Das ehemalige Deutschlandhaus in Berlin-Kreuzberg ist zu einem Dokumentations- und Veranstaltungszentrum umgebaut worden. Mit einem solchen guten Beispiel lässt sich den immer dreisteren Bestrebungen, den Bestand trotz seiner baukulturellen Bedeutung zu opfern und durch Neubauten zu ersetzen, begegnen.
Dokumentationszentrum Flucht Vertreibung Versöhnung in Berlin
Architekten: marte.marte Architekten, Feldkirch (A)
Das Erstaunliche an der Architektur von Bernhard und Stefan Marte: Diesen Vorarlbergern gelingt es seit Jahren stets aufs Neue, dem vehementen grauen Baustoff Beton eine einzigartige Sinnlichkeit zu entlocken. Dabei entstehen zugleich kluge Raumgefüge, die zu erkunden eine Lust ist. Eine Erfahrung, die sich auch beim Um- und Neubau des historischen Deutschlandhauses für das „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung Versöhnung“ machen lässt. Wer von der Portalruine des Anhalter Bahnhofs von Franz Schwechten schräg hinüber auf die weiß verputzte Fassade des Dokumentationszentrums mit seinen roten Natursteinelementen schaut, der sieht davon erst einmal – nichts.
Kontinuität
Marte und Marte haben den neuen Ausstellungsbau rückwärtig in das Deutschlandhaus eingefügt, das Richard Bielenberg und Josef Moser zum Ende der Weimarer Republik errichtet hatten. Zusammen mit dem angrenzenden Europahaus von Otto Firle war es Teil eines fidelen Bahnhofs- und Vergnügungsviertels, mit Kino, Restaurants und Dachgartenrestaurant. Davon waren nach 1945 kaum mehr als ein paar Fassaden übrig. Jahre später etablierte sich im Erdgeschoss des wiederaufgebauten Deutschlandhauses dann das Café Stresemann, das zu Westberliner Zeiten über einen gewissen Kultstatus verfügte.
Der Entwurf von Marte und Marte geht von der Sanierung des Altbaus aus, der an seiner Rückseite um einen neuen kubischen Ausstellungstrakt ergänzt wird. Von außen ablesbar ist diese Intervention nur an der Rückseite des Hauses.
Dort öffnet es sich mit eindrucksvollen Fenstern zur Stadt. Zugleich entsteht so ein optischer Bezug zwischen dem Dokumentationszentrum und der angrenzenden „Topographie des Terrors“ auf dem Gelände des ehemaligen Prinz-Albrecht-Palais, in dem sich Himmlers „Reichssicherheitshauptamt“ befand. Ein deutlicher Hinweis für die Wechselwirkung aus Ursache und Wirkung, von nationalsozialistischen Verbrechen zu Flucht und Vertreibung. Schon von Beginn an fuhr die Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ durch bewegte See, Leitungswechsel inklusive. Erst jüngst flammte ein weiterer Diskurs über ein Filmprojekt zur Eröffnung des Dokumentationszentrums auf.
Schon vor Betreten des Dokumentationszentrums an der Stresemannstraße machen zigtausende silberschimmernde Nägel im Asphalt des von Via Lewandowsky gemeinsam mit dem Büro ANNABAU gestalteten Vorplatzes deutlich, dass sich hier ein besonderer Ort befindet. Ach ja, die abstrakte Kunst. Wer kann sie deuten? Nein, die intendierte Botschaft des Kunstwerks erschließt leider nicht unmittelbar, dass die Nägel auf die zahllosen Fluchtschicksale verweisen sollen. Dafür verleihen sie dem Ort eine sehr ästhetische Dimension. Ob das der beabsichtigten Botschaft entspricht, sei einmal dahingestellt.
Durch- und Übergänge
Das schmale Entree wird von einem schönen Holzmöbel flankiert, links und rechts schließen sich Räume für Shop und Garderobe an. Geradeaus in Eintrittsrichtung öffnet sich das eigentliche Foyer.
Mit einer gläsernen Fuge im Dach scheiden die Architekten den zwanziger-Jahre-Bau vom Neubau. Die alten Fensteröffnungen der Rückwand sind jeweils faschenartig-skulptural mit einem Rahmen gefasst. Linker Hand geht es in den „white cube“ des Sonderausstellungsraumes, geradezu in den ebenfalls tageslichtbefreiten Multifunktionsraum, der mit Eiche verkleidet einem Schatzkästlein gleicht. Eine mächtige Betontreppe von nachgerade fürstlichen Abmessungen führt zur ersten Ausstellungsebene empor, einem lichtdurchfluteten stützenfreien Raum von rund 900 Quadratmetern.
Doch bevor es hoch geht, gilt es rechter Hand in den „Raum der Stille“ abzubiegen. Raum der Stille? In einem Dokumentationszentrum? Was soll das denn? Eine Kerze für Schlesien entzünden? Oder für Ostpreußen? Leise Zweifel brummen in des Kritikers Seele. Entworfen haben den Raum Ilse Maria und Ulrich Königs aus Köln. Hintereinander gestaffelte Lamellen aus rauem Fichtenholz, die an der Decke expressive versetzt sind, laufen auf der einen Schmalseite auf eine Lichtwand zu, auf der anderen auf eine Backsteinwand. Das alles ist bis zur einsamen Landschaftsbemalung der Lamellen hin durchaus subtil bis delikat. Keine Frage, ein eindrücklicher Raum, den Königs Architekten geschaffen haben, die sich vielfach mit dem Thema Sakralbau auseinandergesetzt haben. Und doch: Auch wenn hier künftig keine Kerzen angezündet werden, bleibt bei mir eine tiefe Irritation zurück. Erst die allzuschöne Kunst zum grausamen Thema vor dem Eingang. Und jetzt noch ein „Raum der Stille“? Fraglos überkonfessionell ausgeführt, doch ebenso fraglos von sakraler Anmutung. Hier wird vermischt, was nicht zusammengehört.
Bau und Kunst
Also wieder hinaus aus der befremdenden Stille und vorbei an einer der Stützen, die die eindrucksvolle Betondecke tragen. Doch was ist das? An dem mächtigen Pfeiler zieht sich ein Glasgemälde empor, 1950 gestaltet von Peter Ludwig Kowalski (1891-1967), „Deutsche Heimat des Ostens“. Was dargestellt ist, sieht man leider nicht, denn zwischen Pfeiler und Wand eingequetscht lässt sich das Kunstwerk gar nicht erfassen. So platziert man eine Arbeit, die man eigentlich lieber gar nicht ausstellen will. Doch warum zeigt man sie dann? Ein wenig ratlos geht es die wunderbare Betontreppe empor auf die erste Ausstellungsebene. Es ist ein weiter Raum, dank zweier großer Stadtfenster lichtdurchflutet und mit Bezug zur Stadt. An einem Ende schiebt sich eine Wendeltreppe durch einen Zylinder empor auf die zweite Ebene, ein kleines Stück gebautes Glücksgefühl made by Marte und Marte.
Bei meinem Rundgang durch das Haus befand sich die von Atelier Brückner gestaltete Dauerausstellung gerade im Aufbau. Über deren endgültige Form und Inhalte lässt sich Näheres also noch nicht sagen. Allerdings verwundert es sehr, dass die Stadtausblicke, die Marte und Marte auf dieser Ausstellungsebene eröffnen, künftig durch Vorhänge verschlossen werden. Der unmittelbare Bezug zur Stadt und dem benachbarten Geschichtsort ist dann in der Dokumentation von Flucht, Vertreibung und Versöhnung verloren, die so zur hermetischen Ausstellungsangelegenheit mutiert. Schade.
Von der Wendeltreppe aus bietet sich noch einmal ein schöner Blick über die gelungene Raumkomposition, ehe sich darüber die naturlichtlose zweite Ausstellungsebene anschließt. Ergänzt wird das Raumprogramm um eine Bibliothek entlang der Stresemannstraße sowie Räume für die Verwaltung. In das ehemalige Café Stresemann wird ein neues Restaurant einziehen, während die oberen Geschosse des Hauses vom Entwicklungshilfeministerium genutzt werden, das schon im Europahaus nebenan residiert und das auf der Brache neben dem Dokumentationszentrum zudem einen Neubau erhält. Die Büro- und Verwaltungskrake aus Regierung und Parlament, sie beißt sich Grundstück um Grundstück beharrlich immer weiter in der Mitte Berlins fest.
Zurück vor dem Deutschlandhaus wandert der Blick hinüber zur Portalruine des Anhalterbahnhofs. Dahinter soll in den kommenden Jahren einmal der von Dorte Mandrup entworfene Ziegelneubau des Exilmuseums entstehen. So könnte rund um den Askanischen Platz eine Art historischer Museumsinsel wachsen. Bis dahin sollten die Vorhänge im Dokumentationszentrum unbedingt wieder aufgezogen werden, um der Architektur von Marte und Marte ihre Wirkung zu belassen und frisches Licht auf Flucht, Vertreibung und Versöhnung zu werfen.
Dokumentationszentrum Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung
Stresemannstraße 90
10963 Berlin
https://www.flucht-vertreibung-versoehnung.de/de/#about
Zum virtuellen Rundgang:
https://www.youtube.com/watch?v=FWj3-VcwprI&t=20s
Architekten
marte.marte Architekten, Bernhard und Stefan Marte
Projektleitung
Robert Zimmermann, Martin Skalet
Controlling
Clemens Metzler