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Eröffnung der Ausstellung.
Foto: Till Budde
„Alle 6 Minuten verlieren wir eine Sozialwohnung“ – dieser Satz erstreckt sich aktuell über die große Schaufensterfront der Architektur Galerie Berlin, um unmissverständlich und weit sichtbar ein Zeichen entlang der Karl-Marx-Allee zu setzen, dass heute andere Wege als die gewohnten erforderlich sind, um der Wohnungsmisere und sozialen Entmischung unserer Städte endlich effektivere Modelle entgegensetzen zu können. Die Architekten Sascha Zander und Christian Roth schlagen eines vor.

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Artikel 28 der Berliner Landesverfassung gesteht jedem Menschen angemessenen Wohnraum zu. (Bild: Till Budde)

Allzu lange nahmen Politik, aber auch allzu viele Bürger hin, dass in den letzten 30 Jahren die Zahl preisgünstiger Wohnungen kontinuierlich sank und das Wohnen in den deutschen Städten immer exklusiver wurde. Seit 1987 ist der Bestand an Sozialwohnungen bundesweit von 4 auf 1,1 Millionen und in Berlin von 339.000 im Jahr 1992 auf 95.000 gesunken. Über 70 Prozent der zwischen 1950 und 1990 errichteten Sozialwohnungen in Deutschland stehen heute als solche nicht mehr zur Verfügung. Sanierungsbedürftige Wohnungen an stark befahrenen Straßen, die ehemals Sozialwohnungen waren, können heute in Berlin locker für 18 Euro pro Quadratmeter und mehr auf den Markt kommen. Erst der erste Berliner „Mietenvolksentscheid“ von 2015 und dann das ungleich radikalere Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, das in einen siegreichen Volksentscheid mit 57,6 Prozent Zustimmung am 21. September 2021 mündete, führten zu mehr Engagement der Politik. Doch allein mehr Fördermittel dem Wohnungsbau mit einigen Erleichterungen der Grundstücksvergaben zur Verfügung zu stellen, ist zu wenig angesichts steigender Immobilien- und Baukostenpreise, die das Bauen weiterhin deutlich verteuern.

Wie dramatisch die Lage des Wohnungsbaus nicht nur in Berlin, sondern im ganzen Land ist, zeigen nun die Architekten Sascha Zander und Christian Roth beeindruckend analytisch und visuell attraktiv mit ihrer Ausstellung „Pionier Sozialen Wohnungsbau neu denken“ auf, die ihren Besuchenden aber auch sehr konkret einen möglichen Weg zur Problemlösung anbietet. Die beiden Gründer des Büros zanderroth, das in den letzten 18 Jahren mit zahlreichen Baugruppenprojekten wiederkehrend den Beweis erbrachte, dass kostengünstiges Bauen mit sozialer Vielfalt und hohen architektonischen Qualitäten möglich ist, wollten sich nicht mehr damit begnügen, einzelne Projekte quasi neben dem Markt zu realisieren, sondern den preisgünstigen Wohnungsbau grundsätzlich ökonomisch wie architektonisch neu zu hinterfragen, um zu effektiveren zeitgenössischeren Lösungsmodellen zu gelangen.

Verzehnfachte Grundstückspreise

Wie mühevoll sich ihre Recherchen, die Entwicklung von Modellen und wiederkehrenden Dialogangebote an die Politik gestalten würden, war ihnen jedoch 2015, als sie damit begannen, zum Glück nicht bewusst. Als überraschend schwer erwies sich schon allein das Sammeln vieler Zahlen, von der genauen Anzahl der Sozialwohnungen in Deutschland bis hin zu Bodenpreisen und Bodenreserven im öffentlichen Besitz, die sich zu einer preisgünstigen Nachverdichtung innerhalb der existierenden Stadt eignen könnten. Relativ leicht war dagegen die Aufarbeitung der Grundstückswerte in Berlin, die sich seit 2012 fast durchgängig verzehnfacht haben und heute kostengünstigen oder sozialen Wohnungsbau in der Innenstadt nahezu unmöglich machen – mit allen gravierenden Folgen für die europäische Stadt mit ihren urbanen und sozialen Mischungen von Bevölkerungsschichten und Aktivitäten.

In großen Schaudiagrammen aufgearbeitet, lädt ihre Ausstellung nun dazu ein, sich der Entwicklungen des Wohnens und Bauen in den letzten Jahrzehnte nicht nur in Berlin, sondern im ganze Lande bewusster zu werden und vor allem auch mehr über die Wechselwirkungen zu erfahren, die dafür sorgen, dass das Leben in der Stadt so teuer wurde. Normalverdiener können sich dort kaum mehr eine Wohnung leisten. Dabei kam den Architekten ihre Expertise mit Baugruppen sehr zu nutze: von Anfang an die Kosten ihre Projekte präzise ökonomisch zu kalkulieren, geeignete Grundstücke zu finden und diese dann optimal zu nutzen, aber zugleich auch quartiersverträglich ohne größere administrative Genehmigungsverfahren zu implantieren.

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Blick in die Ausstellung. (Bild: Till Budde)

Auf der Basis der gesammelten Informationen und des Baugruppen-Knowhows entwickelten dann zanderroth ihr Projekt „Pionier“ als einen möglichen Prototyp neuer sozialer Mischung auf zehn konkret zur Verfügung stehenden öffentlichen Grundstücken in Berlin, um die Wohnungsnot zumindest in relativ kurzer Zeitspanne zu vermindern: ein Gebäude mit 21 bis 23 Geschossen, das Eigentumswohnungen und zwei Kategorien von Sozialwohnungen unter einem Dach kombiniert und dabei erlaubt, noch andere Nutzungen im Erdgeschoss und Dachgeschoss anzubieten: In einem Haus auf 1.000 Quadratmetern Grundfläche und mit 60 Metern Höhe, das bis zu 320 Wohneinheiten mit 45 bis 90 oder gesamt 18.400 Quadratmetern Wohnfläche enthalten kann.

Für ihren „Pionier“ entwickelten sie dazu ein eigenes Finanzkonzept, das auf Erbpacht und einer Querfinanzierung der Sozialwohnungen durch die teureren Eigentumswohnungen aufbaut, deren Besitzer die Grundstückskosten für die Sozialwohnungen relativ leicht mittragen könnten. 160 Eigentumswohnungen von 4.830 bis 9.660 €/qm (Preis abhängig von dem jeweiligen Bodenpreis des Standortes und der Etage!) könnten so nach einer Modellrechnung 96 Sozialwohnungen zu 6,60 €/qm und 64 zu 9 €/qm möglich machen.

Für dieses Modell wären auch weniger klassische Bauträger als private oder institutionelle wie etwa Bauherrengemeinschaften und Genossenschaften geeignet, da letztere ihr Baurisiko selbst tragen und nicht wie private Bauträger mit bis zu 1.000 €/qm Risikoaufschlag absichern müssten. Außerdem verbietet europäisches Recht der öffentlichen Hand, Wohnungsbaugesellschaften öffentliche Grundstücke zu erheblich niedrigeren Verkehrswerten zu übergeben, wenn sie zugleich noch zum Bauen Fördermittel erhalten. Das Projekt „Pionier“ versucht, dagegen andere Akteuere wie Baugruppen oder Genossenschaften wieder stärker zu aktivieren, denen landeseigene Grundstücke viel leichter in Erbbaupacht überlassen werden könnten.

Keine Gespräche

Für dieses interessante Modell schlagen Sascha Zander und Christian Roth darüberhinaus vor, dass der Erbbauzins als Einmalzahlung entrichtet werden könnte, was für jeden einzelnen der vorgeschlagenen Standorte einem zweistelligen Millionenbetrag entspräche: von 11,5 Millionen Euro in Lichtenberg bis zu 38,2 Millionen auf der Fischerinsel in Mitte. Insgesamt könnte die Vergabe der zehn Grundstücke 267 Millionen Euro in den Landeshaushalt spülen, die sich entweder in dringend benötigte Infrastruktur wie Schulen, Kitas, Sportstätten oder in den Bau weiterer Sozialwohnungen investieren ließen.

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Visualisierung des Pionier auf einem Grundstück in Prenzlauer Berg, Berlin. (Visualisierung: zanderroth)

Nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein effektiver Baustein zur Minderung der Wohnungsnot – so wollen die Architekten ihr Projekt „Pionier“ verstanden wissen, das jedoch keinesfalls allein das ganze Problem lösen wird. Doch mit ihrem Wohnhochhaus als gemischt genutzte Immobilie auf landeseigenen Flächen könnten Berlin als auch andere deutsche Großstädte ihre Wohnungsnot schon heute spürbar reduzieren. Umso mehr erstaunt, dass die Architekten trotz vieler Dialogangebote seit 2015 kaum die Möglichkeit eines Gesprächs weder von seiten der Politik, noch von der der Verwaltungen erhielten. Zumindest teilten ihnen einige deutsche Großstädte nüchtern mit, dass „Pionier“ sich wohl nicht in ihren Städten realisieren ließe, da sie kaum mehr eigene unbebaute Grundstücke besäßen, die sie in Erbpacht vergeben könnten.

Berlin jedoch besitzt noch eine größere Zahl an Grundstücken, wie die Architekten in ihrer Ausstellung aufzeigen. Ob nun Christian Gaebler, Berlins gerade erst neu berufener Senator für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen die Chancen erkennt und für ein Gespräch bereit ist, werden die nächsten Wochen zeigen. Der Stadt und ihren Bewohner:innen wäre es jedenfalls zu wünschen, dass ein solches Modell wie „Pionier“, das so lange und so intensiv mit beeindruckender Eigeninitiative vorangetrieben wurde, endlich eine Beachtung seitens der Politik erfährt. Denn die alten Wege und Modelle des Sozialen Wohnungsbaus werden kaum die aktuelle Wohnungsnot lösen können, zumal wir weiterhin jeden Tag mehr kostengünstige Wohnungen verlieren als gewinnen. Und wir brauchen dazu deutlich mehr solche Architekten wie Zander und Roth, die die bestehende Verhältnisse hinterfragen und eigene Initiativen mit alternativen Modellen wagen.


Bis zum 8. Juli in der Architektur Galerie Berlin
Dienstags bis freitags 14–18 Uhr, samstags 12–18 Uhr
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