Sommerzeit ist Reisezeit. Baugeschichtliche Meilensteine sind dabei nicht allein in den großen Kulturstädten zu finden, sondern unvermutet an Orten, die ihrerzeit wirtschaftlich oder persönlichkeitsgebunden andere als gegenwärtige Bedeutung hatten. Zum Beispiel geht es um Bauten von Marc Seguin (1786-1875) und Conrad Freytag (1846-1921) – beide herausragende Bauingenieure, die mit experimentellen Bauten die Baukonstruktion bis in unsere Gegenwart maßgeblich beeinflusst haben.
Die Seilbrücke
Beginnen wir in Frankreich, etwa 30 Kilometer südlich von Lyon. Die erste und einzig bekannte Fußgängerhängebrücke mit Tragseilen aus parallel geführten, weichen Eisendrähten sah 2007, aufgesucht und fotografiert für das Buch »Fußgängerbrücken«1), sah so aus, als könne sie durch einen leisen Windhauch einstürzen. Fotografiert habe ich sie mit dem unguten Gefühl, von einem bald verschwindenden Meisterwerk der Ingenieurbaugeschichte letztes Zeugnis ablegen zu können.

Blick ins Buch „Fußgängerbrücken“. Marc Segiun gilt als ein Pionier dieser Bauweise.
1863 wurde die Brücke von Marc Seguin (*1786 in Annonay, † 1875 in ebenda) gebaut, wobei seine Urheberschaft inzwischen relativiert ist.2) Arbeiter aus der Umgebung sollten die hier angesiedelte > Fabrik gut erreichen können.3) Ein Blick entlang der Brückenachse veranschaulicht überdeutlich, warum es 2007 unmöglich war, die Brücke zu betreten. Im August 2024 zeigte sich, dass sich die Befürchtungen nicht bewahrheitet haben. Und es war bekannt geworden, dass im September 2025 – vorbereitet und organisiert durch das Ingenieurbüro Conzett Bronzini – in Chur die Fußgängerbrücken-Konferenz stattfinden wird.4) Diese internationale Konferenz führt seit 2001 alle zwei Jahre Bauingenieure und Architekten aus aller Welt zusammen, um dem originären Bautypus und seinen sich stetig ändernden Innovationspotenzialen nachzukommen. Jede Woche poste ich seitdem bei LinkedIn eine der rund 250 Fußgängerbrücken aus meinem Archiv.
Bei der Internet-Recherche stieß ich darauf, dass die klapprige Brücke über die Cance seit 1983 unter Denkmalschutz stand und viele, viele Jahre später, nämlich 2012-2013 tatsächlich gesichert und restauriert worden ist – unter der Leitung von Olivier Naviglio, architecte en chef des monuments historiques. Eine ohnehin geplante Reise zu Corbusiers Kloster La Tourette bot also Anlass zu einem erneuten Abstecher nach Vernosc les Annonay. Und siehe da, der gleiche Blick entlang der Brücke und auf der Brückenachse sieht nun ganz vertrauenerweckend aus.

Blick auf die ungepflegte und auch ungesicherte Ruine der »Mühle« (im Sinn von engl. mill = Fabrik). Bei Wikipedia heißt es, hier sei Seide produziert worden. An anderer Stelle ist von einer Papierfabrik die Rede. (Bild: Wilfried Dechau)

Die Sanierungs- beziehungsweise Rekonstruktionsbaustelle (Bild: 29.11.2012, François Bassaget, wikipedia free)
Die Sanierung – oder sollte man sagen: Rekonstruktion? – ist unbedingt sehenswert, wenngleich das Drumherum nach wie vor verlassen wirkt. Die Brücke ist wieder funktionstüchtig, aber sie führt von Nirgendwo nach Nirgendwo, und das zum Ensemble dazugehörige Fabrikgebäude an der Cance ist verfallen und verwildert. Zudem hatten wir das Dorf Vernosc les Annonay angesteuert, um von dort aus zu Fuß hinab zur Brücke zu laufen. Das geht zwar, aber man ist vom Dorf aus eine gute halbe Stunde unterwegs, und die Wege sind leider eine Zumutung – ohne feste Wanderstiefel geradezu riskant. Viel empfehlenswerter ist, von vornherein – von Andance über Cance – auf der romantischen, kaum befahrenen D 270 anzureisen. Das hat zudem den Vorteil, dass man sich die von Andance nach Andancette führende Hängebrücke über die Rhone anschauen kann. Die wurde nämlich ebenfalls von Marc Seguin erbaut – bereits im Jahr 1827.
Die Eisenbetonbrücken
Und wo wir nun beim Reisen sind: Conrad Freytag (*1846 in Lachen bei Neustadt, † 1921 in Wiesbaden) hatte 1884 die Eisenbeton-Patente des Franzosen Joseph Monier für Süddeutschland (mit Vorkaufsrecht für Norddeutschland) erworben.5) Er machte damit die Stadt Neustadt an der Haardt – jetzt: Neustadt an der Weinstraße – zur Wiege des Stahlbetonbaus in Deutschland. In Neustadt gründete er sein Unternehmen Wayss und Freytag, das bis 1925 hier angesiedelt war. Seinen Hauptsitz hat der inzwischen weltweit tätige Baukonzern in Frankfurt am Main. Wieland Ramm hat sich intensiv mit Conrad Freytag befasst und kenntnisreich veröffentlicht – in der Fachcommunity, wodurch einmal mehr eine breite Öffentlichkeit leider nicht erreicht wird, wenn vor Ort nicht Vermittlungsformate mit Faltblättern, Ausstellungsflächen oder Internet im entwickelt werden.6)

Über die sieben Berge, bei den sieben Zwergen, so kommt einem das völlig verwilderte Gelände hier vor. Romantisch, wenn man es denn gefunden hat. Hinweise auf die Brücke gibt es derzeit nicht. (Bild: Wilfried Dechau)
Unerklärlicherweise sind nur seine frühen Experimente mit dem neuen Baustoff bekannt geworden. Die von ihm mit Eisenbeton gefertigte Hundehütte zum Beispiel befindet sich heute im Deutschen Museum in München. Viel bedeutender aber sind seine ersten, bei Monier abgeschauten Versuche, den neuen Baustoff zum Bau von Brücken zu verwenden. Nach dem Muster der Monier-Brücke am Schloss Chazelet (1875) baute er in Neustadt 1886 Deutschlands erste, kleine Fußgängerbrücke aus Eisenbeton. Und gleich anschließend noch zwei weitere, kleine Brücklein nach der gleichen Konstruktionsidee.

Die zwei kleinen Brücklein – als eine Art Brückenskulptur – im Garten des Restaurants »Rittergarten« (Bilder: Wilfried Dechau)
Alle drei existieren noch, wenngleich inzwischen nicht mehr an den Orten, für die sie ursprünglich konzipiert waren. Die zwei kleineren Exemplare befinden sich jetzt – eher als dekorativ-kurioses Beiwerk – im Garten des Restaurants »Rittergarten«7). Die etwas größere, dritte war ursprünglich in einem Parkgelände in Neustadt, sie landete inzwischen in den »Clemm’schen Anlagen«, einem verwilderten Parkgelände oberhalb des Haardter Schlosses. Sie landete im wahrsten Sinne des Wortes: 2009 wurde sie saniert und dann per Helikopter in die Wildnis verfrachtet. Dort fristet das Kleinod deutscher Stahlbetonbau-Geschichte ein Dornröschen-Dasein. Es ist schon schwer genug, überhaupt die »Clemm’schen Anlagen« zu finden, aber dann hat man noch lange nicht die Stelle entdeckt, wo die Brücke gelandet ist. Es könnte im Zuge des Landesgartenschau in Neustadt eine Idee sein, wenigstens den Weg zur Brücke kenntlich zu machen. Unbedingt bei nächster Gelegenheit also mal anschauen, denn sie ist inzwischen schon wieder sanierungsbedürftig! Mit Openstreetmap findet man den Weg dort hin.8) Ebenfalls sehenswert ist das Mausoleum der Familie Freytag im Wald nahe des Klosters Neustadt.
Was gibt es nicht alles zu entdecken, wenn man nicht den Hotspots der Reisebranche folgt. Ohnehin sind im Bauingenieurwesen Veranstaltungen selten, die bei Architekturstudierenden Pflicht sind: Exkursionen.
1) Mike Schlaich, Ursula Baus: Fußgängerbrücken. Mit Fotografien von Wilfried Dechau. Basel, Bosten, 2008; das Buch erschien in Englisch 2008, die japanische Ausgabe folgte 2009.
2) Im Buch wurde noch 1822 genannt.
3) https://fr.wikipedia.org/wiki/Pont_suspendu_sur_la_Cance
https://www.ardeche-guide.com/patrimoine/pont-de-moulin-sur-cance-766726/
Die Historikerin Marie-Hélène Reynaud, Autorin des Buchs Marc Segiun, du pont de Tournon … aux premiers chemins de fer: „Il faut préciser que le pont n’aurait pas été construit par Marc Seguin. En 1863, il a 77 ans, il est peu vraisemblable que l’auteur soit l’un des frères Seguin; par contre, il pourrait être l’œuvre de l’un des membres de la famille Mignot alliée aux Seguin. “ Sie resümierte die Restauration: „La volonté des communes de Quintenas, de Vernosc et du Syndicat des trois rivières de restaurer le pont à l’identique sous le contrôle de M. Olivier Naviglio, architecte en chef des monuments historiques, se comprend à plus d’un titre. Construit selon cette technique, il est le seul à subsister. Un devoir de mémoire s’impose, mémoire humaine de la vie locale (cf. le DVD édité par le Syndicat des trois rivières), mémoire d’une technique et mémoire d’un grand inventeur Marc Seguin. M. Naviglio avait pu se libérer, il nous a expliqué tout l’intérêt d’une telle restauration, mais aussi la nécessité de respecter certaines normes de sécurité qui n’existaient pas autrefois. “ (https://www.patrimoine-ardeche.com/visites/cance.htm)
„Man muss erwähnen, dass die Brücke nicht von Marc Seguin gebaut wurde. 1863 war er 77 Jahre alt, es scheint wenig wahrscheinlich, dass der Urheber einer der Seguin-Brüder war; aber sie könnte das Werk eines Mitglieds der Familie Mignot sein, die mit den Seguins verbunden war.“ Sie resümierte die Restaurierung: „Die Absicht der Gemeinden Quintenas, Vernosc und des Syndicat des trois rivières, die Brücke unter der Aufsicht von Olivier Naviglio, dem Chefarchitekten der Monuments Historiques, originalgetreu zu restaurieren, ist aus mehreren Gründen gut nachzuvollziehen. Die nach dieser Technik errichtete Brücke ist die einzige, die noch erhalten ist. Es drängt sich die Pflicht auf, an lokale Lebensweisen zu erinnern (vgl. die vom Syndikat der drei Flüsse herausgegebene DVD), an eine besondere Technik und an den großen Erfinder Marc Seguin. Herr Naviglio hatte sich frei machen können und erklärte uns Sinn und Zweck einer solchen Restaurierung, aber auch die Notwendigkeit, bestimmte Sicherheitsstandards einzuhalten, die es früher nicht gab.“
6) Wieland Ramm: Über die Anfänge des Eisenbetonbaus in Deutschland und die Pioniere der ersten Jahre. In: Beton- und Stahlbetonbau 107, Heft 5 2012 (online: https://issuu.com/ernstundsohn/docs/scrn72_02120176_pl_bust_05/120)