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Bild: Christian Holl

Eine düstere, knappe Bestandsaufnahme zur „Baugeschichte auf dem Lande“ war von Wolfgang Bachmann hier vor Kurzem zu lesen. Bachmann provozierte damit möglicherweise, um neue Strategien vehement einzufordern, für die Qualitäten des Vorhandenen ebenso zu werben wie gute Beispiele sichtbar zu machen. Die Autorin dieses Beitrags fühlte sich dadurch aufgerufen, „das Land“ aus einer räumlichen Perspektive zu beleuchten und das Thema Baukultur in einen größeren Zusammenhang einzuordnen.

Im Text von Wolfgang Bachmann war von der Abwesenheit von Baukultur die Rede, von Menschen, „die den Absprung noch nicht geschafft und kaum Kraft und Zeit dafür haben, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und an der Wahlurne ihren Unmut über eine Politik ausdrücken, die nur auf die rentablen Städte schaut“. Anhand einiger Beispiele und Symptome beschrieb er einen von ihm wahrgenommenen Niedergang in Dörfern im Pfälzer Wald: Gebäudeleerstand, fehlende Infrastrukturangebote – und eben mangelnde Baukultur.

Gerhard Henkel schreibt hingegen in seinem einschlägigen Werk über „Das Dorf“ noch 2011 fast schwärmerisch: „Das Dorf wird geliebt – von Alt und Jung, von Städtern und Landbewohnern. Was fasziniert die Menschen am Dorf? Ist es die Naturnähe und das Leben mit den Jahreszeiten? Ist es die Schönheit der in Jahrhunderten gewachsenen Kulturlandschaft? Die Überschaubarkeit, die Ruhe und das scheinbar einfache Leben? Ist es die Dichte der sozialen Beziehungen oder das Festhalten an Traditionen und alten Werten?“ (1)

Was kann wohl passiert sein in diesen wenigen Jahren zwischen 2011 und 2019? Ist seitdem „alles den Bach hinuntergegangen“? Oder sind die beiden Diagnosen einfach nur zwei Seiten derselben Medaille? Sind Verallgemeinerungen nicht meist mit Vorsicht zu genießen? Welche Erfahrungen und welche Erwartungen führen dazu, eine städtische oder ländliche Umgebung als attraktiv und lebenswert oder als vorwiegend defizitär einzustufen?

In drei Thesen und einer abschließenden Frage möchte ich meine zentralen Gedanken zu diesem Thema in aller Kürze beschreiben, wohl wissend, dass die einzelnen Aspekte hier nur angerissen werden können. Sie speisen sich aus der eigenen Herkunft aus einer ländlichen Region, aus langer Erfahrung mit dem Leben in Großstadt und Verdichtungsraum und aus der beruflichen Beschäftigung mit der in Politik und Planung nach wie vor gängigen und schillernden Kategorie „ländlicher Raum“.

1. Kulturlandschaften mit ihren Städten und Dörfern sind Ausdruck global wirksamer Prozesse

Im Bild- und Textband „Abseits“ hat Claudio Hils Ansichten von Landschaften und Siedlungen in der Region Oberschwaben veröffentlicht. Peter Renz kommentierte sie: „Die Brachialgewalt, mit der sich gegenwärtig Veränderung vollzieht, gleicht fast jener eiszeitlichen Vergletscherung, unter der sich einst die Moränenhügel bildeten, die das heitere Erscheinungsbild unserer Gegend ausmachen. […] Doch rühren heute andere Kräfte an den Schlaf der ländlichen Welt. Ihr Ziel ist: ökonomischer Nutzen, ein Prinzip, das längst wie eine zweite Natur alles Lebendige durchdringt.“ Und weiter: „An die Stelle von historisch gewachsenen, meist kleinteiligen Lebens- und Arbeitsformen tritt die Maßlosigkeit der Moderne.“ (2)

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Realität auf dem Land. In der Stadt ist sie auch nicht besser. (Bild: Christian Holl)

Eine globalisierte Wirtschaft, eine industrialisierte Landwirtschaft, der Bedeutungsverlust des örtlichen Handwerks, stetig zunehmende Mobilität, aber auch großflächiger Einzelhandel meist in zentralen Orten, der zunehmende Online-Handel und in die Großstädte drängende junge Menschen, der steigende Flächenbedarf pro Kopf und eine Angleichung der Lebensstile in Stadt und Land – all das prägt die Orts- und Landschaftsbilder. Der demografische Wandel und die häufig negative Wanderungsbilanz sorgen in strukturschwachen ländlichen Regionen für einen besonders hohen Anteil von über 60-jährigen. Gebäudeleerstand und desolat wirkende Ortskerne mit viel befahrenen Durchgangsstraßen auf der einen, uniforme Neubaugebiete an den Rändern auf der anderen Seite beeinträchtigen die von so vielen offensichtlich erwartete Landidylle. Uniform und fantasielos neu bauen ist in der Regel billiger und weniger aufwändig als ein für die Region charakteristisches, meist viel zu großes Bauernhaus, Schulhaus, Gasthaus  etc. umzunutzen oder zu renovieren. Was zu teuer ist oder nicht rentabel erscheint, wird aufgegeben oder unterlassen. In Regionen mit guten Böden finden sich intensiv bewirtschaftete Ackerflächen so weit das Auge reicht, in wirtschaftsstarken ländlichen Gebieten eher unterbrochen von einem ausladenden Gewerbegebiet als von einer Baumgruppe. Fast jeder Quadratmeter, der Gewinn verspricht, wird ökonomisch genutzt. Dies trifft im Übrigen auch auf die Wälder zu. Die von der Regionalplanung vorgesehenen Grünzüge (etwa entlang von Flusstälern), die von weiterer Bebauung möglichst freizuhalten sind, entfalten zu selten die gewünschte Steuerungswirkung. Dringend erforderlicher Klima- und Landschaftsschutz sind nach wie vor erst in zweiter Linie relevant.

Aber auch in vielen altindustrialisierten, städtischen Gebieten vollzieht sich ein massiver Strukturwandel teilweise verbunden mit Bevölkerungsrückgang. Gerade die Großstädte sind genauso vollständig dem ökonomischen Prinzip unterworfen. Dort stellt sich die Frage nach der vorhandenen oder abwesenden Baukultur und Baugeschichte mindestens genauso. Aber anders als in den Städten scheint es insbesondere für den Erholung suchenden Großstädter nicht hinnehmbar zu sein, dass ländliche Idylle schwindet.


2. Ländliche Räume sind vielfältig und die Übergänge fließend
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Kulturlandschaft am Ausläufer des Harzes. Bild: Christian Holl

Naturräumliche Gegebenheiten wie Topographie, Gestein, Böden, Gewässer und Biosphäre prägen Landschaften. Himmelweite Unterschiede bestehen zwischen dem Schwarzwald und der Hohenloher Ebene, der Mecklenburgischen Seenplatte und dem Harz. Unter anderem haben diese Unterschiede die Siedlungsgeschichte gesteuert und zur Ausbildung charakteristischer, vom Menschen bewirtschafteter Kulturlandschaften geführt. Mit dem Beginn der Industrialisierung und dem späteren Übergang in die Dienstleistungsgesellschaft nimmt die Kleinteiligkeit von Landnutzungen sukzessive ab, wenig lukrative Landnutzungen verschwinden. Dies hatte im Laufe der Geschichte auch positive Effekte auf Vielfalt und Reichtum von Ökosystemen (wie das Wachstum von Hecken auf Steinriegeln zwischen zu Grünland gewordenen ehemaligen Äckern in der Schwäbischen Alb). Konold hielt fest, dass es schon immer Dynamik in der Landschaft gab, diese aber offensichtlich zugenommen habe. Seine Forderung zur Stärkung der Identifikationsmöglichkeiten von Menschen mit ihrer Umgebung lautet: „Die Kulturlandschaften werden einerseits Spiegelbild der großen Trends sein, sie müssen aber auch Kontinuen, Formen der Vertrautheit, ja, ein Gerüst der Vertrautheit aufweisen.“ (3)

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Stufen von Ländlichkeit und sozioökonomische Lage. Bild: Thünen Institut für Ländliche Räume

Und was ist mit den nicht unmittelbar sichtbaren Unterschieden ländlicher Räume, die sich lediglich über statistische Sekundärinformationen analysieren lassen? Das Thünen-Institut für Ländliche Räume hat in einem „Landatlas“ eine aktuelle Typisierung und Charakterisierung ländlicher Räume in Deutschland ausgearbeitet. (4) Interessant und wichtig ist an der Einstufung von „Ländlichkeit“, dass sie nicht gleichbedeutend mit „strukturschwach“ ist. So ermöglichen die entstandenen Karten des Landatlas einen genaueren Blick auf Problemstellungen und Potenziale unterschiedlicher ländlicher Räume. Insbesondere weite Teile von Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz,  Sachsen-Anhalt und Thüringen sind als (sehr) ländlich eingestuft worden. Legt man die Karte der sozioökonomischen Lage daneben, ergibt sich demgegenüber – 30 Jahre nach dem Mauerfall – eine recht klare Zweiteilung in Ost und West. Baden-Württemberg kann fast flächendeckend als sozioökonomisch überdurchschnittlich gelten. Kleinräumig variieren aber auch in Baden-Württemberg die Merkmale von Ländlichkeit und sozioökonomischer Lage.


3. Baukultur ist kein Selbstzweck, sondern entsteht durch und für Menschen

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Von Bürgerinnen und Bürgern entwickelt. Bild: Martin Wypior & Gemeinde Bernau im Schwarzwald

Was ist eine schöne Stadt? Was ist ein schönes Dorf? Wer definiert, was Baukultur, was ein schönes und was ein hässliches Haus ist? Genauso kann man fragen: Was macht eine schöne Landschaft aus? Schönheit scheint für unser Leben notwendig zu sein. Baukultur kommt jedoch häufig als etwas Elitäres, Luxuriöses daher, etwas, das man nicht unbedingt braucht, möglicherweise weil sie in der breiten Bevölkerung wenig vermittelt wird und in keinem Lehrplan von allgemeinbildenden Schulen auftaucht. Viel ist in diesen Tagen von gesellschaftlicher Spaltung die Rede. Wolfgang Bachmann schreibt, dass in den von ihm besuchten Dörfern im Pfälzer Wald nur die leben, die den Absprung noch nicht gefunden haben und schließlich dem Populismus anheimfallen. Will wirklich jeder Mensch unbedingt in einer Stadt wohnen und „das Land“ verlassen? Ich glaube nicht. Wir müssen uns vor Stereotypen und Diffamierungen hüten.

An dieser Stelle ein Appell an Architektinnen und Stadtplaner: geht aufs Land, sprecht mit den Leuten und rettet mit ihnen die bauhistorischen Kleinode und die ortsbildprägenden Gebäude! Am besten gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern weiterer Professionen wie etwa den Landschaftsökologen und –planerinnen, denn Baukultur ist in Kulturlandschaften entstanden, die die ländlichen Räume prägen. Damit verbunden ist die Frage nach der (Aus-)Bildung in diesen Bereichen. Welchen Stellenwert haben traditionelle Studiengänge, die sich beispielsweise mit Landschaftsgeschichte beschäftigen, für heutige Abiturientinnen? Wird Baukultur ländlicher Regionen in Deutschland Studierenden der Architektur ausreichend vermittelt?

Die Initiative „Landluft – Verein zur Förderung von Baukultur in ländlichen Räumen“ setzt auf ein neues Konzept nach dem Motto „Baukultur machen Menschen wie du und ich“. (5) Im Projekt MELAP PLUS (6) haben Bürgerinnen und Bürger in einem kommunalen Beteiligungsprozess, der von dem Architekten Martin Wypior gestaltet wurde, Leitlinien der Baukultur für Bernau und Menzenschwand im Schwarzwald entwickelt (7). So kann es auch an anderen Orten gehen und für immer mehr gute Beispiele sorgen.


4. Wie wollen (und können) wir in Zukunft leben und planen?

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Saniertes landwirtschaftliches Anwesen in Oberschwaben aus dem Jahr 1755, mit Abriss des landwirtschaftlichen Teils, in den eine Box für einen Friseurladen eingebaut wurde. Bild: Barbara Malburg-Graf

Diese allumfassende Frage wird derzeit in vielen Zusammenhängen gestellt. Viel ist die Rede von einem radikalen Paradigmenwechsel, weg vom klima- und lebensschädlichen Wachstumsparadigma, hin zu ganz neuen Antworten auf die Frage, was ein gutes Leben ausmacht. Meines Erachtens müssen wir so tief graben und so weit denken, wenn es darum geht, auch Planung und Entwicklung ländlicher Räume zu gestalten. Dabei gilt es, in jeder Hinsicht grenzüberschreitend zu kommunizieren und zu kooperieren. Im Modellvorhaben „Langfristige Sicherung von Versorgung und Mobilität in ländlichen Räumen“ (8) wurde zum Beispiel das Kooperationsraumkonzept entwickelt. In diesen Räumen kann zukünftig Daseinsvorsorge in Kombination mit dazu passenden, alternativen Mobilitätsangeboten jenseits des Individualverkehrs neu organisiert werden. Dieser Gedanke kann sicher auch für andere Handlungsfelder zur Anwendung kommen und helfen, vorhandene oder drohende Spaltungen – zwischen Stadt und Land, zwischen Arm und Reich – zu überwinden.

Zusammenarbeit im Sinne einer nachhaltigen Raumentwicklung, mit der die Klima- und Nachhaltigkeitsziele erreicht werden können, muss zwischen ländlichen Kommunen, aber auch zwischen Städten und ländlichen Regionen neu verhandelt und organisiert werden. Flächen- und Wohnungsknappheit und hohen Bodenpreisen in den Großstädten stehen Leerstand, mangelnde Nachfrage und niedrige Bodenpreise in ländlichen Gebieten gegenüber. Ländlichen Räume als Wohn- und Arbeitsstandorte zu stärken ist im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, auch wenn hochverdichtete städtische Wohnviertel für sich gesehen hocheffizient sein mögen.

Denn es gibt erhaltenswerte Infrastruktur in ländlichen Gebieten für Menschen, die dort ausdrücklich leben wollen. Oder umgekehrt: Es gibt Menschen, die auf dem Land leben wollen und die dortige Infrastruktur mitsamt der Gebäudepotenziale nutzen und nachhaltig weiterentwickeln können. Ein neuerer Trend sind Co-Working-Spaces auf dem Land wie die Initiative Coconat in Brandenburg. Dort – im „Ländlichen“ – werden sich auch die dringend erforderliche Agrarwende und die Energiewende maßgeblich abspielen müssen. Fundierte und gar nicht mehr so visionäre Vorschläge für eine nachhaltige, das Klima schützende und die Menschheit ernährende Landwirtschaft in Kombination mit kooperativen, ländlichen Lebensformen, die schon mancherorts erprobt werden, gibt es zuhauf. (9)

Bei der weiteren Siedlungsentwicklung muss es weiter vorrangig um Innenentwicklung, also die gezielte Aktivierung vorhandener Gebäude und Flächenpotenziale gehen, wie im Modellprojekt MELAP PLUS beispielhaft erprobt, und nicht um ein „Weiter so!“ bei der Baulanderschließung. Es ist offenkundig, dass hier staatliche Förderung, Experten-Knowhow und eine gesellschaftliche Übereinkunft mehr denn je erforderlich sein werden. In Entwicklungskonzepten und Planungen für Kommunen und Regionen gilt es in Zukunft umso mehr, all diese Anforderungen in den Blick zu nehmen.


(1) Henkel, G.: Das Dorf. Landleben in Deutschland – gestern und heute, Stuttgart 2011.
(2) Renz, P.: Vom Verschwinden der Rückständigkeit. In: Hils, C.: Abseits – aside – à l’écart. LEADER Aktionsgruppe Oberschwaben, Tübingen 2010 S. 77 – 95, Tübingen.
(3) Konold, W.: Museumslandschaft oder Agrarsteppe? Kulturlandschaft gestern, heute, morgen. In: Malburg-Graf, B. (Hrsg.): Potenziale und aktuelle Problemstellungen ländlicher Räume in Baden-Württemberg. Stuttgarter Geographische Studien 141, 2009, S. 135 – 151.
(4) Thünen-Institut für Ländliche Räume: Landatlas, 2019 https://www.bmel.de/DE/Laendliche-Raeume/InformationsportalZukunftLand/Landatlas/landatlas_node.html
(5) Landluft e.V: Baukultur ist mehr als Architektur. In: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Baukultur in ländlichen Räumen. Berlin 2013, S. 11-20
(6) Projektteam PFEiL: Neue Qualität im Ortskern. Ergebnisse und Erfahrungen aus MELAP PLUS – Modellprojekt zur Eindämmung des Landschaftsverbrauchs durch Aktivierung des innerörtlichen Potenzials. Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg, Stuttgart 2015
(7) Gemeinde Bernau im Schwarzwald: Leitlinien von Bürgern für Bürger – Baukultur in Bernau und Menzenschwand. Bernau, St. Blasien, 2015
(8) Rittmeier, B., Herget, M., Kaether, J., Koch, J. & K. Müller : Sicherung von Versorgung und Mobilität. Strategien und Praxisbeispiele für gleichwertige Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen. Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur, Berlin 2018
(9) Ein Beispiel von vielen: Otterpohl, R.: Das Neue Dorf. Vielfalt leben, lokal produzieren, mit Natur und Nachbarn kooperieren, München 2017