Fragen zur Architektur (22): Wenn man das Einfamilienhaus als architekturgeschichtliche Nachwehe des Adelsschlosses akzeptiert, reicht dessen Entwicklung weit zurück. Sind Bürgerhäuser ein Phänomen des nachrevolutionären 19. Jahrhunderts und signalisieren sie in diesem Sinn eine gesellschaftliche Veränderung, lassen sich Einfamilienhäuser ab der Mitte des 20. Jahrhunderts als „gebaute Zeitzeugen“ der jungen Demokratie, wirtschaftlichen Wohlstands und wachsender Individualisierung analysieren. Allein: Die Halbwertszeit dieser Bauten scheint kurz.
„Kleine Häuser – großes Thema: Haben Einfamilienhäuser eine Zukunft?“ Am 27. April wird in der Stuttgarter Weißenhofgalerie eine Ausstellung zu diesem Thema eröffnet. (Ausstellung: 28. April bis 1. Juli 2018)
Wir „modernisieren“
Ja, was geschieht mit den Einfamilienhäusern, wenn die Besitzer wechseln? Wir können es an einem Beispiel erörtern. Immer wenn ich nach B. komme, besuche ich alte Freunde. Sie wohnen in ihrem Elternhaus, genau genommen ist es sogar ihr Großelternhaus, Baujahr 1921. Zwei Generationen haben es kaum verändert, erst mit den Enkeln, die in den 1970er-Jahren eingezogen sind, begann das „Modernisieren“.
Zunächst erledigte man das Grobe: Die in die Jahre gekommenen Sprossenfenster wurden durch ungeteilte Alu-Rahmen mit Isolierglas ersetzt, jetzt glotzt die Fassade unbeholfen in den Garten. Innen kehrte man im Erdgeschoss die Funktionen um, in der Mitte des Erkers steht jetzt kein runder Esstisch mehr, sondern das Fernsehgerät.
Um die kleinen Räume großzügiger zu interpretieren, wurden die Türen entfernt. Aber statt die Durchgänge bis oben zu öffnen, reduzierte man die Stürze mit Rundbögen, was zu einer bedrückenden Schlupfwinkligkeit führt. Nach und nach erhielten alle Decken eine dunkle Holzverkleidung, die Böden einen hellen PVC-Belag – das wirkt, als sei ein Schiff gekentert, weil man eher erwartet, auf Dielen zu gehen und eine weiße Decke über sich zu haben.
Aber Weiß gilt der Bauherrschaft als Inbegriff von Kälte und Ungemütlichkeit. Deshalb ließen sie die Bäder mit crèmefarbenen Objekten und marmorierten Fliesen wohnlicher gestalten, und weil auch eine orthogonale Räson zu den blutarmen Zumutungen gehört, sind die Bodenfliesen in einem gedrehten Raster verlegt, was an den Rändern kuriose Drei- und Fünfecke ergibt. So könnte man endlos Details notieren, die das Haus verunstalten.
Wir wollten es praktisch
Die Bauherren sind liebenswürdige Leute, Ärzte, ZEIT- und Konzertabonnenten, bestes Bildungsbürgertum mit grünen Ambitionen. Sie interessieren sich für Kunst, kaufen ab und zu zeitgenössische Grafiken oder Ölgemälde aus dem 20. Jahrhundert. Die Bilder hängen grundsätzlich auf verschiedener Höhe, das gilt als fortschrittlich. Aber der Besucher mag die Kunst auf den pastellgetönten Raufaserwänden nicht ansehen, weil in Augenhöhe ein neuer Lichtschalter irritiert. Er stammt aus einem anderen Programm, so dass jetzt ein vergilbter Taster mit runden Kanten und eine hartweiße Wippe mit scharfen Rändern konkurrieren. Auch aufgetackerte Antennenkabel und zusätzliche Aufputzdosen über den Fußleisten zeugen von Instandhaltungssorgfalt. Lampen haben grundsätzlich dunkle Schirme, hängen zu hoch und blenden mit ihren Energiesparlampen. Da kann es nicht ausbleiben, immer mal an das Thema Architektur anzuknüpfen. Doch da haben die Bewohner klare Vorstellungen. Architekten denken nur daran, dass es schön ist, wir wollten es praktisch, sagen sie. Doch ihr Haus ist umständlich eingerichtet, kalt und dunkel. Ohne Atmosphäre. Wollte man es haben, müsste man den Kaufpreis ein zweites Mal investieren, um die Veränderungen durch die Eigentümer rückzubauen. Ihr Elternhaus ist völlig intakt, aber architektonisch abgewirtschaftet.
Keiner da
Nun ist es nicht so, dass alle Einfamilien- beziehungsweise Elternhäuser einmal zu den baugeschichtlichen Inkunabeln zählten und von den Erben ahnungslos hingerichtet würden. In Einzelfällen erinnert man sich an gegenteilige Schicksale, wobei wir keinesfalls den Maßstab eines Carlo Scarpa anlegen. Eine unauffällige Sensibilität für das Vorhandene würde uns reichen.
Es gibt aber noch eine andere Entwicklung. Nämlich Elternhäuser, mit denen gar nichts passiert, die sich selbst überlassen bleiben: leer stehen. Man kennt es von Gewerbeimmobilien. Bei uns in der Straße gammelt seit Jahren ein verlassenes Bankgebäude vor sich hin. Die tote Leuchtschrift nennt den ehemaligen Eigentümer. Würde ich mich an dieses Geldinstitut in Bauangelegenheiten wenden, wenn die Banker zeigen, dass sie mit ihrem eigenen Grund und Boden nichts anzufangen wissen? Ist ihre Immobilienabteilung so inkompetent? Kann man in attraktiver Innenstadtlage ein passables Gebäude einfach ungenutzt lassen, nicht mal den Hof und die Garagen als Stellplätze vermieten?
Ganz anders steht es mit Wohnhäusern. Da spricht sich schnell herum, warum sie leer stehen. Man muss nur den Friseur, beim Zahnarzt oder im Wirtshaus einen Gemeinderat fragen. Die alte Villa hat ein Investor gekauft, aber der will nur das parkartige Grundstück bebauen, das vorhandene Haus interessiert ihn nicht. Für ein kleines klassizistisches Wohnhaus hat sich auch endlich ein Käufer gefunden. Aber, stöhnt der Stadtrat, es ist der benachbarte Baustoffhändler, der wird keine Wohnungen renovieren, sondern das Haus abreißen, wenn er mehr Lagerfläche braucht. Ein immer noch solides Gehöft an der Ortsdurchfahrt, das seit langem leer steht, hat die Tochter geerbt. Sie lebt gut situiert in der Schweiz, mit dem Anwesen kann sie nichts anfangen. Das Eckhaus weiter, in dem die Eltern ein Café betrieben haben, darf man mittlerweile als Ruine bezeichnen, die neue Besitzerin sei eine böse alte Frau heißt es, sie verlange von Kaufinteressenten einen Millionenbetrag. Beim Nachbarhaus dagegen können sich die Kinder nicht über ihr Erbe einigen, deshalb bleibt es unvermietet. In einem anderen Fall teilt sich eine alte Dame mit ihrem Sohn ein sehr großes Wohnhaus, auch die beiden Häuser gegenüber gehören ihnen. Warum stehen die denn leer? hab ich mich zu fragen getraut. Ich hab‘ kein Geld für die Sanierung, sagt der Eigentümer. Soweit die eingesammelten Beobachtungen – nicht in Hoyerswerda oder Pirmasens, sondern von der Weinstraße, wo Häuser zu Liebhaberpreisen den Besitzer wechseln.
Enteignungen
Leidenschaftslos ist die Statistik: Der Leerstand liegt bei Häusern bei 3,3 Prozent, bei Wohnungen noch höher, absolut sind es 1,8 Millionen. Elternhäuser, einmal mit Herzblut und Verzicht gebaut, vollgestopft mit Erinnerungen – zu lästigen Immobilien profaniert. Begriffe wie Bußgeld, Zwangsvermietung, gar Enteignung liegen nahe, aber sie gehören in den sozialistischen Fremdwortschatz. Als ob Architektur und Wohnen in der Marktwirtschaft kein Bleiberecht besäßen.