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Wortwahl: kriegstüchtig

2429_Klemperer Stilkritik (137) | Das Bild, das sehr kurz nach dem Attentat auf Donald Trump entstand, mit etwas Blut in seinem Gesicht, mit zum Schrei geöffnetem Mund und gestreckter Faust, manifestiert die Radikalisierung der politischen Kommunikation in den USA. Doch bleiben wir im eigenen Land. Verteidigungsminister Pistorius (SPD) stärkt seine Etatforderungen mit dem Argument, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden. Weiß er, wovon er redet?

„kriegstüchtig“ ist etwas anderes ist als „verteidigungstüchtig“.

Victor Klemperer: LTI | Notizbuch eines Philologen. 1947. Im Aufbau-Verlag erschienen ab 1995 auch Klemperers Tagebücher von 1933 bis 1955: „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“.

Sprache ist Ausdruck des Denkens

Für unsere Rubrik „Wortwahl“ gilt dies grundsätzlich, aber wenn es um ein Wort wie „kriegstüchtig“ geht, muss nochmals betont werden, dass Sprache Ausdruck des Denkens ist. Die politische Mitte im Land befleißigt sich einerseits immer radikalerer Sprache, die extremen Ränder geben sich andererseits immer öfter vermeintlich moderat. Ausnahmen bestätigen eine klare Entwicklung, die nichts Gutes ahnen lässt. Für die Hochschätzung sprachlicher Analysen ist und bleibt ein Buch des Philologen Victor Klemperer (1881-1960) aktuell: Das „LTI – Notizbuch eines Philologen“ erschien 1947 im Berliner Aufbau Verlag und befasste sich damit, wie Nationalsozialisten ihre Politik mit Sprache verbrämten und die nationalsozialistische Sprache in den Alltag sickerte.(1) Latent ist die Gefahr, Sprache genau für das Verschweigen und Verbrämen zu nutzen, in der Politik immer gegeben. Um so wichtiger ist es, genau zu lesen, genau hinzuhören, um zu begreifen, was vorgeht.

Häuser, Städte, Infrastruktur: alles kaputt

Neuerdings soll nun die Bundesrepublik „kriegstüchtig“ werden, wofür Milliarden Euro aus dem Haushalt oder einem Sondervermögen gebraucht werden, die anderswo im Haushalt fehlen werden. Gewinne aus Rheinmetall-Aktien fließen derweil auf private Konten, die Russen trachten nach dem Leben des Rheinmetall-Chefs – verrückt, das alles. Was Krieg mit Architektur zu tun hat, sehen wir tagtäglich in Gaza und der Ukraine – und leider vielerorts sonst auf der Welt. Häuser, Städte, Infrastruktur: Alles, was zu einem menschenwürdigen Leben gehört, ist Ziel von Raketen und Bomben, wird in Schutt und Asche zerlegt. Alle Kriegsstrategien laufen auf Zerstörung hinaus. Menschenleben? Laufen unter Kollateralschäden. Ich habe mich – nebenbei – nie mit der Totenunterscheidung „Soldaten“ versus „Zivilisten“ zufrieden gegeben. Ein toter Mensch ist ein toter Mensch.
Kriegsziele sind in der Regel absurd – zwischen Befreiungskriegen und Eroberungskriegen liegt eine immer wieder bestürzende Bereitschaft zur menschenverachtenden Gewaltanwendung, die sich friedlicher, auch entbehrungsreicher Auseinandersetzung widersetzt. Wäre es einfach, für die Menschheit eine allen zuträgliche, friedliche Daseinsweise zu entwickeln, gäbe es keine Kriege. Oder doch? Darum kann es im Folgenden nicht gehen – vielmehr rückt in den Vordergrund, was „kriegstüchtig“ für ein Land bedeutet, das sich grundgesetzlich nur verteidigen darf. Und sieht man kurz auf weltweite Dimensionen der Kriegszerstörungen, kann dies in Konzepten der Architekturtheorie, die Ruinenkult durchaus thematisiert, nicht ausgeblendet werden.

Die Erweiteterung der NATO seit 1949 (Bild: Wikipedia)

Die Erweiteterung der NATO seit 1949 (Bild: Wikipedia)

Wettrüsten und Wiederaufbau

Lapidar wird beim aktuellen Nato-Jubiläum mitgeteilt, dass in der Bundesrepublik „übergangsweise“ ab 2026 Langstreckenraketen und Marschflugkörper Typ Tomahawk (mit Nuklearsprengkörper bestückbar) wiederstationiert werden. Mit diesen Waffen kann man von hier aus zum Beispiel Moskau erreichen. Boris Pistorius argumentierte in der Tagesschau, man brauche Systeme, die auch „einem möglichen russischen Aggressor deutlich machen, wir sind in der Lage und bereit, uns zu verteidigen“, so der Verteidigungsminister und fügte hinzu: „Jeder Schlag gegen uns wird auch beantwortet werden – und das auch konventionell. (…) Wir sind selbst gefordert, solche Systeme zu entwickeln“. Doch bis solche Systeme in Europa produziert werden können, werde es noch dauern. „Bis dahin unterstützen uns die Amerikaner“, so Pistorius, indem sie die entsprechenden Systeme zur Verfügung stellen würden.(2) Naja, der ehemalige und wieder mögliche US-Präsident Donald Trump ist halt ein unzuverlässiger Gesell‘, da will man sich lieber selber gegen Russland „wehren“ können.

Aber zunächst gehe es um „Abschreckung“ der Russen. Und die reagierten prompt: Europäische Hauptstädte seien „potenzielle Opfer“. Dass sich hier der Beginn neuen Wettrüstens abzeichne, sieht Boris Pistorius überhaupt nicht: „Von Wettrüsten kann keine Rede sein.“(3) Und immer an Frieden denken, mahnt Robert Habeck : „Wir dürfen nicht dabei stehen bleiben, in Kriegsszenarien zu denken. Die Arbeit muss auf den Frieden gerichtet sein“.(4) Klingt nett, wie eine Besänftigung derer, die mit der Friedensbewegung in den 1980er erfolgreich bewirkt hatten, dass diese Angriffswaffen wegkamen.
Auf Frieden in der Ukraine bereitet sich die Republik natürlich vor: Im Juni traf man sich in Berlin zu einer „Wiederaufbaukonferenz“ mit 2000 Gästen aus 60 Ländern.(5) Viele Unternehmen aus Deutschland haben bereits „Adressen“ in Kiew.



Die „Parlamentsarmee“

Doch zurück zur Kriegstüchtigkeit, der seit Menschengedenken auch Meisterwerke der Baukunst, auch Heimat gewordene Alltagsarchitektur zum Opfer fallen. Christoph Mestmacher(6) zitierte in der ARD einen Satz aus der aktuellen „nationalen Sicherheitsstrategie“: „Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähige Präzisionswaffen befördern“.(7) Damit ist gemeint, dass in Europa eigene Marschflugkörper entwickelt werden. Und das bewirkt durchaus eine Kriegs- und nicht nur Verteidigungstüchtigkeit, so schwierig es ist, eine scharfe Grenze zwischen beiden Tüchtigkeiten zu ziehen. Diese Wiederaufrüstung werde nicht öffentlich erklärt, weil, so Mestmacher, entsprechende Gespräche nie öffentlich geführt werden. Aber wir sollten einfordern, dass sie das sollten.

Denn die Bundeswehr ist eine „Parlamentsarmee“. Auf der Website des Verteidigungsministeriums heißt es: „Bevor deutsche Truppen im Ausland stationiert werden können, muss der Bundestag zustimmen. Das Parlament hat aber noch weitere wichtige Mitwirkungsmöglichkeiten. Zum Beispiel entscheidet es über den Verteidigungshaushalt. Auch deshalb ist die Bundeswehr eine Parlamentsarmee.“(8)

Weiter steht dort: „Inwieweit und in welcher Form der Bundestag einem bewaffneten Auslandseinsatz zustimmen muss, regelt seit 2005 das Parlamentsbeteiligungsgesetz. Es legt die Mitwirkungsrechte und mögliche Vorbehalte des Deutschen Bundestages fest. Die Zustimmung zu einem Einsatz ist grundsätzlich auf zwölf Monate begrenzt und muss – bei Bedarf –  nach Ablauf dieser Frist verlängert werden.“ Maßgeblich kommt es dort – wie so oft – auf den entsprechenden Ausschuss an.(9) Es war das Bundesverfassungsgericht, das 1994 darauf gedrungen hatte, Bundeswehreinsätze außerhalb der Nato gesetzlich zu regeln.(10) Nun sieht es so aus, als ob nicht SoldatInnen ins Ausland sollen, sondern von Deutschland aus Ziele im Ausland mit Waffen avisiert werden können. Was der Ukraine verweigert wird, erlaubt sich Deutschland zur Selbstverteidigung?

Das Parlament dient dem demokratischen Austausch von Argumenten, auch, um Entscheidungen für die Bevölkerung nachvollziehbar zu machen. Von Militärexperten wird nun immer wieder darauf gedrungen, Flugabwehrsysteme (Abfangjäger) an die Ukraine zu liefern, damit die russischen Angriffe in ihrer Zerstörungswucht gleich vor Ort verhindert werden können.(11) Im besten Sinne verteidigungstauglich, weil Gebäude und Infrastruktur und Menschen geschützt werden können. Solche Systeme liefert die Bundesregierung nicht, „weil man nicht wisse, ob die Ukraine damit nur Drohnen und Marschflugkörper abfangen werde oder ob sie die Flugzeuge auch ‚für andere Aufgaben‘ nutzen wolle – zum Beispiel gegen Bodenziele“.(12) Wenn im „kriegstüchtigen“ Deutschland im Verteidigungsfalle Raketen bis Moskau reichen, darf die verteidigende Ukraine nichts über die Grenzen hinaus tun? Sieht so das Vertrauen in einen mit deutschen Waffen unterstützten Staat aus?

Abfangjäger statt Marschflugkörper

Erinnern wir uns ans Jahr 2002, Deutschland verteidigte sich am Hindukusch – wie es der damalige Verteidigungsminister Peter Struck formulierte: „Um zu verdeutlichen, worum es wirklich geht, habe ich davon gesprochen, dass unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird.“(13) Und Struck weiter: „Diese moderne Sicherheitspolitik lässt sich geographisch nicht eingrenzen. Denn die Risiken und Bedrohungen in der heutigen Welt kennen keine Grenzen. Sie berühren uns auch über große Entfernungen hinweg.“

Deutschland verteidigt sich jetzt mit Langstreckenraketen „abschreckend“ gegen russische Aggression. Und bezieht damit Kriegstüchtigkeit auf einen neuen „Kalten Krieg“? Kanzler Scholz hält sich wie so oft bedeckt und lässt Boris Pistorius reden. Es ist Sommerpause. Ist Boris Pistorius danach Kriegsminister? Es hätte doch genügt, wenn Boris Pistorius davon geredet hätte, das Land tatsächlich „verteidigungstüchtig“ zu machen und die Ukraine genau darin, in der Verteidigung stärken zu wollen. Jeder hätte begriffen, was damit gemeint ist. Die parlamentarische Debatte könnte sich erstmal mit Abfangjägern für die Ukraine statt mit Marschflugkörpern für die Bundesrepublik befassen.

Es gibt ihn, den Unterschied zwischen „verteidigungstüchtig“ und „kriegstüchtig“.

Und er kann, ja, muss im Parlament und in der Öffentlichkeit debattiert werden, bevor entschieden wird.

Die belgische Stadt Ypern, zerstört im Ersten Weltkrieg (© William Lester King, 1919; Library of Congress, wikifree)

Die belgische Stadt Ypern, zerstört im Ersten Weltkrieg (© William Lester King, 1919; Library of Congress, wikifree)


(1) Victor Klemperer: LTI ­– Notizbuch eines Philologen. 1947

(4) ebda.

(7) ebda.

(11) Ausführlich: Konrad Schuller: Wie lässt sich Putins Terror stoppen?

(12) Auskunft auf Anfrage der F.A.S., zitiert von Konrad Schuller