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Geschichte geht zu Ende. Macht nichts. Man muss es ja nicht sehen. Bild: Dennis Skley, flickr.com, CC BY-ND 2.0


Marktgeschrei (10): In den besten Momenten ist es ganz großes Theater. Worüber sich Menschen (den Autor dieses Texts eingeschlossen) so aufregen können, wenn sie sonst nichts zu tun haben, ist schon toll. Dabei wird so manches übersehen. Zum Beispiel nichts weniger als eine Revolution – vor unserer Haustüre.

Ein Blick in die Feuilletons der letzen beiden Wochen hat den Eindruck vermittelt, dass sich die Architektenwelt eigentlich und ausschließlich um ein innerstädtisches Neubauprojekt mit Rekonstruktionspuder dreht, mit dem gerade mal, grob über den Daumen gepeilt, ein Hundertstel jener Fläche überbaut wurde, die täglich in der Bundesrepublik für die sogenannte Flächenneuinanspruchnahme verbraten wird. Wer also jemals behauptet hat, dass Architektur in den Feuilletons nicht angemessen repräsentiert sei, der weiß nun: Hier wird über Architektur genauso erbittert gestritten wie über eine Stellenbesetzung in Berlin oder eine Operninszenierung in München. Es wird also auch hier wird über etwas gestritten, was die Realität gerade mal mit einem Achselzucken zur Kenntnis nähme, wenn sie nicht so viel zu tun hätte und es sich auch mal gönnen könnte, aus dem Ohrensessel, mit Pfeife und Weinbrand ausgestattet, diesem lustigen Auseinandersetzung zuzuschauen. So ein Streit, das ist ein bisschen wie ein Dschungelcamp für Intellektuelle, auch hier müssen sich die Kandidaten mit so manchem Unappetitlichen abgeben und als Lohn bekommt der Sieger dann, sagen wir mal, einen Kritikerpreis.

Andere sind womöglich der Meinung, dass der Abstieg des Hamburger SV aus der Fußball-Bundesliga mindestens die gleiche Relevanz für die Verfasstheit der Bundesrepublik hat wie beispielsweise die Frage, ob die documenta generell und ausschließlich nach Kassel gehört. Und sich darin (also im Abstieg des HSV) möglicherweise der Niedergang des deutschen Fußballs und damit all der Tugenden, für die dieses Land so gerne sich selbst stehend sieht, widerspiegelt. Dafür spricht immerhin einiges. Die deutsche U17 kann bei der Europameisterschaft schon nicht mehr mithalten, die Frauenmannschaften gewinnen nicht mehr einen Titel nach dem anderen. Die Klubmannschaften reißen auf europäischer Ebene auch keine Bäume mehr aus und dass ausgerechnet die Frauenmannschaft aus Winterkornhausen, pardon, des VfL Wolfsburg eine Ausnahme darstellt, weil sie im Championsleaguefinale steht, ist bitterste Ironie des Lebens. Zum Glück ist noch keiner auf die Idee gekommen, es könnte helfen, die deutsche Fußballnationalmannschaft in Trikots und Ausrüstung antreten zu lassen, die so aussieht, als seien sie von 1954, wahrscheinlich ist 2014 noch zu nahe. Aber wer weiß? Gäbe es darüber einen Feuilletonstreit, würde ich mir vielleicht sogar einen Ohrensessel anschaffen. Aber auch nur vielleicht.

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Alle Bilder: Christian Holl

Türen, Tore, Theatrica

Denn die wirklich wichtigen Dinge geraten über alldem in den Hintergrund. Zum Beispiel hat keiner gemerkt, dass am 21. März die 5000 Jahre währende Herrschaft der klassischen Haustüre zu Ende gegangen ist. Naja, immerhin wissen wir jetzt, dass es sie gab, diese Herrschaft, auch wenn wir uns nicht so recht vorstellen können, dass eine Tür im alten Ägypten eine Ähnlichkeit mit einer Baumarkttüre von heute viel zu tun hat, sagen wir mal mit dem Modell „ThermoSpace Berlin RC2“, ausgestattet mit einer 5-fach Verriegelung mit vier Schwenkhaken.

Am 21. März wurde sie nämlich in Nürnberg, einer Stadt für große Geschichte, vorgestellt, die Eingangswand „Theatrica“ von der Firma Pirnar. Und da das Ende von 5000 Jahren Geschichte uns den Atem raubt, uns schwindlig wird und wir kaum mehr in der Lage sind, einen klaren Satz zu formulieren, zitieren wir aus der Meldung, die uns dazu erreicht hat – auch, um auch nicht ein Jota der möglicherweise entscheidenden unser Leben änderen Information zu unterschlagen. „Theatrica hat keinen Griff, weil sie keinen braucht. Sie benötigt keine Türbänder, weil sie nicht schwenkt. Theatrica verschwindet magisch in der Wand und zieht sich magisch aus ihr heraus. Sie ist wunderschön, mit zeitlosen Formen. Die Eleganz von Pirnar. Aus Holz, Stein, Glas, Aluminium oder etwas anderes, etwas was Sie schon immer am Haus sehen wollten. Eine wundervolle Farbpalette mit imposantem Glanz. 
Noch nie zuvor wollten Sie minutenlang vor einem Eingang stehen und dabei zusehen, wie dieser sich öffnet, schließt, öffnet, schließt… Jetzt werden Sie das tun wollen.“ Wir stellen uns vor, wie in Zukunft Menschen landauf landab staunend vor ihrer eigenen Tür stehen, nur um sie auf- und wieder zu zu gehen sehen. Es muss erhebend sein, Geschichte zu erleben. Vielleicht kauft sich der ein oder andere einen Ohrensessel und setzt sich vor seine neue Haustüre. Die kann auch sicher so aussehen, als käme sie aus dem Kaiserreich, (welchem auch immer), vielleicht sieht sie sogar aus wie eine ganz alte, eine wie sie schon die alten Ägypter hätten haben können. Das immer wieder verschwinden zu sehen – wie erhebend! Aber, Moment mal, automatische Schiebetüre, Zugangskontrolle, Überwachungssoftware, Retrolook, das sollte es noch nie gegeben haben? Ach was, und wenn schon, wollen wir uns in die Reihe der unangenehmen Journalisten einreihen, die meinen kritische und unbequeme Fragen stellen zu dürfen? Nicht doch. Nein, lieber jubilieren wir in höchsten Tönen: So wünschen wir uns eine Versöhnung aus Alt und Neu, aus Modernität und Traditionsbewusstsein, von Technik und Sentimentalität, von Kassel und Athen. Einen Wermutstropfen gibt es dann aber doch. Den HSV-Fan wird all dies nicht trösten. Für ihn hat sich gerade das Tor der ersten Bundesliga bis auf weiteres geschlossen. Aber, und auch das ist nicht ganz so neu: Es kann sich auch wieder unvermutet öffnen. Fragen Sie mal in Nürnberg nach.