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Vilém Flusser mit seiner Frau Edith, 1984. (Bild: ©Andreas Müller-Pohle)

Man kann sich wahrlich nicht darüber beschweren, dass dieses absurde Jahr kein ereignisreiches gewesen sei. Es brachte Härten, unangenehme Erkenntnisse und eine große Verunsicherung. Da muss man sich nicht wundern, wenn das ein oder andere Jubiläum – Beethoven ausgenommen – in den Hintergrund getreten ist, das sonst vielleicht mehr Beachtung gefunden hätte. Oder hat es vielleicht doch einen anderen Grund, dass der 100. Geburtstag von Vilém Flusser kaum Widerhall fand?

Eigentlich hätte sein Jubiläum doch gut in dieses Jahr gepasst. Vilém Flusser, der tschechische Kosmopolit, der als Kommunikationswissenschaftler, wie das auch sonst so ist, wenn man das Denken in bestimmte Schubladen steckt, nur unzureichend charakterisiert ist, wird auf Wikipedia beschrieben als einer, der zwar immer über Krisen sprach, sich aber dennoch hartnäckig geweigert habe, Pessimist zu sein. Das muss doch gerade in der Zeit der offensichtlichen Krise aufschlussreich sein. Ja, das ist es. Aber Flussers Texte sind nicht tröstlich. Und so ist es vielleicht nicht ganz überraschend, dass man seine Schriften 2020 offensichtlich doch nicht empfehlen wollte. Denn Flusser eignet sich nicht so recht als beruhigender Ratgeber – obwohl er gerade darin aktuell geblieben ist: Beruhigende Gewissheiten hat er nicht verkündet, und schon gar nicht, dass die Krisen um uns bald bewältigt sein werden.

Statt dessen werden wir auf brillante Weise in – nur auf den ersten Blick – einfach zu lesenden Texten dazu herausgefordert, Krisen als selbstverständlichen Teil unserer Existenz anzunehmen und an ihnen die Haltung zur Welt zu prüfen. „Das ist die Katastrophe: Das wir frei sein müssen“, hat er über das Nomadentum geschrieben, das ihn in seiner Ambivalenz aus Vertreibung und Lebensform geprägt hat. Als Sohn einer gebildeten tschechischen Familie flieht er 1939 vor den Nazis zunächst nach England, von wo aus er, aus Angst vor einer Invasion der Deutschen, weiter nach Brasilien zieht. Er wird Dozent in São Paulo, dann Professor für Kommunikationstheorie. 1972 kehrt er zurück nach Europa, nach einer Zwischenstation in Meran lässt er sich in der Provence nieder, um von dort sein nomadisches Leben als Vortragender und Dozent zu führen. Er stirbt 1991 an den Folgen eines Autounfalls.

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Vilém Flusser, 1920–1991. (Quelle: Homerunmarketing)

Für Flusser war Kommunikation und das Problem des Mediums eine prinzipielle philosophische Fragestellung, in der er keinen Unterschied zwischen „Telefon und Schulklasse, Körper und Fußball“ machte. Ihn haben die Techniken der Kommunikation, der Speicherung von Daten und die Konsequenzen der Digitalisierung für das Zusammenleben interessiert, stets auf einer Basis, die jüdisch-christliche Denktraditionen ebenso einbezog wie die Eigenlogik verschiedener Sprachen. Dabei misstraute er modischen Begriffen: dem der Körperlosigkeit ebenso wie dem der Simulation. Die Geste, also die auch körperlich vollführte Handlung, war ihm ein Schlüssel zum Verständnis von Kommunikation, die sich im Fotografieren wie im Musikhören vollzog; und in einem Interview mit Florian Rötzer meinte er 1991: „Im Begriff der ‚Simulation‘ oder des ‚Simulierens‘  steckt ein tiefer metaphysischer Glaube an etwas Simulierbares. Diesen Glauben teile ich nicht.“

Er forderte, Kunst und Wissenschaft politisch zu verstehen und warnte davor, der Technik zu vertrauen – es ging ihm nicht darum, sie zu durchschauen, denn das hätte bedeutet, dass hinter einer Technik eine Absicht steht. Er misstraute jeder Form von vermuteter oder behaupteter Wahrheit hinter den Dingen, der Transzendentalität, die uns in die Falle des falschen Vertrauens in eine Wahrheit lockt, das im Innern eines Menschen oder hinter den Erscheinungen verborgen ist: Das „berüchtigte Selbst erweist sich dabei nicht als Kern, sondern als Schale. (…) Es ist eine Maske. (…) Das Selbst kommt nicht in die Stadt, um zum anderen zu kommen, sondern im Gegenteil. Erst in der Stadt entsteht das Andere des anderen.“ Es ging ihm darum, die Folgen der Eigenlogik von Technik gerade wegen der „sturen Absurdität der Apparate“ zu diskutieren: Die Technik sei eine zu ernste Sache, um sie Technikern zu überlassen. Und deswegen sei es ein tatsächlich revolutionäres Engagement, aus der technischen eine politische Frage zu machen. Nichts dringender, als die unnachgiebige Hartnäckigkeit, mit der er die Welt und die Art, wie sich Menschen auf ihr begegnen und vermittelt miteinander umgehen, weiter zu treiben und ihr gleichzeitig zu misstrauen. „Wie wenig die uns zur Verfügung stehenden Medien, inklusive der zukünftigen Netzmedien, dem tiefen, existenziellen Verlangen des Menschen nach Anerkennung des anderen und Selbsterkenntnis im anderen, kurz der Liebe im jüdisch-christlichen Sinn dienen“, so heißt es in einem Aufsatz über dialogische Medien. Wie sehr er darin Recht hatte, erleben wir derzeit schmerzlich. Flusser zu lesen sei in diesen Tagen gerade deswegen empfohlen, weil er uns davor bewahrt, Behauptungen einfacher Wahrheiten zu vertrauen.


Leseempfehlung: Absolute. Vilém Flusser. Freiburg 2003 und Arch+, Ausgabe 111 (1992) „Villem Flusser, Virtuelle Räume, simultane Welten“.
Die Zitate sind diesen beiden Veröffentlichungen entnommen.
Die Hauptwerke von Vilém Flusser sind verlegt bei Equivalence >>>
Hier wurde zum Jubiläum auch ein feines kleines Buch „Vilém Flusser – Einhundert Zitate“ herausgegeben.
Ein Sympoisum zum 100. Geburtstag fand am 12. Mai statt. Es kann hier angeschaut werden.
Beitrag über Flussers Annäherung zu raumrelevanten Themen von Elizabeth Sikiaridi und Frans Vogelaar >>>