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Bild: Christian Holl

Der Riedberg, Frankfurts größtes Stadtentwicklungsgebiet der letzten Jahrzehnte, ist kein außergewöhnlicher Stadtteil. Er sollte es nie sein. Gerade deswegen hat er eine kritische Würdigung verdient. (*)

Alle reden über Frankfurts so genannte Neue Altstadt. Sie nimmt eine Fläche von etwa 7000 Quadratmetern ein, und diese Fläche liegt zwischen Dom und Rathaus: Zentraler geht es nicht. Die Fläche des Stadtentwicklungsgebiets Riedberg umfasst etwa 267 Hektar. Die neue Altstadt fände darin also mehr als 380 mal Platz. Der Riedberg liegt am nördlichen Rand der Stadt. Von ihm nimmt außerhalb von Frankfurt kaum einer Notiz. Doch es würde sich lohnen. Es würde sich lohnen, um sich wirklich darüber Gedanken machen zu können, wie wir in Zukunft Stadt bauen wollen. Denn der Riedberg ist die Form von Stadt, die wir brauchen, um uns den Luxus einer Neuen Altstadt leisten zu können. Das, was dort passiert, basiert zu einem wesentlichen Teil darauf, dass die Leitbilder, auf denen man aufbaut, dass Routinen, nach denen man vorgeht, anerkannt sind und zu praktikablen Ergebnissen führen. Der Riedberg – nach 27 Jahren Planungs- und Bauzeit weitgehend fertiggestellt – ist ein Abbild alltäglicher Planungsrealität, einschließlich ihrer Widersprüche und einem Verständnis von Qualität, das darin besteht, kein Experiment zu wagen und so viel Normalität wie möglich zu produzieren. Normalität, die weder Aufsehen erregt noch das Risiko der Unkalkulierbarkeit enthält, das dafür sorgen könnte, dass die Vermarktung stockt oder dass es zu sozialen Spannungen kommt. Der Riedberg ist daher kein medientaugliches Projekt, auch nicht im negativen Sinne.


Realitäten und ein Leitbild


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Der Alltag, der aus all den Regeln entsteht, die unser Bauen bestimmen. Jede mag für sich genommen sinnvoll sein – aber sind sie es auch in der Summe? (Bild: Christian Holl)

Der Riedberg ist kein Experiment und kein Modellstadtteil, der neue Konstellationen, Formen, Beziehungen testet: keine aufregende Architektur, keine überraschende Formen des Städtebaus, keine Verfahren, die die üblichen in Frage stellen. Es wurde kein besonderes Gewicht auf neue Wohnformen oder Mobilitätskonzepte gelegt. Es mussten Wünsche der potenziellen Hauskäufer berücksichtigt werden, es mussten die Möglichkeiten zur Ansiedlung von Einzelhandel akzeptiert werden, es mussten den sich während der Bauzeit ändernden Wirtschaftslagen Rechnung getragen werden, die sich in der Nachfrage nach Haustypen niedergeschlagen hat – nicht immer war es realistisch, hier mit verdichtetem Wohnungsbau eine Chance auf wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Zwischenzeitlich fürchtete man, das Image des Riedbergs durch zu dichten Wohnungsbau zu gefährden. Zwischenzeitlich sollte der Eigenheimbau die Abwanderung in Nachbargemeinden stoppen, erst die Krise des Finanzsystems und die Niedrigzinsphase haben dafür gesorgt, dass verdichtet gebaut werden konnte.

Der Grundriss des Quartiers lässt deutlich erkennen, dass das formale Leitbild das der „europäischen Stadt“ ist, das seit den späten 1980ern und frühen 1990ern zum unhinterfragten Standardrepertoire des Städtebaus geworden ist. Es formuliert ein Gegenbild zu den Leitbildern der Nachkriegsepoche. Die normativen Aspekte dieses Leitbilds sind ökologischer wie sozialer Art: Als nutzungsgemischte Stadt der kurzen Wege soll sie für Reduzierung des Verkehrs, mit belebten Erdgeschosszonen für beiläufige Kommunikation und soziale Kontrolle sorgen, in der Mischung verschiedener sozialer Gruppen soll sie gesellschaftliche Teilhabe quer durch alle Schichten sichern. Um diesen normativen Ansprüchen auch tatsächlich Geltung zu verschaffen, ist es unabdingbar, so die Logik dieses Leitbilds, sich des aus der Stadtgeschichte abgeleiteten formalen Leitbildes zu bedienen. Die Zwangsläufigkeit der Kopplung von formalen an ökologisch-soziale Qualitäten darf heute angezweifelt werden, geschichtlich verständlich ist sie allemal: Das Leitbild entwickelte sich aus dem Protest gegen die Zerstörung genau dieser formalen Strukturen der alten Stadt durch die sogenannte Flächensanierung (sprich den großflächigem Abriss), in denen die sozialen und ökologischen Qualitäten evident waren. Inzwischen freilich ist dieses Leitbild ubiquitär geworden und garantiert alleine noch lange nicht, dass der entsprechende Stadtteil hohen ökologischen oder sozialen Ansprüchen genügt.


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Die europäische Stadt am Stadtrand des 21. Jahrhunderts. (Bild: Christian Holl)

Zurück zum Riedberg und den Elementen des städtebaulichen Leitbildes, die hier vorzufinden sind. Zu ihm gehören große Hauptachsen, Blöcke mit straßenbegleitender Bebauung, die durch kleinteiligere Bebauung in einer Weise ergänzt werden, dass das Straßensystem und dessen Hierarchie auch noch im Schwarzplan ablesbar ist: Große Straßen dienen der Haupterschließung, von ihnen zweigen die kleineren Straßen ab, die die einzelnen Wohnhäuser direkt erschließen. Blockrandbebauung, Zeilen, Stadtvillen wechseln miteinander ab und lassen in den Randbereichen den Blick in die Landschaft zu. An der Kreuzung der Haupterschließungsstraßen liegt ein großer Platz, an dem sich der Einzelhandel konzentriert. Breit angelegte Grünachsen gliedern das Gesamtgebiet und sind so angelegt, dass sie von jeder Wohnung mit vertretbarem Aufwand zu erreichen sind. Mit der Integration eines Universitätsstandorts wird zumindest ansatzweise versucht, das Wohnen durch eine andere Nutzung zu ergänzen. Eine Mischung aus Geschosswohnungsbauten, Reihen- und Einfamilienhäusern zielt auf eine gemischte Bewohnerschaft – auch soziale Mischung ist ein Qualitätsmerkmal, das als selbstverständlich anzustreben Teil des zugrunde liegenden Leitbilds ist. Für einige Gebäude und Ensembles – insbesondere die der öffentlichen Hand, wie dem Riedberg Gymnasium, der Marie-Curie-Schule oder Bauten der Universität – wurden Architekturwettbewerbe ausgelobt.


Die aufschlussreichen Grenzen der Routinen


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Wenn das Ernst May wüsste. Die Routine der guten Form ist zum Dogma schicken Bauens erstarrt. (Bild: Christian Holl)

Ein außerordentliche räumliche Prägnanz oder eine stringente formale Kohärenz der Architektur gehören nicht zu den Hauptanliegen der Entwicklung; den Riedberg prägt das bunte Vielerlei aus Sorgfalt, Harmlosigkeit und Groteske, wie es auch anderswo zum Alltag gehört.
All dies lässt sich aus einem Mix von für sich genommen möglicherweise rationalen Einzelentscheidungen erklären, lässt sich mit Bauvorschriften und politischen Prioritäten begründen. Die Selbstverständlichkeit, mit der das Automobil als das wichtigste Verkehrsmittel genutzt und angeschafft wird, sorgt dafür, dass die Straßen enorm breit sind, dass wesentliche Teile des öffentlichen Raums von fahrenden und parkenden Autos geprägt wird – zumal das Wohnen am Stadtrand, die Suburbanisierung, sich grundsätzlich nur wegen des Autos überhaupt erst als selbstverständliches Lebensmodelle etablieren konnte. Hier prallen also die Erwartungen, einen etablierten Lebensstil verwirklichen zu können, auf die durch den Städtebau formulierten Leitidee der Stadt des 19. Jahrhunderts. Nicht nur kollidieren dabei dichte Stadt und Mobilitätsansprüche – auch die zum suburbanen Leben selbstverständlich gehörende großzügige Versorgung mit Freiraum und einem eigenen Garten ist eine, die dafür sorgt, dass das Leitbild der dichten Stadt des 19. Jahrhunderts nur noch als verwässerte Hülle erkennbar wird.
Wie wenig die Orientierung an der Form allein einlöst, was sie leisten kann, wenn sie aus sich aus einer schlüssigen Gesamtkonzeption ergibt, zeigt das Ensemble aus 30 Einfamilienhäusern, das großspurig „Weiße Stadt“ genannt wurde. Das Bemühen, durch die Wiederholung eines früheren Erfolgs – der für die damalige Zeit wegweisenden Siedlungen, die unter Ernst May verwirklicht wurden – blieb darauf beschränkt, formale Vorgaben zu machen. Ein Gestaltungshandbuch legte die Regeln fest, die eine Ensemblewirkung garantieren sollte. Farbe, kubische Form, der Umgang mit Öffnungen, Geschossigkeit wurde unter anderem vorgeschrieben. Mit „Stadt“ hat diese Ansammlung weniger Häuser für eine besonders wohlhabende Klientel dann nun aber wirklich nichts mehr zu tun, die Qualität dessen, was Ernst May einst verwirklichte, wurde auf das Distinktionbedürfnis Wohlhabender heruntergebrochen, jeglicher Bezug zum sozialen Anliegen Mays ist diesen Häusern ausgetrieben: Die Routine der guten Form ist zum Dogma schicken Bauens erstarrt.


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Wer nicht nach gesellschaftlichen Leitvorstellungen fragt, wird in seiner Kritik am aktuellen Städtebau den Kern der Sache verfehlen. (Bild: Christian Holl)

Der Riedberg wäre aber als Modellstadtteil, an dem all das, was man an ihm kritisieren kann, nicht vorzufinden wäre, für eine Diskussion lange nicht so wichtig, wie er es in der Form ist, in der er nun existiert – weil er nur so die Grenzen der Alltagsroutinen sichtbar macht. Zu diesen Alltagsroutinen gehört eben nicht das, was man sich vielleicht im Nachhinein gewünscht hätte: ein mutigeres Mobilitätskonzept, mehr Raum für zeitgemäße Wohnformen. Was am Riedberg kritisiert werden kann, kann auch anderswo beanstandet werden. Deswegen ist die Kritik falsch adressiert, wenn sie sich allein an die hier tätigen Planer und die Architekten richtet. Eine solche Kritik nähme nicht in den Blick, was das Kritisierte hervorbringt – gesellschaftliche Normvorstellungen, politische Prioritäten, ein unsere Lebensgrundlagen ruinierendes Wirtschaftssystem.
So ist der Riedberg aufschlussreich als das Abbild der Sehnsüchte und Möglichkeiten, der Grenzen, der Träume, der Repräsentations- und Distinktionsbedürfnisse unserer Gesellschaft. Ein Stadtteil, in dem Menschen eigene Gärten haben wollen, ihr eigenes Haus und den urbanen Stadtteil, der für Autos gut erschlossen sein muss und dennoch verkehrssicher und kindergerecht sein soll. So wie er verwirklicht wurde, ist der Riedberg aufschlussreich dafür, welche Alltagsroutinen zu hinterfragen sind. Das ist viel wert – Alltagsroutinen lassen sich erst hinterfragen, wenn sich ihr Scheitern abzeichnet. Dazu gehört nicht nur die Frage der Wohnmodelle und der Mobilität, sondern auch die Grenze des städtebaulichen Leitbilds, das ihm zugrunde liegt und das nicht in der Selbstverständlichkeit die Qualitäten hervorbringt, die sich die Planer von der Form versprechen. Man sollte beginnen, sich zu fragen, wie man auf anderem Weg die Stadt entstehen lassen kann, die die Herausforderungen von heute ernstnimmt. Die sozialen, die gesellschaftlichen, die ökologischen. Reproduktionen von Stadtbildern werden das nicht leisten. Nicht in den Zentren. Und nicht an deren Rändern.


(*) Der Beitrag ist eine gekürzte und geringfügig modifizierte Version des Textes aus dem Buch „Der Frankfurter Riedberg – Stadtentwicklung für das 21. Jahrhundert“, herausgegeben von Christian Kaufmann und Michael Peterek – Mit Fotografien von Gerd Kittel. Informationen zum Buch >>>

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