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Geschichte wird gemacht



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Harald R. Stühlinger (Hg.): Rotes Wien publiziert. Architektur in Medien und Kampagnen.
280 Seiten, 17 x 24 cm, 25 Euro
Mandelbaum Verlag, Wien, 2020
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Der Reflex ist bekannt – in Verbindung mit der drängenden „Wohnungsfrage“ in deutschen Großstädten, insbesondere in Berlin, fällt schnell der Hinweis auf den vielversprechenderen Weg, den Wien seit Jahrzehnten geht. Aber nicht nur die Gegenwart der Wiener Wohnungsbaupolitik, die stadt- und raumplanerischen Maßnahmen hin zu viel mehr und leistbaren Wohnungen halten Nachahmenswertes vor, auch die Geschichte, wie die Ideen und Projekte des Roten Wien verbreitet wurde, liefert ihre Lehren.

Das sprichwörtlich gewordene „Rote Wien“ unter der sozialdemokratischen Kommunalregierung in den Jahren 1919 bis 1934 steht für ein umfassend reformerisches, soziales Wohnungsbau-, Infrastruktur-, Fürsorge- und Bildungsprogramm, ehe die Austrofaschisten an die Macht kamen. Ab 1926 wurde in der Donaumetropole sozialer Wohnungsbau im großen Stil errichtet, im Vergleich zu den Siedlungen der Weimarer Republik wurde allerdings für den „Gemeindebau“ auf die geschlossene Blockform auf den „Wohnhof“ gesetzt, der sowohl gemäßigt moderne wie traditionelle bis gar pathetische Stilformen aufweisen konnte. Soweit ist diese Wiener fabulous story gut bekannt. Was bislang weniger im Blick stand: keine story ohne Medienbegleitung; ohne Trommeln und Pauken war auch damals ein solch umfassendes Reformprogramm kaum zu vermitteln. Insofern ist das Rote Wien eine moderne Mediengeschichte, die der Städtebauhistoriker Harald R. Stühlinger mit diesem Sammelband, ein Begleitbuch zu einer Ausstellung, nun mit besonderem Fokus auf die Architektur zeigt. Wesentlich involviert dabei, die sogenannte Wienbibliothek im Rathaus, zu deren Sammlungsaufgaben unter anderem das Bewahren der Drucksachen aus der Zeit des Roten Wien zählt.


Reflexion von Anfang an

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Aus dem besprochenen Band – S. 11

Die „Werbemaschinerie“ Rotes Wien gerät im Buch nicht nur zu einem lehrreichen Stück Zeithistorie, sondern lässt manches sehr aktuell erschienen. Man erhält Einblick in die Grafik- und Druckgeschichte, lernt ‚rote‘ Gestaltungsvorlieben und (vergessene) Reihenpublikationen kennen, wird auf begleitende Filme, Plakate, Postkarten und Ausstellungen hingewiesen und erfährt mehr über Akteurinnen und Akteuren. Was so entsteht, ist ein detailreiches Bild der „wirkmächtige[n] mediale[n] Innen- wie Außenwirkung“, mit der die Wiener Stadtregierung ihre Reformpolitik umfassend begleitet wissen wollte (S. 11).

Im Buch geht es dabei nicht ein weiteres Mal um den genialen Visualisierer und Bildstatistiker dieser Jahre, den Ökonomen Otto Neurath, der eher in der Siedlerbewegung engagiert war. Die Medien- und Propagandalandschaft Rotes Wien setzte sich vielmehr aus unterschiedlichen Teilaspekten zusammen, seien es etwa die konkurrierenden Druckereien im Kontext der proletarischen Bewegung; seien es die ersten Architektinnen der Stadt (neben Margarete Schütte-Lihotzky), die über Beratungs- und Vermittlungstätigkeit sowie publizistische Beiträge zu Stimmen im Diskurs rund um die soziale Wohnungsfrage wurden (Beitrag Sabine Plakolm-Forsthuber).

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Aus dem besprochenen Band – S. 13

Teil der Erzählung ist auch, dass die (internationale) Rezeptionsgeschichte natürlich nicht erst heute beginnt, sondern bereits 1934 (Beitrag Georg Spitaler) immer wieder die Leistungen des Roten Wien neu eingeschätzt wurde und beispielsweise Manfredo Tafuri in den 1980er Jahren die für sein Dafürhalten kaum progressiven architektonischen Formen des Wiener Gemeindebaus kritisierte.

Vergleiche mit anderen publizistischen Landschaften liefern Roland Jaeger, der gewohnt kundig den Überblick zur Architekturpublizistik der Weimarer Jahre herstellt, und Hans Oldewarris, der die Publizität des Roten Amsterdam und dessen bereits ab 1901/02 mit einem Gesetz zur staatlichen Aufgabe gemachten sozialen Wohnungsbauprogramms veranschaulicht.


Wechselwirkungen des Medialen

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Aus dem besprochenen Band – S. 121

Stühlinger selbst blättert unter anderem eine Broschürenreihe der Stadt Wien auf, welche ab 1924 in über 40 Titeln die insgesamt über 60 neuen Wohnbauprojekte festschriftartig darstellten. Damit sei, so der Autor, ein „respektable[r] Korpus an Baubeschreibungen“ entstanden, mit keiner anderen Stadt der Zeit vergleichbar (S. 116). Die sehr schmalen Bändchen stellten mit verständlichen Texten die neuen Wohnbauten vor, die als manifest gewordener politischer Wille Teil der Selbstdarstellung des Wiener Magistrats waren, gedacht für nationales wie internationales Publikum, aber nicht nur: „Mit der medialen Wertschätzung ihrer Wohnbauten gab man den Mieterinnen und Mietern zusätzlich die Möglichkeit zur Identifikation und damit die Aussicht, sich in ihren neuen Heimen wohl und zu Hause zu fühlen“ (S. 133). Dieses Kernstück der Mediengeschichte des Roten Wien wird dann auch als Titeltableau über mehrere Seiten hinweg abgebildet.

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Aus dem besprochenen Band – S. 44

Ein Bucheinband sticht dabei besonders heraus, jener zum Karl-Marx-Hof (1927–30 errichtet), der auf diese Weise einmal mehr das ikonische Bild zur Geschichte liefert. Die Broschüren-Reihe war druck- und grafiktechnisch weit von der zeitgenössischen Moderne-Rhetorik entfernten, so stand sie in keinem Vergleich zum „Neuen Frankfurt“, dem ab 1925 herausgegebenen Begleitmagazin zur Wohnbauoffensive unter Ernst May, das gemäß dem „Neuen Sehen“ druckte. Und doch bringt die in Linolschnitt umgesetzte, abstrahierte Titelvignette den Karl-Marx-Hof mit seinem zentralen Torbau und den markanten Balkonbändern ganz auf seine Essenz: als einen stolzen, sozialen Reformbau! Gerade so, wie wohl das Rote Wien gerne gesehen werden wollte, blickt man etwa auf die Plakatkunst: kraftvoll, proletarisch und durchaus hemdsärmelig.

Darüber hinaus waren Fotografie und Film selbstverständlicher Teil der Anstrengung des Wiener Magistrats, für seine Leistungen zu werben, teils mit avantgardistischer Bildsprache, die dynamisierte, mit Schatten und Licht dramatisierte, oder im Sinne einer traditionelleren Darstellungsweise, die das Vertraute zeigte und dabei das Neue ‚erdete‘ und so dem Heimatschutzgedanken näher stand (Beiträge von Monika Faber und Joachim Schätz) – ging es doch darum, um es mit heutiger Diktion zu sagen, die Menschen der Stadt ‚mitzunehmen‘.

Zur Mediengeschichte des Roten Wien zählen auch Rechenschaftsberichte und Kunstdruckbücher, die Präsenz auf Kongressen und Ausstellungen, genauso die wechselvolle Benennungsgeschichte der Wohnhöfe selbst. Mit umfangreichen tabellarischen Auflistungen ergänzt wird in diesem Buch aus der epochemachenden Wohnbaugeschichte eine breite Kulturgeschichte, für die noch längst nicht alle Fragen beantwortet seien, so der Herausgeber. Von der Rolle des Radios ab 1924 bis hin zu den Medienstrategen im Hintergrund bleibe noch vieles zu erzählen.