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Stilkritik (124) | Zum siebten Mal fand Anfang Mai in München „Architecture Matters“ statt, das Treffen von Architekten, Stadtentwicklern und Vertretern der Immobilienbranche. Unbeeindruckt vom diesjährigen Konferenztitel „Über das Neue im Alten“ fragt unser Autor, wo Neues überhaupt zu suchen sei. Und ob wir uns, wenn es denn eintreten sollte, wirklich darüber freuen werden

Alle Bilder des Beitrags gehören zur Fotoserie „Das Denkmal“ von Sibylle Bergemann, 1975-1986. (© Nachlass Sibylle Bergemann / OSTKREUZ. Courtesy Loock Galerie)

Kein Zweifel: Die bildnerische Langzeitrecherche, mit der die Fotografin Sibylle Bergemann (1941-2010) die Entstehung des Ostberliner Marx-Engels-Denkmals verfolgte, gehört zu den bedeutendsten künstlerischen Zeugnissen von Niedergang und Ende des Staatssozialismus und somit in den Kanon nennenswerter deutscher Kunst vom Ausklang des 20. Jahrhunderts. Obwohl in rein dokumentarischem Auftrag begonnen, wuchs den Bildern im Laufe der zwölf Arbeitsjahre eine Vielzahl von Deutungsebenen zu, was ihnen schließlich den Rang eines politischen Menetekels verschaffte. Wie eine neuzeitliche Variante des Märchens von Des Kaisers neuen Kleidern: „Die Wirkung [der Bilder] beginnt da, wo das Lachen vergeht.“1)

oben: Marx-Engels-Denkmal (für Berlin-Mitte) vor der Werkstatt des Bildhauers Ludwig Engelhardt, Gummlin, Usedom, Mecklenburg-Vorpommern, DDR, Mai 1984

So ganz auf den Punkt konnte auch Gastgeberin Nadin Heinich nicht begründen, wie sie ausgerechnet auf dieses anscheinend sehr weit hergeholte fotografische Werk kam, um für die diesjährige Tagung Architecture Matters ein Sinnbild zu setzen. Weil man von guter Kunst subversive Qualitäten zu allen Zeiten erwarten darf? Aber ist im Modus allgemeiner Unsicherheit nicht eher Klartext angebracht? Der Zustand der Welt ist nicht gut, zugespitzt: er ist schlimm, doch wie soll man sich dieser Diagnose stellen – mit moralischen Appellen? Beschwichtigend? Tapfer Ausschau nach Alternativen haltend?

Alle drei Möglichkeiten waren an den zwei Münchner Konferenztagen im Angebot. Beim vorabendlichen Opening holte Julian Nida-Rümelin für sein Panorama der allgemeinen Lage weit aus, von A bis Z: Aristoteles bis Zeitenwende. Leicht fassliche Merksätze („Die Alternative zur Apokalypse lautet: Gestalten!“) schmückten seine Eröffnungsrede, die eher zur launigen Dinner Speech geriet. Schwer auszumalen, wie davon ein Echo in die Smalltalks des weiteren Abends finden sollte. Die zu Häppchen und kühlen Getränken in die Dachlounge des noblen Hotelhochhauses geladenen Gäste kamen doch ganz überwiegend aus der Immobilien- und der Bauplanungsbranche, wo ihr Geschäftsalltag sehr viel handfesteren Gesprächsstoff bietet – Preisspiralen, Zinsturbulenzen, Lieferengpässe …

 

Marx-Engels-Forum

Marx-Engels-Denkmal, Bildhauer: Ludwig Engelhardt, Gummlin, Usedom, Mecklenburg-Vorpommern, 1985, DDR

Vielleicht hätte ja eine kleine Reiberei dem Beisammensein noch einen produktiven Drive verpassen können. Als Münchens Stadtbaurätin Elisabeth Merk, nach einer Verbeugung vor Otl Aichers Ästhetik des Gebrauchs, den darüber hinaus reichenden Begriff „Verzicht“ entschieden von sich wies und allenfalls von „Aufwandsreduzierung“ sprechen wollte, gab es vom nachfolgenden Redner Muck Petzet klaren Widerspruch: „Verzicht ist kein Unwort! Er kann sogar Befreiung bedeuten!“ Doch der Kontrahent war nur per Video zugeschaltet und verschwand auch noch an entscheidender Stelle („Gutes tun reicht nicht, Unterlassen ist oft besser!“) wegen technischer Störung aus der Leitung.

Ausweichstrategien

Ob Wohnungsmangel, CO2-Emissionen oder weltweite Ressourcenverknappung, die alarmierenden Zahlen und Daten sind längst Allgemeingut und bedürften keiner permanenten Neubeschwörung. Trotzdem, oder gerade deshalb, mochte dem einen oder anderen Petzets Vorwurf zu schaffen machen, die ganze Tagung diskutiere lediglich Ausweichstrategien. Natürlich braucht es für Zukunftssuche einen optimistischen Grundtenor, jenen Funken Hoffnung als Anschub für immer neue Motivation und Energie. Wohl deshalb kamen am zweiten, dem eigentlichen Konferenztag die überraschend inspirierenden Beiträge aus dem Panel „Beton der Zukunft“. Anders als der Titel suggerieren mochte, ging es da um Dekarbonisierung und Materialreduktion. Tüftler und Startup-Unternehmer forschen zu kohlenstoffneutralen Zementen2) oder experimentieren mit geometrisch optimierten Tragsystemen, die bei strenger Anlehnung an die Lastverläufe den Materialbedarf deutlich senken3). Im wahrsten Wortsinn „Anders Denken“ steckt in der Idee, das allmählich Verbreitung findende Urban Mining konzeptionell auf Strategien des Entwurfs auszuweiten und die architektonische Form einer Bauaufgabe mithilfe digitaler Modellierung4) direkt aus dem vorhandenen Angebot an Reuse-Bauelementen abzuleiten: Form follows product supply.

Enkelgerechtigkeit

Es gibt sie ja immer, die Stimmen und Angebote aus den Nischen, unangepasstes, kreatives Denken. Und doch wäre nichts falscher, als sich in blinder Zuversicht einzurichten. Auch diesmal machte das vorsätzlich grenzüberschreitende Programm von Architecture Matters einen Bogen ums Fundamentale: „It’s the economy, stupid!“ Was braucht es denn noch, bis allen dämmert: Jeder Diskurs, der sich um die Systemfrage drückt, ist verlorene Zeit. Vierzig Jahre lang hat die Weltgesellschaft sich dem hinhaltenden „Es wird schon…“ ergeben, nun folgt das böse Erwachen. Jetzt ist nichts mehr mit easy Downsizing: Schweizer Ökologieforscher kommen nach Bilanzierung unserer – nördlichen, westlichen – Lebensweise zu dem Schluss, dass „wir den Zeitpunkt für ein ressourcenschonendes Leben ohne allzu große Einschränkungen längst verpasst haben. Berechnungen zur Enkelgerechtigkeit zeigen eine Lebensweise auf, die uns heute vollkommen fremd erscheint, denn sie umfasst beispielsweise 20 Quadratmeter Privatwohnraum pro Person, kein Auto, keine Flüge, sechs Kilometer Regionalzug pro Tag, 15 Kilogramm Fleisch und 20 Liter Milch pro Jahr. Und drei Stunden Internet pro Woche.“5)

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Marx-Engels-Denkmal, Bildhauer: Ludwig Engelhardt, Gummlin, Usedom, Mecklenburg-Vorpommern, Dezember 1980, DDR

Selbst wenn es sich bei dem hier zitierten Horrorszenario wohl um vage Zukunftsskizzen handelt, macht man sich mit solchen Vorhersagen schwerlich Freunde. Verlieren sie deshalb an Relevanz? Da in solchen Zahlen die wahren Herausforderungen für unser künftiges Dasein stecken, werden Entscheidungen unvermeidlich, die wehtun. Konfliktfelder tun sich auf, die öffentlich zu verhandeln sind, und zwar besser rechtzeitig. „Maßnahmen müssen in einem Umfang und mit einem Nachdruck umgesetzt werden, die dem Ausmaß der Krisen gewachsen sind. Es ist keineswegs klar, dass wir das demokratisch leisten können. […] Die Demokratien der Nordhalbkugel sind unvollkommen und fehlerhaft. Deshalb ist der einzig sinnvolle Weg derzeit, sie hinsichtlich ihrer Effektivität in Krisen zu reformieren.“6) Auch Philosophen, die mit „Apokalypse“ und „Zeitenwende“ jonglieren, sind also gehalten, den Status quo nicht länger aus sich heraus zu erklären. Auch für den Gesellschaftswandel gilt als Zielvorgabe die Resilienz.

Reden, Reden …

Immerhin tauchte eine Woche nach dem Münchner Treffen in der Agenda des Berliner Bauwelt-Kongresses 2023 („Das Gold der Stadt“) die Bodenfrage auf, genau wie das uralte und doch immer aufs Neue zu erstreitende Prinzip Gemeinwohl gegen die Wohnungsnot der Ballungsräume. Die schon lang nicht mehr gehörte Frage, in wieweit eine elaborierte Ästhetik der geforderten Sparsamkeit und Krisentauglichkeit im Wege steht, hätte noch deutlicher diskutiert werden können. Sie wird wohl, dem Programm des 18. BDA-Tages zufolge, demnächst in Chemnitz erneut gestellt, ergänzt um „gesellschaftlichen Perspektivenwechsel gegen die Verführungen des ewig Neuen“ und ein ganzes Panel zum Thema „Verantwortung des Kapitals“. Man darf gespannt bleiben.

Wenn Reden alleine helfen würde, wir wären mit unserem Krisenbewusstsein wahrscheinlich schon über den Berg. Doch der Kaiser, dem das Publikum in Scharen huldigt, bleibt weiterhin nackt. Einen Tag nach der Münchner Konferenz bemühte Bayerns Ministerpräsident auf dem Nürnberger Parteitag seiner seit 66 Jahren regierenden Partei den zynischen Vergleich, dass „das Wohlstandseis schneller schmilzt als das Gletschereis“, weshalb Elektromobilität nicht für alle erschwinglich sei und er daher am Verbrennermotor festzuhalten gedenkt. „Bayern ist Autoland, die CSU bleibt Autopartei!“ Sein Schlachtruf erntete tosenden Jubel von den Delegierten, anschließend Wiederwahl mit 99 Prozent. Muss man da nicht Verständnis aufbringen für Menschen, denen mittlerweile der Geduldsfaden reißt? Die an der unerträglichen Folgenlosigkeit all der Kongresse und Sonntagsreden verzweifeln und sich am Ende selber als Sand ins ungebremste Getriebe werfen. Wie die Letzte Generation, die genug hat von wohlfeilen Worten, die endlich Taten will.


1) Peter Voigt im Nachwort zum Bildband der gesamten Fotoserie. Heiner Müller: Ein Gespenst verlässt Europa. Köln (Kiepenheuer &Witsch) 1990

2) Beiträge von Hoang Anh Nguyen für alcemy, Berlin, sowie von Sam Draper & Barnaby Shanks von Seratech, London

3) Beitrag Philippe Block von Block Research Group, ETH Zürich

4) Beitrag Tobias Nolte von Certain Measures, Hannover/Berlin/Boston

5) Gabor Doka: „Ökologische Grenzen in der Anderen Stadt.“ In: Hans Widmer (Hrsg.): Die Andere Stadt, Zürich 2017

6) Jedediah Purdy, Kultur- und Rechtswissenschaftler an der Columbia Law School New York, im Magazin der Kulturstiftung des Bundes vom 6.8.2021