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Stilkritik (99) | Gasthäuser können eine zweite Heimat sein. Nicht wegen des Alkoholausschanks, sondern als gebaute und eingerichtete Umgebung, in der man die Wirkung von Räumen studieren kann. Doch Corona zwingt uns zur Pause, die wir nicht wollten und vor allem die Betreiber kaum verkraften können.

Vor dem 2. Lockdown: Abstand beim Essen, ein Plausch ist unmöglich. (Bild: Ursula Baus)

Hotel Berghoferin, Aldein/ Südtirol

Hotel Berghoferin, Aldein/ Südtirol (Architekt: Zeno Bampi)

Ich liebe Wirtshäuser, ich gehe für mein Leben gern in Lokale. Es ist großartig, am Ende eines Ausflugs oder einer Wanderung in einer Weinstube anzukommen, früher auch am Sonntag nach dem Kirchgang oder zum verdienten Feierabend in einem Restaurant die Beine unter den Tisch zu strecken und sich mit Speis und Trank verwöhnen zu lassen. Geschenkt! Mir geht es um die Architektur.

Jeder Kneipenbesuch ist eine Exkursion in eine andere Umgebung. Sie wird inszeniert, damit der Gast sich wohlfühlt. In vielen Fällen ist diese Ambition misslungen, sie setzt auf populäre Klischees, die mit Gemütlichkeit verbunden werden, auf die Anmutung von Holzmaserung und Brauntönen. Aber selbst diese Erfahrung kann Architekturbeflissene unterhalten und sei es nur, um sich am Gefühl von überlegenem Besserwissen zu wärmen.

Die Wirtin maskiert, die feiernde Familie schont die heimische Küche. (Bild: Ursula Baus)

Die Wirtin ist maskiert, die feiernde Familie schont die heimische Küche und sitzt in großem Abstand zu anderen Gästen. (Bild: Ursula Baus)

Wir bleiben bei den guten Beispielen. Manche Lokale lassen schon von außen erahnen, was einen drinnen erwartet, das mindert die Schwellenangst. Ein Hof, eine bestuhlte Terrasse, ein Gastgarten wirken einladend, auch eine Treppe und ein bergender Eingang trennen vom profanen Straßenleben. Dann betritt man das Lokal. Hinter der Tür wird es spannend. Gerüche und Geräusche schlagen dem Gast entgegen, noch bevor er sich orientieren kann. Wohin?

Önothek Johnson & Dipoli in Neumarkt (Bild: Vincenzo Degasperi)

Önothek Johnson & Dipoli in Neumarkt (Architekt: Zeno Bampi, Bild: Vincenzo Degasperi)

Ein Raum, ein Grundriss, den es sekundenschnell zu erfassen gilt. Hier hilft dem Architekturkritiker seine jahrzehntelange Erfahrung. Wo sitzen? Am Kachelofen, auf der Bank vor der vertäfelten Wand mit den Mantelhaken, Blick in den Raum oder lieber aus dem Fenster? Mit meiner Frau sitze ich am liebsten über Eck, nicht gegenüber wie im Büro oder nebeneinander wie im Kino. Dazu muss man bisweilen das Kopfende eines größeren Tischs einnehmen, was die Wirte nicht mögen. Aber aus dieser Position hat man einen Sektor des Lokals unter Kontrolle. Diese erste Handlung ist entscheidend, man spürt rasch, ob man sich wohlfühlt, ob sich eine Balance zu Flächen und Fluchten einstellt. Oder die Gäste am Nachbartisch zu laut sind und die Schwingtür zur Küche nervt, dann muss man umziehen. Jeder Kneipenbesuch ist eine Raumprobe, ein atmosphärisches Erlebnis, man lernt, wie sich ein begrenztes Revier und seine Ausstattung im Gebrauch verhalten. Dass es Tische gibt, an denen niemand sitzen möchte oder die durch ihre schräge Platzierung Unruhe erzeugen. Mitunter hat sich der Wirt durch Behelfskonstruktionen wie Garderobengitter oder Blumenbänke um Abhilfe bemüht. Das hält uns nicht davon ab, in Gedanken ein wenig umzubauen. Wir möchten uns in einer Nische geborgen fühlen, dennoch alles im Blick haben und in gutem Kontakt zur aufmerksamen Bedienung bleiben. Auch die Akustik gehört dazu. Ist es zu laut oder nervt die Musikkonserve, kann das die Weinkarte nicht mehr wettmachen.

In der einen Hand der Löffel, in der anderen das Handy. Oder zum Fenster hinausschauen. Kommunikation in Coronazeiten ist auch in Restaurants wenig vergnüglich. (Bild: Ursula Baus)

In der einen Hand der Löffel, in der anderen das Handy. Oder zum Fenster hinausschauen. In Coronazeiten wird es auch in Restaurants einsam. (Bild: Ursula Baus)

Als Kardinalproblem gilt die Beleuchtung. Großartig, wenn in einem Restaurant in der richtigen Höhe und in exaktem Abstand Pendelleuchten mit weißen Glasschirmen hängen; sie tauchen den Tisch in helles Licht und strahlen diffus zur Decke. Besser geht es nicht. Aber da die Wirte ihre Gäste gerne flexibel gruppieren wollen, muss man die Tische verrücken können und bevorzugt deshalb kunstgewerblich dekorierte Funzeln, die hoch und beziehungslos über der Einrichtung schaukeln. Dafür schmurgeln Teelichter, vor denen man versucht, die Speisekarte zu dechiffrieren. Ganz kurios wird es, wenn Lichtplaner an Werk waren. Dann sitzt man wie in einer Baumarktbemusterung mit Wallwashern, Down- und Up-Lights, ringsum wird irgendetwas angestrahlt, es weihnachtet sinnlos, nur auf den Tischen fehlt das Licht. Architekten können das besser, Hermann Czech, Zeno Bampi und Max Dudler fallen uns als erste ein.

Aber im Augenblick sperrt uns Corona wieder aus. Seit drei Wochen fehlen uns neue Erfahrungen, alte verblassen oder warten auf die Bestätigung aus anderer Perspektive. Gaststätten sind Orte, an denen das Leben entspringt. Es sind Kulturasyle. Wir vermissen sie immens.