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Welche Rolle die Zerstörung von ikonographisch charakterisierbaren Kunstwerken und Bauten in Kriegszeiten spielt, in denen Feindbilder zur Kriegspropaganda gehören, wissen wir aus der Geschichte. Was in der Ukraine eingedenk ihrer komplizierten jüngeren Geschichte gerade passiert, wirft Fragen auf, wieviel eine Geschichtspolitik im Krieg an Komplexität bewältigen kann.
oben: Der „Bogen der Völkerfreundschaft“, 1979-81; der „Riss“ ist eine Intervention des Künstlers Volodymyr Kuznetsov von 2018. Die Skulpturen sind 2022 entfernt worden. (Bild: Olha Gorkova)

In der Ukraine ist der Umgang mit dem Kulturerbe der Sowjetunion ein sensibles Thema. Seit Beginn der russischen Aggressionen 2014 ließen Behörden vielerorts Denkmäler oder Bauwerke zerstören, die als Relikte der sowjetischen Ära gelten, selbst wenn es sich dabei um Werke ukrainischer Autoren oder um repräsentative Gebäude von Rang handelt. Grundlage dafür ist ein im Mai 2015 erlassenes Gesetz zur „Dekommunisierung“ öffentlicher Räume, dessen Geltungsbereich schrittweise ausgedehnt wurde – von Lenin-Denkmälern und Straßennamen über ideologische Motive baubezogener Kunst bis zu Vorzeigebauten der Sowjetmoderne. Neuerdings sind sogar zentrale Orte ukrainischer Gedenkkultur betroffen, wie alarmierende Nachrichten aus Kiew bekunden.

Das Weltkriegs-Museum in Kiew

"Mutter Heimat", 1981 (Bild: Wolfgang Kil)

„Mutter Heimat“, Monumentalskulptur des ukrainischen Künstlers Vasyl Borodai, 1981. Im Sockel befindet sich das Museum. (Bild: Wolfgang Kil)

Am 20. März 2024 gab das Museum für die Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg folgende offizielle Erklärung heraus: „Aktuell vorrangige Aufgabe der Museumsmitarbeiter ist das Konzept einer Dauerausstellung, die über den Jahrhunderte währenden bewaffneten Kampf der Ukrainer für Freiheit und Unabhängigkeit informiert. Die bislang bestehende Ausstellung muss sich vom sowjetischen Narrativ befreien, das jahrzehntelang den Mythos des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘ propagierte. Der Umbau der Ausstellungsräume hat bereits begonnen. Das Skulpturenensemble ‚Schlacht von Kursk‘, ein Beispiel bolschewistischer Propaganda in der Monumentalkunst, wird abgebaut und dem Depot des Museums zugeführt. Der nächste Schritt im Prozess der Museumsveränderung wird die Neugestaltung der gesamten Denkmalsanlage sein, wozu die Demontage sämtlicher Denkmäler und Elemente sowjetischer Propaganda gehört.“

Krusker Schlacht (Bild: Wolfgang Kil)

Figurengruppe „Schlacht bei Kursk“, Monumentalskulptur des urkainischen Künstlers Vasyl Borodai. (Bild: Wolfgang Kil)

Der einzigartige, elf Hektar umfassende Museumskomplex wurde 1981 in Kiew eröffnet und ist der Geschichte des Zweiten Weltkriegs gewidmet. Zentrales Element des Museums ist das 102 Meter hohe Monument „Mutter Heimat“ des herausragenden ukrainischen Bildhauers Vasyl Borodai. Im Inneren des voluminösen Sockels der Skulptur befindet sich das eigentliche, von einer Architektengruppe um Viktor Jelisarow entworfene Museum, dessen Räume sich auf zwei unterirdische und drei oberirdische Etagen verteilen. Dessen wichtigster Teil ist eine rund 5.000 m² große, kreisrunde Halle, in deren 15 umlaufenden Kabinetten der Künstler Anatoly Haydamaka mehr als 15.000 Exponate arrangiert und inszeniert hat. Das Gewölbe über der Halle ist mit einem 250 m² großen, figurenreichen Mosaik geschmückt, das sich aus einzelnen Teilbildern der Künstler Stepan und Roman Kirichenkov sowie Nadia Klein zusammensetzt.

Zugangsbereich imSockel des Ensembles (Bild: Wikicommons, Fröhlich)

Zugangsbereich zum Museum im Sockel des Ensembles (Bild: Wikimedia commons, Milena Fröhlich)

Der Weg zum Museum führt durch eine künstliche Betongrotte, die von eindrucksvollen bildhauerischen Szenen umringt ist. Fast einhundert überlebensgroße Bronzefiguren (Höhe 5,5 m) haben die Bildhauer Vasyl Borodai und Valery Shvetsov in die zerklüfteten Wände eingebettet, in Erinnerung an die „Schlacht bei Kursk“, einen der verlustreichsten Kämpfe des Zweiten Weltkriegs. Auf dem Hügel über der Betongrotte fand eine monolithische Betonplastik „Weitergabe der Waffen“ des Bildhauers Vasyl Vinaykin Aufstellung. Der Hauptplatz vor dem Museumszugang wird von einem breiten Wasserbecken flankiert, in dem drei Gruppen von Bronzesoldaten die „Überwindung des Dnipro“ symbolisieren (Bildhauer Feliks Sogoyan).

Die Museumsleitung hat nun beschlossen, das Museum vollständig umzugestalten, obwohl es sich um ein einmaliges Kulturzeugnis handelt, bei dem – getreu dem Konzept der Synthese der Künste – architektonische und bildhauerische Elemente ein organisches Gesamtkunstwerk bilden. Das Verändern oder Entfernen einzelner Elemente würde zur Zerstörung des Museumskomplexes als Gesamtidee führen. Abgesehen vom Verlust einzelner künstlerischer Objekte bedeutet die Veränderung der Museumserzählung zudem, dass die Geschichte jetzt gemäß einer einzigen, staatlich verordneten Version umgeschrieben wird. Aber sollten dekoloniale Diskurse nicht von einer Vielfalt der Narrative ausgehen?

Der Bogen der Völkerfreundschaft

Skulpturen am Bogender Völkerfreundschaft, (Bild: Wolfgang Kil, 20215)

Skulpturen am Bogen der Völkerfreundschaft, (Bild: Wolfgang Kil, 2015)

Am 28. März 2024 veröffentlichte das ukrainische Institut für Nationales Gedenken ein Gutachten, wonach die monumentale Skulptur „Bogen der Völkerfreundschaft“ in Kiew vollständig abgebaut werden soll.

"Bogender Freundschaft" (Bild: Wolfgang Kil)

„Bogen der Völkerfreundschaft“ (Bild: Wolfgang Kil, 2015)

Der „Bogen der Völkerfreundschaft“ überspannt einen zentralen Aussichtspunkt von der Oberstadt über den Dnipro hinweg auf die Kiewer Neustadt. Errichtet wurde er 1979-1981 zum Gedenken an das Konzil von Perejaslav (1654), das in der sowjetischen Geschichtsschreibung als Symbol für die Wiedervereinigung zwischen der Ukraine und Russland galt. Ursprünglich bestand das Ensemble aus einem titanverkleideten Bogen, einer 6,2 Meter hohen Doppelskulptur zweier heroischer Arbeiter und einer Figurengruppe, die das historische Konzil darstellt. Die Anlage wurde vom Bildhauer Olexandr Skoblikov und den Architekten Igor Ivanov, Serhii Mirhorodskii und Konstantin Sidorov entworfen. Die Idee des Bogens war durch den Gateway Arch inspiriert, der 1947 von Eero Saarinen entworfen und 1965 in St. Louis, Missouri (USA) errichtet wurde.

Was war und wofür steht die Sowjetkultur?

Seit die ukrainische Regierung 2015 das Gesetz zur Dekommunisierung erließ, sollen Objekte und Symbole sowjetischer Propaganda aus dem öffentlichen Raum entfernt werden. Das Problem bei diesem Gesetz war und ist, dass Kunstwerke eigentlich davon ausgenommen sind, doch im Zuge seiner Umsetzung wurden immer wieder Denkmäler und sonstige dekorative Objekte mit der Begründung entfernt, sie seien eben keine Kunstwerke, sondern nur monumentale Propaganda. Das führte zu reger Polemik und Diskussionen, insbesondere über die Möglichkeit beziehungsweise Unmöglichkeit, für die Sowjetzeit Kunst und Propaganda voneinander zu trennen. Und es stellte sich heraus, dass der Prozess der Entkommunisierung zwar leicht zu beginnen, aber praktisch nicht abzuschließen ist. Das „Sowjetische“ gehört als integraler Bestandteil zur ukrainischen Geschichte und demnach auch zur modernen ukrainischen Identität. Spuren der Sowjetkultur finden sich überall, in der Stadtplanung, der Landschaftsgestaltung, der Innen- und Außendekoration, in Haushalten und familiären Fotoalben.
Leider geht es beim Gesetz zur Dekommunisierung nicht nur um das Negieren und Verurteilen der früheren Ideologie. Es fordert die Beseitigung visueller Zeugnisse der Vergangenheit und die Stigmatisierung des kulturellen Erbes jener Zeit im Allgemeinen. Dabei soll Dekommunisierung eigentlich keine Anwendung finden für Bestände von Museen und wissenschaftlichen Sammlungen und auch nicht für Objekte, die der Geschichte des Zweiten Weltkriegs gewidmet sind (seit 2015 gilt in der Ukraine ein Gesetz zur Würdigung des Sieges über den Nationalsozialismus). Trotzdem werden Denkmäler des Zweiten Weltkriegs von Ukrainern in großer Zahl zerstört, jetzt sogar das wichtigste dem Thema gewidmete Museum in Kiew.

2022 wurden die Skulpturen abgebaut. (Bild: Olga Nosko)

2022 wurden die Skulpturen am „Bogen der Völkerfreundschaft“ abgebaut. (Bild: Olga Nosko)

Der Fall des Freundschaftsbogens scheint noch von besonderer Bedeutung, denn er wurde bereits dreimal „dekommunisiert“: Im Jahr 2018 hatte der Künstler Volodymyr Kuznetsov einen symbolischen Riss in die Oberfläche des Bogens geschlagen – siehe Bild oben – und mit dieser subtilen, aber beredten Geste die propagandistische Botschaft des Werkes unterlaufen. Im Frühjahr 2022 wurden die figurativen Bildwerke, die die ideelle Bedeutung des Bogens illustrierten, von der darunter liegenden Fläche entfernt. Die beiden bronzenen Arbeiter wurden auf Anordnung der Stadtverwaltung zerstört, wobei keiner der Urheber des Denkmals es wagte, Einspruch zu erheben. Die benachbarte Granitgruppe um Bohdan Chmelnyzki und den Moskauer Bojaren verschwand hinter einer Bretterwand. Einige Monate später wurde die glänzende Titanblechkonstruktion selbst in „Freiheitsbogen des ukrainischen Volkes“ umbenannt. Doch selbst dies reichte dem Institut des Nationalen Gedenkens offenbar nicht.

Die ukrainische Entkommunisierung hat sich so ausgeweitet, dass sie nun mit der aktuellen Kreml-Propaganda in Verbindung gerät. In Fortführung seiner Kolonialpolitik eignet sich das heutige Russland die ukrainische Geschichte und das ukrainische Erbe an. Doch der Zweite Weltkrieg gehört zur Geschichte der Ukraine, wie auch die monumentale Kunst und Skulptur der Sowjetzeit Teil ukrainischen Kulturerbes sind. Wären nicht gerade die Anerkennung und Akzeptanz dieses Erbes durch die Ukrainer ein Akt der Entkolonialisierung und damit des Widerstands gegen die Propaganda des Kremls? Doch leider ist das ukrainisch-sowjetische Kulturerbe derzeit in doppelter Hinsicht bedroht. Es wird von russischen Granaten und von ukrainischen Dekommunisierern zerstört.

(aus dem Englischen übertragen von Wolfgang Kil)