Lucius Burckhardt. (Bild: Annemarie Burckhardt, ©Martin Schmitz Verlag)
Wenn Schriften und Gedanken von Menschen aktuell geblieben sind, dann kann das heißen, dass sie uns immer noch helfen, die aktuelle Geschehnisse einzuordnen. Es kann aber auch heißen, dass sich viel zu wenig von dem geändert hat, was sich eigentlich schon längst hätte ändern müssen. Bei Lucius Burckhardt trifft beides zu. Am 12. März wäre er 100 geworden.
Geboren wurde Lucius Burckhardt in Davos, zunächst studierte er Medizin, dann Nationalökonomie und Soziologie, das Fach, in dem er auch promovierte. Er war Autor, Landschaftstheoretiker, Spaziergangwissenschaftler, Lehrer, Künstler, Aktivist. Nach Gastdozenturen, unter anderem an der HfG in Ulm und der ETH in Zürich, lehrte er von 1973 bis 1997 als Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme an der Gesamthochschule Kassel, immer unterstützt von seiner Frau Annemarie Burckhardt-Wackernagel.
Objektive Distanz war seine Sache nicht, das konnte man schon früh sehen, etwa an den Texten, die er mit Max Kutter schrieb und denen Max Frisch die pointierte und provozierende Form gab. Ohne Idee und ohne die Öffentlichkeit einzubinden werde entschieden, so damals die Kritik an der Planungspraxis. Seither prägt eine mitunter brillante Klarheit seine Texte, Vorträge, Gedanken. (*) Sie sind heute aktueller denn je, weil sie genau dort ansetzen, wo die Verunsicherung beginnt, wenn man wirklich den Bestand in den Mittelpunkt der Diskussion stellt, wenn gefragt wird, wie Architektur uns bei der Bewältigung unserer Probleme helfen kann. Schon bei dieser Frage beginnt die Kritik Burckhards. Die Gesellschaft überfordere und missbrauche den Gestalter, in dem sie ihn ihre Probleme „lösen“ lasse, das schrieb er bereits 1967. Das hängt damit zusammen, dass man das, was Architekt:innen hervorbringen, auf das Sichtbare reduziert. Dass Design unsichtbar sei, hat er geschrieben, dass die Natur es sei, auch. Und unsichtbar sei eben auch die Stadtgestalt: „Unsere Umwelt, die Stadt (…) besteht nicht aus Mauern und Türmen, nicht aus Beton und Asphalt, sondern aus unsichtbaren Strukturen: aus Besitzverhältnissen, aus Bauvorschriften, aus Servituten, aus Mietzinsen, Hypothekenzinsen, Steuern, Vereinbarungen, Verboten und Geboten“, so Burckhardt 1972. Es kann eben nicht funktionieren kann, Probleme, die sich aus „unsichtbaren“ Regelungen und Vereinbarungen ergeben, mit einem Gebäude zu lösen: „Bauliches verändert das Leben nur im Verein mit organisatorischen Regeln. Organisatorische Veränderungen können Baumaßnahmen überflüssig machen.“ (1973) Die Wohnungsnot lässt sich eben nicht mit Wohnungsneubau lösen, wenn der Bodenmarkt nicht reformiert wird, wenn nicht über „Mietzinsen, Hypothekenzinsen, Steuern, Vereinbarungen“ nachgedacht wird.

Autofahrerspaziergang, Kassel 1993. Seminar Wahrnehmung und Verkehr (Foto: Bertram Weisshaar © Martin Schmitz Verlag)
Umbauen hört nicht auf
Aber auch das Umbauen ist bei aller Freude darüber, dass sehr viel mehr kritisch über Abriss berichtet wird, noch zu wenig selbstverständlich. „Für den einfachen Hausbesitzer, etwa den Bauern oder den Siedler, sind Nutzung und Umbau ein und dasselbe. Das Haus wird ständig gepflegt und repariert und ändert sich dadurch auch. Im entwickelten Bauwesen werden Bau, Umbau und Nutzung säuberlich getrennt. Die Nutzung tritt erst dann ein, wenn der Bau erstellt ist.“ (1981) Der Kern dieses Arguments, ist, dass die Nutzung sich nicht in ein Programm für den Bau eines Hauses überführen lässt, das sich nicht mehr verändert. Und weil sich Gebrauch und Nutzung entwickelt, muss sich auch das Haus verändern können. Ob Neubau oder Umbau: Unsere Vorstellung von Architektur erschöpft sich statt dessen immer noch vielfach darin, ein starres Programm zu erfüllen. „Steht der Bau, so wird er vom Architekten fluchtartig verlassen.“ (1983) Umbauen ist aber keine Makel und keine vorübergehende Erscheinung, sondern eine permanente Erfüllung des Potenzials von Architektur. Wer plant, muss Spielräume lassen: „Hier erweist sich, dass demokratische Planung nicht im raschen Entscheiden besteht, sondern vielmehr im geplanten Aufschub derjenigen Entscheidungen, die sich aufschieben lassen zugunsten der Bewohner, die erst später auftreten und dann neue Bedürfnisse haben.“ (1974)
Dieses Potenzial von Architektur ist ein emanzipatorisches, das die Rolle des Architekten und der Architektin grundlegend ändert und weit von dem entfernt ist, was als geschütztes Berufsbild von den Kammern verteidigt wird. Burckhardts Alternative zu der Art, Probleme als statisch aufzufassen und deren Entwicklung zu negieren, ist der „kleinstmögliche Eingriff“. Der ist aber wenig kompatibel mit seriellen Methoden, schematischen Programmen, die routiniert abgespult werden: „Der Gedanke des kleinsten Eingriffs ist eng verbunden mit der Ablehnung aller modellhaften Erfahrungen. Erfahrung ist nicht die Art und Weise, wie man einmal einen Eingriff erfolgreich durchgeboxt hat; vielmehr müsste die Vermittlung von Erfahrung darin bestehen, zu zeigen, wie man sich in einem besonderen Fall Information darüber verschafft, die es einem ermöglicht, sich genau dieser Situation angemessen zu verhalten.“ (1981)
Leidenschaft Landschaft
Neben dem Umbau und den als Problemlösern missbrauchten Gestaltern war die Landschaft eines der Themen, die Burckhart mit Leidenschaft verfolgte. Die Landschaft als ein Produkt aus Sehgewohnheiten, kulturellen Konventionen und sozialen Praktiken. Die Landschaft als das Konstrukt, mit dem wir uns darüber verständigen, wie wir Natur und Umwelt sehen wollen, denn ohne Landschaft, ohne Gärten ist Natur, genau, unsichtbar. Dass diese „Metaphern des Systems Landschaft im Umweltschutz mit dem System selbst verwechselt werden“ ist eine Befürchtung, die wie 1995 geäußert werden kann: Man schützt Landschaftsformen ohne die Bedingungen, die die sie hervorgebracht haben, noch gewährleisten zu können.
Um das Konstrukt der Landschaft tiefer verstehen zu können, entwickelte er die Kultur des aufmerksamen Spazierengehens, die Spaziergangwissenschaft, die Promenadologie, um all den Konventionen und Widersprüchen, die unsere Vorstellungen von Natur und Landschaft prägen, eine Form zu geben, die Erkenntnisse ermöglicht. Bekannt könnte noch das Experiment sein, für das er einen Text von Georg Forster nutzte, den der Ende des 18. Jahrhunderts auf der Reise mit James Cook beschrieben hat. Teile davon wurden auf einem Spaziergang durch einen ehemaligen Truppenübungplatz gelesen Hier wurde sichtbar, wie sehr unsere Wahrnehmung von bereits exisiterenden Bildern bestimmt ist und wie sehr Sprache uns dabei leitet, was wir in der und was wir als Landschaft sehen: Landschaft, ein Kopf-Kino.
Angesichts der dramatischen Veränderungen, die mit dem Klimawandel einhergehen, wäre es interessant, sich darüber Gedanken zu machen, ob und wie sich der Umgang mit dem Bestand und dessen Umbau ais Teil einer emazipatorischen Nutzung auf die Landschaft übertragen lässt. Wie müsste ein kleinstmöglicher Eingriff ansetzen, der nicht die Schematismen großflächiger Bewirtschaftungsmöglichkeiten bedient, sondern Eigenheiten stärkt und die Information bereitstellt, „sich der Situation angemessen zu verhalten.“ Würden wir die Idee des demokratischen Systems auch auf Flora und Fauna ausweiten, stellte sich die Frage, was es hieße, wenn auch in der Landschaft „demokratische Planung nicht im raschen Entscheiden besteht, sondern vielmehr im geplanten Aufschub derjenigen Entscheidungen, die sich aufschieben lassen“ – nun aber nicht nur „zugunsten der Bewohner, die erst später auftreten“, sondern auch zugunsten der Tiere und Pflanzen. Ein Gedankenexperiment, das dem 100. Geburtstag Burckhardts angemessen wäre.