weltsicht mit den horrenden, unkontrollierten Reichweiten im Internet beschert Terroristen eine exzellente Horror-Bühne. Sie verunsichern zugleich freiheitliche Zivilgesellschaften aufs Äußerste und führen zu Überreaktionen, Vermischungen von Ursachen und Wirkungen, Fehlschlüssen und Verwerfungen.

Keine Lust auf Komplexität? Wissenschaft geht anders

Schleichend ändert sich hierzulande zum einen die Rolle des öffentlichen Raums als Ort für Demonstrationen und Kommunikationen – in direkter Überwachung und in Versammlungsverboten. Aber zugleich sind zum Beispiel auch der akademische Raum, die Universitäten, Kulturhäuser, Kunstmuseen und andere betroffen, die den Terror in Nahost mit dem hiesigen Antisemitismus, die Selbstverteidigung Israels mit hiesigen Rufen nach einer Existenzberechtigung nicht etwa der Hamas, sondern der palästinensischen Zivilbevölkerung berücksichtigen müssen. Hanno Rauterberg griff das Thema in der jüngsten ZEIT auf, führte groteske Beispiele an, beklagte eine drohende „diskursive Exkommunizierung“ und eine „Kultur des Verdachts: eine seltsame Mischung aus Überforderung und Feigheit. Ganz als wäre die Offenheit der offenen Gesellschaft nur etwas für Schönwettertage“.3) Wohl wahr, für unser Thema ist folgendes relevant: „jede Kritik der Andersdenkenden an den eigenen Einschätzungen [erscheine] nicht als legitime Form der Auseinandersetzung, sondern immer gleich als persönliche Attacke“. Zulasten jeder Mehrdeutigkeit, derer eine Debatte bedarf – und die die Basis jeder akademischen Freiheit ist.

Terror: gegen alle

Unabhängig vom Terror der Hamas und Israels militärischer Reaktion überlagern sich hierzulande die längst etablierten Phänomene der Cancel Culture mit der angesprochenen Verunsicherung, wobei vieles zutage tritt, was bitter ist. Ob es nun der Pianist Igor Levit 4) oder der Schauspieler und Schriftsteller Edgar Selge 5) oder andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind: Dass sie wachsenden Antisemitismus in Deutschland beklagen, muss auch als Symptom wachsender Ignoranz hierzulande gedeutet werden. Igor Levit sprach es an, und die Schriftstellerin Johanna Adorján drückte noch drastischer aus, dass die Hamas ihre Gewalt nicht nur gegen Juden, Isrealis und Palästinenser richte, sondern im Grunde gegen alle freiheitlichen Gesellschaften.6) Eine Relativierung des Antisemitismus ist das ganz und gar nicht – sondern eine Potenzierung.

Antisemitismus und Fremdenhass

Es stimmt ja für den öffentlichen Raum: Ein Mensch, der ein Kettchen mit Kreuz am Dekolltée trägt, muss sich hierzulande nicht fürchten – es sei denn, ein oder mehrere testerongesteuerte Halbwüchsige sind in der Nähe. Ein Mensch mit Kopftuch muss sich nicht fürchten – es sei denn, Alice Weigel oder Thilo Sarrazin weisen mit dem Finger und giftiger Mine auf sie. Aber ein Mensch mit einer Kippa auf dem Kopf oder einer Kette mit David-Stern um den Hals muss sich fürchten – es sei denn, ein Polizist oder zivilcouragierter Mitmensch ist in Sichtweite. Was ist hier los?
Dass sich in Deutschland eine entsetzliche „Anti-Kultur“ Bahn bricht, wundert mich persönlich nicht – Antisemitismus zum Beispiel gehört seit meinen Kindertagen zu Deutschland. Es gab in der Schule zwar einen Weltreligionsunterricht, der ethisch alle Menschen auf eine Ebene stellte. Da gehören sie hin. Es war später der Theologe Hans Küng, der mit einem „Weltethos“ die grundsätzliche Versöhnung von Religionen anstrebte, folgerichtig die Unfehlbarkeit des Papstes anzweifelte – und prompt aus der katholischen Kirche verbannt wurde.7) Aber der unterschwellige, in der deutschen Alltagssprache tief verankerte Antisemitismus blieb omnipräsent. Wie langfristig zersetzend das Gift einer antisemitischen Sprache wirkt, zeigt immer noch furchterregend Victor Klemperers 1947 erstmals erschienenes Buch LTI, Lingua Tertii Imperii.8) Was sich latent diskriminierend in der Alltagssprache findet, lässt sich nicht bürokratisch eliminieren, sondern nur in mühsamer Kultur- und Bildungsarbeit. Genau die ist in den letzten Jahrzehnten mit erbärmlicher Ignoranz vernachlässigt, eingespart, geringgeschätzt worden. Was die jüngste Pisa-Studie endlich bestätigt und weswegen bildungspolitisch niemand mehr mit Sonntagsgeschwafel davonkommt. Für Bildung fehlt das Geld, während eine Spitzenbeamtin aus Christian Lindners Ministerium „Besserverdienende“ davor warnt, dass Steuerschlupflöcher gestopft werden.

Als 2006 die von Wandel Höfer Lorch in Münchens Innenstadt gebaute Synagoge Ohel Jakob eröffnet wurde, war der Ort großräumig abgesperrt, Polizisten beherrschten das Bild. Diese Polizeipräsenz erstaunte niemanden. Und das ist das Problem. (Bild: Wilfried Dechau)

Als 2006 die von Wandel Höfer Lorch in Münchens Innenstadt gebaute Synagoge Ohel Jakob eröffnet wurde, war der Ort großräumig abgesperrt, Polizisten beherrschten das Bild. Diese Polizeipräsenz erstaunte niemanden. Und das ist das Problem. (Bild: Wilfried Dechau)

Nicht allein Antisemitismus, sondern Fremdenhass ist Alltag in Deutschland. Als Feindbildhintergrund in Deutschland eignen sich Zughörigkeiten zu Religionen, Nationalitäten, Hautfarben und vieles andere. Verbrechen der NSU, Brandstiftung in Hanau – schnell vergessen, das waren ja „Extremisten“. Waren es solche? Fremdenfeindlichkeit ist in Deutschland an der Tagesordnung, und diesem Hass sind Verwerfungen im demokratischen Streit geschuldet, der mehr und mehr der Vernunft entbehrt. Leider wird in Argumentations- und Gruppenbeschreibungen vieles durcheinander geschmissen: Jüdinnen sind nicht automatisch Israelitinnen, Palästinenser nicht automatisch Mitglieder von Hamas oder Hizbullah. Innenpolitik in Deutschland lässt sich auch schon lange nicht mehr in „rechts“ oder links“ aufdröseln, denn einst linke Politiker argumentieren sehr rechts, und mancher Rechte trumpft mit linken Parolen auf. Sind da nur Irre unterwegs? Die Misstrauen säen, kampfrhetorisch aufrüsten und sich jeder vernunftgesteuerten Debatte verweigern? Glänzend hat der Philosoph Julian Nida-Rümelin kürzlich die Cancel Culture als Thema aufgegriffen, mit der eine demokratietragende Meinungsvielfalt zersetzt wird.9)

Und nun nach Aachen

Das Programm der Aachener Montagsabendgespräche 2023 im Überblick (Screenshot der Instagram-Seite)

Das Programm der Aachener Montagsabendgespräche 2023 im Überblick (Screenshot der Instagram-Seite)

Axel Sowa, der in Aachen das Lehr- und Forschungsgebiet Architekturtheorie leitet, hatte dieses Semester im Rahmen der Montagabendgespräche 10) das Thema „Architekturkritik“ gewählt und sechs ReferentInnen eingeladen: IFA_Diaspora, Shumi Bose, Wilfried Wang, Ursula Baus [Autorin dieses Beitrags] Irénée Scalbert – und Phoebe Walton von Forensic Architecture. Bereits 2002 war Eyal Weizman – Direktor von Forensic Architecture – Gast in der Montagabendgesprächsreihe, damals noch unter der Regie von Manfred Speidel. Das aktuelle Programm wurde nun am 10. Oktober 2023 hochschulweit angekündigt und in diesem Semester erstmals in Kooperation mit dem Leonardo-Projekt der RWTH Aachen durchgeführt.

Von Cancel Culture und Angsthasen

Am 27. 11. 2023 erhielt Axel Sowa ein Schreiben eines Studierenden, der ihn im Namen einer Gruppe jüdischer Studierender bat, die geplante Veranstaltung kurzfristig abzusagen und die Gastrednerin auszuladen. Die per Mail übermittelte Bitte wurde in Kopie an den Rektor der RWTH und das Dekanat der Fakultät gerichtet. Die Studierenden beklagten ein allgemeines Klima der Indifferenz, das Fehlen von Empathie wie auch eine fortschreitende Polarisierung in der Studierendenschaft der Hochschule in Diskussionen zur aktuellen Lage in Israel und dem Gaza-Streifen. Um die Absage der Veranstaltung baten die Studierenden, da sie die Befürchtung hegten, dass der Gastvortrag zu weiteren Polarisierungen führen könne. Dazu muss man nun sagen, dass mögliche Polarisierungen eben nicht Absagen, sondern im Gegenteil offenen Diskurs nach sich ziehen sollten, und das erst recht an einer Universität. Am 5. Dezember konnte Axel Sowa mit dem Rektor sprechen und erhielt die Weisung, die Veranstaltung aufgrund einer besonderen Gefahrenlage abzusagen.

Sowa kommentierte: „Da weder die Gefahrenlage spezifiziert, noch von Polizei oder Verfassungsschutz überprüft wurde und mir der Weg einer dienstinternen Weisung in der doch recht öffentlichen Sache unangemessen erschien, habe ich dagegen das Verwaltungsgericht Aachen im Wege eines einstweiligen Anordnungsverfahrens angerufen, das am 8. 12. 2023 den Antrag aus formalen Gründen zurückgewiesen hat, weil angeblich keine ‚Eilbedürftigkeit‘ bestehe. Ob die Weisung materiellrechtlich in Ordnung war, hat das VG Aachen ausdrücklich offen gelassen und mich auf den Klageweg verwiesen. Ich habe mein Begehren darauf gestützt, dass durch diese Weisung meine Meinungsäußerungsfreiheit und das Recht auf einen freien wissenschaftlichen Diskurs verletzt werde.“

Auch mit den sechs Studierenden jüdischer Herkunft traf sich Sowa, um zu überlegen, was denn die Hochschule in der aktuellen Situation tun könne. Es werde nicht über den Nahostkonflikt, sondern über Architekturkritik referiert und diskutiert. Die sechs Studierenden waren trotzdem gegen die Einladung von Phoebe Walton, sie werfen dem Gründer von Forensic Architecture, Eyal Weizman, eine Nähe zur BDS-Kampagne vor. Aha. Eine „Nähe“? Dann redet doch mit ihm darüber. Öffentlich. Das gehört sich so an einer Universität. Und exkommuniziert nicht seine Mitarbeiterin, die über Architekturkritik referieren soll, das ist kleinlich und einfältig, um es positiv zu sagen.

Angst? wovor?

Denn gerade gegen diesen Vorwurf der BDS-Nähe hätte sich Weizman, selbst jüdischer Herkunft und Staatsbürger Israels, erwehren können müssen. Die Studierenden und das Rektoramt agierten aus meiner Sicht nicht nur überängstlich, sondern unfair, geschweige im Sinne der universitären Aufgaben aufklärend.

Forensic Architecture ist für exzellente, fachspezifische Aufklärungsarbeit bekannt. So ist Eyal Weizman als Berater des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag tätig, der kriminelle Machenschaften aufzuklären versucht.11) Weizman hatte übrigens auch die Siedlungstätigkeiten seiner Landleute im Westjordanland untersucht. Insofern ist es eine unbegreifliche, unglaubliche Entscheidung des Rektoramtes, gegen das Prinzip der Freiheit in Lehre und Forschung zu entscheiden, das grundgesetzlich geschützt ist.
Vernunft und Diskussionsbereitschaft an Hochschulen sind um so wichtiger, als dass Jugendliche und Studierende ihr Weltbild nicht mehr aus der Schule, aus Lexika, aus Wikipedia – nicht einmal mehr aus den Suchmaschinen beziehen, sondern von Tiktok und ähnlichen Gruppen.12) Als ich meinen Vortrag zur Architekturkritik im digitalen Zeitalter im Rahmen der Aachener Montagsgespräche am 27. 11. 2023 gehalten habe, fragte ich die Studierenden, woher sie denn ihr Wissen beziehen. Fachzeitschriften liest so gut wie niemand mehr. Ansonsten: siehe oben, Tiktok usw.

2350_Student_Collective

An der UdK in Berlin am 13. November 2023 (Bild: Student_Collective, Instagram)

Universität als „Kampfzone“

Aachen fügt die Architekturdebatten-Verweigerung nun in eine Reihe ähnlicher, aber im Kern sehr unterschiedlicher Fälle an deutschen Hochschulen, die teils rechtliche Konsequenzen haben: Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht setzte sich beispielsweise gerichtlich gegen die Humboldt-Universität durch.13) An der UdK in Berlin ist, salopp gesagt, der Bär los. „Der universitäre Raum wird zur Kampfzone“, schrieb der Architekt und UdK-Präsident Norbert Palz zu Protesten am 13. November 23, bei denen Studierende aneinandergerieten, die zuvor in Instagram- und sonstigen Chatgruppen nicht etwa argumentativ, sondern proklamativ vorbereitet waren.14) Mit rot gefärbten Handflächen – eine Anspielung auf Lynchmorde im Jahr 2000 – demonstrierten dort Anwesende „für Palästina“ und meinten auf einem Banner: „It’s not complicated“. Die Aktion war gegen den Präsidenten Palz gerichtet, der die Solidarität mit Israel als UdK-Haltung erklärt hatte. Aber prekär wurde die Stimmung offenbar, weil Menschen, die gar nicht zur UdK gehören, mitagierten – in einer systemischen Konfliktorganisation, in der Agitatoren die Gemengelage aus verbreitetem Antisemitismus und allgemeiner Verunsicherung zu nutzen wussten.
Auch in den USA überschlagen sich Ereignisse an den Universitäten. Antisemitismusvorwürfe an der Harvard University, der University of Pennsylvania und am MIT führen gegenwärtig zu happigen personellen Konsequenzen.15)
Universitäten sind Räume, die, sobald die Freiheit von Forschung und Lehre attackiert wird, zu schützen sind. Wenn diese Räume aber bereits intern überwacht werden und eigene Freiheiten selbst einschränken, wird die Sache kompliziert und bedarf juristischer Konsequenzen. Wieweit politische Einflüsse in die Universitätsleitung hineinwirken, wird leider nur „vertraulich“ geäußert. Dürfte aber von erheblicher Bedeutung sein, denn, siehe Aachen, gerade die Gefahrenlage darf nicht als Argument missbraucht werden, wenn gar keine akute Gefahr besteht. Wenn die Universitäten sich selbst Fesseln anlegen, verweigern sie sich ihrer ureigenen Aufgaben.

Redet miteinander!

Angemerkt sei hier, dass juristische Auseinandersetzungen bitter nötig sind, um die freiheitliche Grundordnung zu festigen. Andreas Vosskuhle, ehemaliger Vorsitzender des Bundesverfassungsgerichts und heute Verfassungsrechtler an der Universität Freiburg, wies kürzlich darauf hin, dass weltweit die Verfassungsgerichte attackiert werden und dass man auch das hiesige Bundesverfassungsgericht schützen müsse. Es solle nicht übersehen werden, „dass Verfassungsgerichte immer ein ‚Stachel im Fleisch der Machthaber‘ bleiben und eine Art ’strukturelle Opposition‘ darstellen“.16)

Brauchen Universitäten einen solchen „Stachel“ etwa auch, um die Freiheit von Lehre und Forschung zu schützen? Eigentlich nicht, denn die Universitäten – Rektoren, Forscherinnen, Lehrende – müssen selber dafür sorgen, dass diese Freiheit gewahrt bleibt, denn sie sind laut Grundgesetz eigenverantwortlich dazu verpflichtet. Statt Forensic Architecture auszuladen, sollte das Rektoramt einen gesamtuniversitären Diskussionsnachmittag organisieren, um mit Vernunft und geeigneten Austauschformaten auf die emotionalisierten Verhältnisse zu wirken. Die Universität ist ein geschützter und damit privilegierter Raum, der die hier Wirkenden zu Freiheit in Forschung und Lehre und Meinungsäußerungen gemäß der Rechtsordnung verpflichtet. Macht es doch einfach.


1) So belegt eine Studie die Probleme, die die Ich-Bezogenheiten von Schülern und Eltern zu einem pädagogischen GAU heranwachsen lassen.

2) Horst Bredekamp: Wir brauchen ein Bilderverbot. In: Süddeutsche Zeitung, 2./3. 12. 2023

3) Hanno Rauterberg: Die große Verbiesterung, Ausstellungen werden abgesagt, Ehrenpreise nicht verliehen: Wohl noch nie war das progressive Lager tiefer gespalten. Wie es soweit kommen konnte – und was jetzt auf dem Spiel steht. In: Die Zeit, 7.12.2023, Seite 56

4) Merkt ihr eigentlich nicht, dass es gegen euch geht? Igor Levit im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo. In: Die Zeit, 15.11.2023

5) Edgar Selge: Ist das Schweigen meiner Eltern auch meines? Seit dem Anschlag auf Isreal steht für den Schauspieler Edgar Selge alles infrage. Über Deutschland, Israel, die Kultur und die Trauer. In: Süddeutsche Zeitung, 2./3. 12. 2023, Seite 17

6) Johanna Adorján: Ihr seid die Nächsten. In: Süddeutsche Zeitung, 6.12.2023

7) https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_K%C3%BCng

8) Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Aufbau-Verlag, Berlin 1947. Zahlreiche Neuauflagen

9) Julian Nida-Rümelin: Cancel Culture. Ende der Aufklärung? München 2023

10) Dieses Format wurde als Reihe von Manfred Speidel, Axel Sowas Vorgänger, 1977 ins Leben gerufen.

11) https://forensic-architecture.org
Siehe dazu: die Baunetz-Woche #551, 13. Februar 2020; zur Eröffnung von Forensic Architectures Dependance in Berlin: Jörg Häntzschel: Als säße jemand in deinem Gehirn. „Investigative Commons“: Wie Berlin zur Stadt der Zuflucht und Menschenrechtsaktivisten wird. In: Süddeutsche Zeitung 5.7.2021

12) SWR2-Forum, 22.11.23

13) Susan Vahabzadeh, in: Süddeutsche Zeitung, 9./10.12.2023

14) Claudius Seidl: Die Politik der Verdammnis. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 27.11.2023; Annabel Wahba, Carlotta Wald: Die Stimmung war aggressiv. An der Universität der Künste in Berlin eskalieren anti-israelische Proteste. Berichte aus einer Hochschule unter Schock. In: Die Zeit, 30.11.2023; Peter Richter: Doch kompliziert. Nach einer skandalösen Anti-Israel-Demonstration an der Universität der Künste in Berlin engagieren sich nun Studenten gegen antisemitische Ausfälle in postkolonialem Jargon. In: Süddeutsche Zeitung, 1.12.2023

15) Quellen nachtragen

16) Andreas Vosskuhle: In schlechter Verfassung. In: Die Zeit, 16.11.2023, Seite 8