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Moos bindet Feinstaub, speichert Wasser und CO2, kühlt die Luft. Wird der Beton darunter deswegen irgendwann naturpositiv?Bild: Christian Holl
Ein neues, wachsweiches Wort taucht am Horizont der Diskussion über Nachhaltigkeit auf. Naturpositiv. Es klingt warm und aufmunternd. Die Natur wollen wir schützen, positives Denken sollten wir nicht verlernen, dann ist naturpositiv ist doch bestimmt irgendwie prima. Genau: irgendwie. Aber wie genau? Gerade das soll nicht beantwortet werden. Damit uns die gute Stimmung nicht gleich wieder verdorben wird.

Spätestens der Witz vom Zitronenfalter, der keine Zitronen faltet, lehrt, dass die Sprache, in diesem Fall die deutsche, nicht so präzise ist, wie man es gern hätte. Zusammengesetzte Wörter lassen meist offen, wie die Verbindung zwischen den beiden Bestandteilen ist; erst die Gewohnheit macht die Selbstverständlichkeit. Eine Hundeleine wird nicht aus Hunden gemacht, ein Apfelkuchen aber aus Äpfeln. Man weiß, was gemeint ist. Standorttreu sind Vögel und nicht Unternehmen, abseitsverdächtig ist nicht ein Mensch am Rande der Gesellschaft, sondern die Position eines Fußballspielers. Manche solcher Wörter haben Konjunktur, andere verschwinden. Der Stern von kreuzbrav oder ehrenrührig sank, der von zeitnah stieg in den letzten Jahren. (1) Das Deutsche ist, so könnte man sagen, kompositfreundlich; dass dies ein Wort ist, das nicht im Duden steht, Sie dennoch sicher verstehen, was ich meine, bestätigt genau das: dass das Deutsche kompositfreundlich ist. Und so werden immer wieder Worte neu geschaffen, und manche etablieren sich dann sogar auch, zukunftsfähig etwa. Bis in die 1980er war es unbekannt. So wie klimasensibel, was damals, also in den 1970-ern und 1980-ern, wohl als Synonym für wetterfühlig durchgegangen wäre, nur in groß. Auf die Idee, wetterfühlig zu bauen, musste man erst einmal kommen.

In der Nähe von tierlieb und hautfreundlich

Wörter neu zu schaffen, in dem man zwei bekannte zusammenfügt, kann Spaß machen, kann originell und überraschend sein. Neue Wortschöpfungen haben noch eine Aura des Unkonventionellen, des Offenen. Sie lassen viel Raum, im besten Fall für Poesie, aber manchmal eben auch nur für heiße Luft. Mit einem solchen Fall haben wir es hier zu tun. Naturpositiv. Noch ist es nicht so allgegenwärtig wie es in kurzer Zeit zu befürchten ist, denn naturpositiv könnte das neue Zauberwort werden, weil es außer einem guten Gefühl nichts einlöst, sondern nur ebenso vollmundige wie vage Versprechungen macht. Naturpositiv könnte gleichzeitig von Natur aus gut und für die Natur positiv sein. Das macht es so attraktiv, zumindest für die, die gerne Eindruck schinden wollen, ohne konkret werden zu müssen. Naturpositiv ist warm und freundlich, etwas Positives tut gut in diesen schweren Zeiten, und wenn es positiv für die Natur ist, dann sind wir doch alle gern dabei.

Naturpositiv liegt auf der Wohlfühlskala in der Nähe von hautfreundlich und tierlieb. Hautfreundlichkeit lässt sich durch dermatologische Tests verifizieren, ob jemand tierlieb ist, ist eine harmlose Charakterzuschreibung, die wichtiger für zwischenmenschliche Beziehungen ist als für Tiere. Naturpositiv ist nicht so konkret wie hautfreundlich aber auch nicht so harmlos wie tierlieb. Naturpositiv wurde beispielsweise in einer Arte-Sendung über bezahlbares Wohnen von Jan-Hendrick Goldbeck, dem Geschäftsführer einer großen Immobilienfirma benutzt. Er stellt dort „naturpositive Häuser zum Marktpreis“ in Aussicht. Für die 30er-Jahre. Aus dem Off erklärt eine Stimme, dass der Begriff „naturpositiv“ nicht eindeutig definiert sei. „Gemeint ist damit, dass etwas eine positive Wirkung auf die Natur hat, zum Beispiel, indem ein Gebäude mehr Energie erzeugt, als es verbraucht.“ (2) Aha. Für das große Wort eine ziemlich bescheidene Beschreibung. Plusenergiehäuser gibt es schon eine Weile, für auf andere Weise „naturpositive Häuser“ ist 2030 vielleicht etwas spät, zumal es sich offensichtlich um Neubauten handelt. Bodenversiegelung, Mobilitätsinduktion, Energiebilanz beim Bau, was ist damit?

Und überhaupt: Was genau ist mit Natur gemeint? Irgendwie alles, was lebt und nicht Mensch ist? Wie ist es mit den Wechselwirkungen, die auch mal eine Naturkatastrophe auslösen können? Sind die Schafe, die dafür sorgen, dass es in Island keinen Wald mehr gibt, naturpositiv oder naturnegativ? Wikipedia sagt, Natur bezeichne in der Regel das, was nicht vom Menschen geschaffen wurde. Also das da draußen, das Wilde, Fremde. Wo auch immer das noch zu finden ist, in der durchkultivierten Landschaft des Anthropozän. Ein Garten ist also nicht Natur, er kann deswegen höchstens „naturnah“ sein, und das nicht, weil er am Rand des Dschungels zu finden ist, sondern weil er ein bisschen so aussehen darf, als hätte der Mensch nicht eingegriffen. Dass die Grenzen zwischen uns und der Natur da draußen ziemlich durchlässig sind, könnten wir allerdings inzwischen gelernt haben. Wir sind ja auch Natur. Und das, was durch unser Wirken wächst, ob gewollt oder nicht, auch. Dann ist der naturnahe Garten so etwas wie wassernahes Schwimmen. Und dann ist da noch Lucius Burckhardt, der behauptete, dass Natur unsichtbar ist und wir ein Medium brauchen, um über sie sprechen zu können, um über das vielfältige Netz aus Beziehungen und Prozessen nachdenken zu können. Zum Beispiel einen Garten. (3) Alles nicht so einfach.

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Wieviele Büsche braucht es, damit das Haus, vor dem sie stehen, naturpositiv ist? Sind sie überhaupt Natur? Oder nur so lange sie der Buchsbaumzünsler (=Natur?) nicht kahlgefressen hat? Fragen über Fragen. (Bild: Christian Holl)

Besser wäre naturneutral

Und was ist dann positiv? Suggeriert wird, es könne etwas gemessen werden werden. Aber wie bestimme ich eine Wirkung auf etwas, das ich noch nicht einmal genau eingrenzen kann, weil irgendwie alles dazugehört? Und wenn etwas eine Wirkung hat, woher wissen wir dann, dass sie positiv ist und wir nicht nur denken, dass sie positiv sei, weil wir die Wirkungen der Wirkungen nicht berücksichtigen, wie so oft im 20. Jahrhundert? So wie es Zeiten gegeben hat, die leider noch nicht ganz vorbei sind, als auch die Atomkraft naturpositiv gegolten hätte, wenn es das Wort schon gegeben hätte – weil: wenig CO2-Emissionen. Und die Halbwertzeiten, mit denen wird die Natur schon fertig, die hat auch mehr Zeit als wir. Vielleicht geht es uns mit CCS, Carbon Capture and Storage (4),  irgendwann einmal genauso.

Vielleicht wäre es aber auch das beste, wenn ein Haus einfach nur naturneutral wäre, also die Natur einfach mal in Ruhe ließe. Geht leider nicht. Nur das nicht gebaute Haus ist naturneutral. Deshalb wird lieber von naturpositiv schwadroniert. Naturpositiv ist das, was gemacht wird, damit es auch eine Wirkung haben kann. Es schwingt gleich auch noch Tatkraft mit. Welche Wirkung? Muss man nicht so genau sagen, naturpositiv ist so positiv, dass es die Skeptiker gleich mal wieder als sauertöpfische Kleingeister in die Ecke stellt. Und so könnten wir uns noch ein bisschen länger davor drücken, endlich etwas zu ändern. Weniger Energie zu verbrauchen, weniger Material umzuwälzen, weniger Dreck zu produzieren. Wir können noch ein bisschen länger darauf verzichten, auf die Entwicklungen um uns zu achten, anstatt zu meinen, wir könnten bestimmen, wie der Hase läuft. Wir können noch ein paar Atemzüge länger die Wissenschaftler:innen ignorieren, die uns sagen, dass wir nicht einfach immer so weitermachen können, mit fossilen Rohstoffen und Wachstum um jeden Preis. Damit es nicht so weit kommt, müssen wir uns ganz schnell darauf einigen, dass der, der das Wort benutzt, uns nur Sand in die Augen streuen will. Kurzum, naturpositiv ist nebulösverdächtig, laberfreundlich und schwurbelaffin. Vielleicht verschwindet es ja bald wieder im Nebel, den es verbreitet.


(1) Nachzuvollziehen in den Velraufskurven des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache unter https://www.dwds.de
(2) Agree to Disagree! Wohnungsnot bekämpfen, ohne neu zu bauen? Deutschland 2024, online bis zum 29. Juni 2028 verfügbar bei Arte TV >>>
Die zitierte Stelle findet sich ab 14:09
(3) Lucius Burckhardt: Natur ist unsichtbar (1989). In: ders: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. Herausgegeben von Markus Ritter und Martin Schmitz. Martin Schmitz Verlag, Berlin 2006. S. 49-56
(4) Ausführliche Information zu CCS beim Umweltbundesamt >>>