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Wider die Konvention


1992 wurden zum ersten Mal die Schelling Architekturpreise vergeben. Die Auszeichnungen, die im Oktober 2022 verliehen wurden, zeigen, wie groß das Potenzial von Planung und Architektur ist, zu einer besseren Welt beizutragen. Sie zeigen aber auch, dass dieses Potenzial noch viel viel besser genutzt werden muss.

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Viel beachtete Publikation von Itohan Osayimwese, die den Verflechtungen von Kolonalismus und der modernen Architektur in Deutschland nachgeht. (Bild: University of Pittsburgh Press)

Aus Anlass des 30-jährigen Jubiläums präsentierte die Schelling Architekturstiftung auf der Preisverleihung, die im ZKM in Karlsruhe am 26. Oktober stattfand, nochmals im Film die bisherigen Preisträgerinnen und Preisträger. 15 Mal ist der Architekturpreis bis 2022 vergeben worden, unter den prämierten Büros finden sich sechs, die nach dem Schelling- auch den Pritzker-Preis erhalten hatten. Und auch wenn ein vergleichbarer Qualitätsnachweis für den Architekturtheorie-Preis nicht zu erbringen ist, beeindruckt auch hier die Liste der Ausgezeichneten: Werner Durth, Manuel Castells, Kenneth Frampton etwa sind auf ihr zu finden; mit Keller Easterling wurde 2018 zum ersten Mal eine Frau ausgezeichnet.

2020 konnte, der Pandemie geschuldet, keine öffentliche Preisverleihung stattfinden; man holte die Würdigung der beiden Preisträgerinnen daher 2022 nach. Lina Ghotmeh, in Beitrut geboren, wo sie auch studierte, hat inzwischen ihre Zelte in Paris aufgeschlagen und nimmt von dort mit Entwürfen und Bauten Einfluss auf die Architekturdebatten. Sie versteht Architektur als Archäologie der Zukunft: Das, was ihnen widerfahren könnte, was sie bedeutend machen könnte, bestimmt die Gestalt, die Ghotmeh ihnen heute gibt. So gelingt es ihr, eine starke formale Präsenz mit einer intelligenten Mischung von Funktionen zu verbinden und dem eigenen Anspruch gerecht zu werden, „zu verstehen, dass man sich notwendigerweise immer in einem System von Beziehungen befindet.“ Den Theoriepreis 2020 erhielt die Architektur- und Stadthistorikerin Itohan Osayimwese, die sich mit der Entwicklung afrikanischer Architektur, der Bedeutung der Emigration für die Entwicklung und Wahrnehmung von Architektur und – vielbeachtet – mit dem Einfluss des Kolonialismus auf die deutsche Architektur von 1850 bis in die 1930er Jahre befasst.


Die Region, der Raum der Stadt


Ph: Fabrizio Stipari

Paola Viganò. (Bild: Fabrizio Stipari)

Im Mittelpunkt der Jubiläumsveranstaltung standen aber die Preise von 2022. Schon zuvor war bekannt, wer mit dem Preis für Architekturtheorie – im übrigen einem der ganz wenigen renommierten Preise für diese Disziplin – geehrt werden würde: Es ist Paola Viganò, die aus Mailand stammt und in Lausanne und Venedig lehrt. Sie verknüpft in ihrer Arbeit Theorie und Praxis, hat als Stadtplanerin etwa den Theaterplein in Antwerpen entworfen und sich mit Entwürfen an der Diskussion um die Gestaltung von Grand Paris oder Brüssel 2040 beteiligt. In ihren theoretischen Arbeiten nimmt sie den regionalen Kontext in den Blick und macht dabei sichtbar, dass nur auf dieser Ebene eine Stadt zu denken ist, die den Herausforderungen des Klimawandels gewachsen sein wird, dass dafür die Peripherien, die Grünräume und Wasserläufe zu einem Grundgerüst der Planung gemacht werden müssen. Ihrer interdisziplinären Arbeitsweise, die sie mit anderen Stadtforscher:innen, Architekt:innen und Wissenschaftler:innen zusammenführt, ist es geschuldet, dass sie die Stadtregion nicht auf ihr Potenzial als ökologischen Raum reduziert, sondern sie auch in ihrer sozialen und ökonomischen Dimension sieht. Dabei wird mit einem geschichtlichen Blick die Strukturierung des Raums durch Typen und Muster analysiert, die sowohl im Sinne von Foucault disziplinierende Funktionen einnehmen, aber auch „Instrumente zur Umverteilung von Reichtum durch die Bereitstellung von Wohnraum und Stadtqualität für die Massen“ (*) sind. Diese Analyse bezieht Viganò in Lehre, Forschung und Praxis auf die Realität der Region des 21. Jahrhunderts, unterzieht Bestand und Territorium einer Neuinterpretation und entwickelt daraus den Schlüssel zu einer gerechten Stadt.


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„Unité(s)“ in Dijon, Sophie Delhay Architecte. (Bild: Bertrand Verney)

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„Unité(s)“ in Dijon, Sophie Delhay Architecte. Auf einem Raster aufbauend sind 40 Wohnungen entstanden. Die Grundidee: Ein zentraler Raum zwischen den Fassaden erhöht die Wohn- und minimiert die Erschließungsfläche. Auch Loggien und Terrassen sind aus der Idee des flexiblen Grundrissrasters entwickelt. (Bild: Bertrand Vernay)

Sozialer Wohnungsbau, endlich zeitgemäß


Höhepunkt des Abends war die Verleihung des Architekturpreises, auch, weil die Jury erst am Abend selbst entschied, wer mit ihm ausgezeichnet werden würde. Drei Finalisten waren vorab nomminiert worden: SummacumFemmer aus Leipzig, LaCol Arquitectura Cooperativa aus Barcelona und Sophie Delhay aus Paris. Bei dieser Auswahl der Finalisten hatte sich das Kuratorium dazu entschieden, „das Themenfeld auf den Wohnungsbau einzugrenzen, genauer: auf die Bewohnbarkeit des Planeten, auf kollektives Wohnen, das global relevante Fragen knapper (Material- und Boden-) Ressourcen, Energie und sozialer Verantwortung aufwirft“, wie es in der Jubiläumspublikation heißt. Anders als zuvor hatten die ausgewählten Kandidat:innen zwar die Möglichkeit zu kurzen Statements, die Präsentation ihrer Arbeiten wurde aber im Film von je zehn Minuten vorgestellt. Während in den Arbeiten sowohl von SummacumFemmer als auch von LaCol der Umbau eine große Rolle spielt, die Projekte dieser beiden Büros auf kollektiven Prozessen beruhen, deren Schlüssel in Gemeinschaften wie etwa Genossenschaften und einer starken Übereinstimmung in Anliegen und Sprachfähigkeit von Architekt:innen und Nutzerschaft liegt, präsentierte Delhay vor allem sozialen Wohnungsbau. In einer beeindruckenden Konsequenz zeigte sie in ihren Projekten, die seit 2008 in Lille, Nantes, Dijon und Paris realisiert wurden, dass auch im sozialen Wohnungsbau, innerhalb eines eng gesteckten Korsetts, Architektur möglich ist, die das Verhältnis zwischen Räumen für die Gemeinschaft und denen für die Individuen neu justieren.

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Sophie Delhay (Bild: Sophie Delhay Architecte)

Es war am Ende diese kontinierlich weiterverfolgte und variierte Haltung, gerade im sozialen Wohnungsbau das gemeinschaftliche Wohnen zu forcieren, die die Jury dann am Abend bewogen hat, den Preis Delhay zuzuerkennen. „Ihre über Jahre hinweg entwickelte, systematische Entwurfsmethodik setzt erst einmal jeden Raum mit seinen möglichen Nutzungen in Beziehung, übersetzt diese in Diagramme und Zeichnungen und fragt erst dann nach der passenden Gestaltung“, so heißt es in der Laudatio. In Workshops mit den Bauträgern, deren Hausverwaltungen und Bauabteilungen überzeugt Delhay die Bauherrschaft, und entwickelt ihre Ideen dabei weiter. Zudem reagiert Delhay darauf, dass im sozialen Wohnungsbau die zukünftigen Nutzer:innen meist unbekannt sind, indem sie eigene, ältere Bauten besucht und die Bewohner:innen nach den Erfahrungen fragt, die sie mit dem Gebäude gemacht haben, um sie in neuen Bauten berücksichtigen zu können. Und auch in den neuen Bauten sorgen Schiebetüren, nutzungsoffene Raumkonzepte und verbindende Gemeinschaftsflächen für eine adaptionsfreundliche Struktur. Es lohnt sich, genauer hinzusehen.


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Haus B von SummacumFemmer – errichtet mit einfachen Mitteln und mit einer anpassungsfähigen Struktur ausgestattet. (Bild: SummacumFemmer)

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La Borda im Südwesten Barcelonas, ein Projekt von LaCol, ist ein aus Holzmodulen gebautes Haus mit 38 Wohnungen und großzügigen Gemeinschaftsflächen. (Bild: Lluc Miralles)

Das Publikum hatte dann auch Gelegenheit, ein Votum abzugeben – am Ende wurden SummacumFemmer der Publikumspreis zugesprochen.


Zur Internetseite der Schelling Architekturpreise >>>
Zu den Internetseiten der Preisträgerinnen und Nominierten
2022
Architekturpreis: Sophie Delhay Architecte >>>
Nominiert: LaCol Arquitectura Cooperativa >>>
Nominiert: SummacumFemmer >>>
Theoriepreis: Paola Viganò – Studio Paola Viganò >>>
2020
Architekturpreis: Lina Ghotmeh Architecture >>>
Theoriepreis: Ithohan Osayimwese >>>

(*) Paola Vigano: Typen, Prototypen und das Projekt Stadt. In: Andri Gerber, Regula Iseli, Stefan Kurath, Urs Primas: Morphologie von Stadtlandschaften. Gechichte, Analyse, Entwurf, Reimer Verlag, Berlin, 2022, S. 51–65, hier S: 58

Achim Geissinger über zwei Gebäude von Sophie Delhay in Dijon in der deutschen bauzeitung: >>> und >>>
Zu beiden Gebäuden in der bauwelt >>>