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Vom Wert der Geschichte


Wie wertvoll und wichtig es ist, Geschichte zu reflektieren, zugänglich zu machen und aufzuarbeiten, zeigen drei neue Veröffentlichungen. Sie behandeln die Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens und die ersten fünfzig Jahre der DASL. Die dritte Veröffentlichung ist eine Neuauflage eines Klassikers, der uns in der Gegenwart helfen kann: Das Handbuch des Städtebaues von Cornelius Gurlitt.


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Jörn Düwel, Niels Gutschow: Ordnung und Gestalt. Geschichte und Theorie des Städtebaus in Deutschland 1922 bis 1975. 14 x 22 cm, 592 Seiten, 48 Euro
DOM Publishers, Berlin, 2019

2022 wird die Deutsche Akadamie für Städtebau und Landesplanung 100 Jahre alt; gegründet wurde sie 1922 als Freie Deutsche Akademie des Städtebaus. Zum Jubiläum soll in zwei Bänden die Geschichte der Akademie aufgearbeitet vorliegen. Im letzten Jahr ist der erste Band erschienen, der sich mit der Zeit von der Gründung bis 1975 beschäftigt; der zweite wird unter dem Titel „Positionen und Perspektiven“ die Zeit bis in die Gegenwart behandeln. Der erste nun trägt den Titel „Ordnung und Gestalt“, und wer darin auch die Konflikte aufscheinen sieht, die man mit diesen Begriffen verbinden könnte, wird nicht falsch liegen. In ihnen spiegeln die Auseinandersetzungen um das Erbe der Stadt, gegen deren Auflösung als „Selbstverstümmelung“ sich Hans Paul Bahrt 1956 wandte; da waren schon 25 Jahre vergangen, seit sich die Akademie der heute absurd anmutenden Aufgabe der „Entstadtlichung“ gewidmet hatte: lange war die Großstadt ein Feindbild gewesen. Ebenso scheint aber im Titeldes Buchs auch der doppeldeutige Begriff der Ordnung auf, der immer auch Rigidität und Regelung beinhaltet. „1933 war für Städtebauer keine Klippe, deshalb gab es aus der Profession auch keinen Aufschrei der Empörung, vielmehr wohlige Befriedigung“, so schreiben die beiden Verfasser, Niels Gütschow und Jörn Düwel über die Akademie und deren Mitglieder am Ende der Weimarer Republik.

Dass also eine Aufarbeitung der Rolle und Funktion der Akademie und ihrer Mitglieder in der Zeit der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der Nachkriegsjahrzehnte überfällig war, bestätigt auch die derzeitige Präsidentin, Elisabeth Merk, in ihrem Vorwort; wie nötig diese Aufarbeitung war, zeigt der Fall eines ihrer Vorgänger: Stefan Prager, 1946–55 Präsident der Akademie, war fast drei Jahre im KZ Theresienstadt interniert; in den Nachrufen (Prager starb 1969) „gibt es keinen Hinweis auf seine Ausgrenzung im Nationalsozialismus“, so die Autoren. Erst in den späten 1960ern wurden mit Sieverts, Zlonicky und Adrian und anderen Mitglieder berufen, die nach dem Ende des Nationalsozialismus studiert hatten. Sie trugen Themen in die Akademie, die unter den Begriffen Stadtgestalt, Zeichenhaftigkeit, Imagination und Bedeutungsgehalt von Formen gefasst wurden. Und noch etwas wurde (endlich) anders: 1972 wurde mit Erika Spiegel die erste Frau in die Akademie berufen.

Zehn Kapitel, zeitlich oder durch zeittypische Themen gefasst, umschreiben die Geschichte der Akademie als Teil der Geschichte und Theorie des Städtebaus, wie es der Untertitel verspricht; andere, wie die zum Städtebaurecht und der Berufungs- und Finanzierungspraxis, fassen als Querschnittsthemen diese Zeitabschnitte wieder zusammen. So lassen die Autoren ein lebendiges Bild dieser Vereinigung entstehen – mit Originalquellen und „biografischen Skizzen“ durchsetzt, das man sich auch sehr gut erschließen kann, wenn man einzelne Kapitel unabhängig voneinander liest.


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Cornelius Gurlitt: Handbuch des Städtebaues. Neu herausgegeben von Matthias Castorph. 17 x 21,5 cm, 544 Seiten, 44 Euro
Franz Schiermeier Verlag, München, 2020

Bereits 1920 wurde das Handbuch des Städtebaues von Cornelius Gurlitt publiziert – bislang nur einmal. Nun ist es von Matthias Castorph wieder aufgelegt worden – verdientsvoll ist dafür die passende Vokabel. Gurlitt ist eine Persönlichkeit, deren Wirken in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wohl gerne unterschätzt wird. Er war nicht nur Gründungsdirektor der Freien Akademie Städtebau – siehe oben –  und 1920-26 Präsident des Bundes Deutscher Architekten, er gilt nicht nur als eine der großen Persönlichkeiten des Denkmalschutzes, sondern war auch einer der ersten, der an einer TH Vorlesungen über Städtebau hielt.

Auf seine jahrelange Auseinandersetzung mit diesem Thema baut das Handbuch auf, das man als eine undogmatische Zusammenstellung des Wissens über den Städtebau zum Zeitpunkt seines Erscheinens nennen kann, und das auf ästhetische Fragen ebenso eingeht, wie es die infrastrukturellen Grundlagen – häufig für die Stadtgestalt unterschätzt – ausführlich reflektiert. Altstadt, Boden, eine Systematik der öffentlichen Räume, Baurechtsfragen, Straßentypen – es findet sich in einer erstaunlichen Breite all die Themen, die bis heute die Diskussionen prägen – wenn man mal die Betrachtungen über den Reitverkehr außen vor lässt. Gurlitt plädierte für ein System ohne Systeme: „Die Planung hat aus bestimmten, wohlerwogenen Gründen, aus einer ins einzelne gehenden Erwägung, nicht aber nach einem System zu erfolgen. Dieser Art Planung zu dienen, ist der Zweck dieses Buchs“, so Gurlitt.

Dass sein Handbuch so lange nicht wieder veröffentlicht wurde, mag daran liegen, dass gerade an dieser undogmatischen Sicht auf die Dinge lange wenig Interesse bestand: „Für Gurlitts rückwärtsgewandte, zusammenfassende Sichtweise auf Städtebau war kein Platz mehr zur breiten Rezeption in Fachkreisen“, so Castorph in seiner knappen Einleitung, die die einzige neue Zutat zu Gurlitts Buch von 1920 ist. Die Neuauflage ist nicht nur deswegen wichtig, weil diese Publikation von historischem Interesse ist, weil in ihm sichtbar wird, wie sehr bis heute die Entscheidungen von vor hundert und mehr Jahren die heutige Stadt prägen, sie ist es nicht nur, weil die Fragen von damals sich erstaunlich mit denen von heute decken – „gesundes, preiswertes Wohnen, bequemer Verkehr, erfreulicher Anblick“. Sie ist es vor allem, weil sie zeigt, wie ein abgewogene und ausgleichende Sicht auf den Städtebau helfen könnte, die so oft so unnötig mit Polarisierungen arbeitenden Positionskämpfe im Städtebau zugunsten einer an der Sache und dem spezifischen Problem orientierten Herangehensweise aufzugeben: „Leider hält nur zu leicht der Idealist sein Ziel für das allein Erstrebenswerte, und bestreitet daher dem, der ein anderes Ziel hat, den wahren Idealismus“, schreibt Gurlitt.

Dem gegenüber steht die Hoffnung, der Castorph Ausdruck verleiht: „Aus der Beobachtung und der Erfahrung des Bestehenden können wir auf ein Fundament zurückgreifen, aus das wir in Zukunft aufbauen könnten, undogmatisch, wissensbasiert, pragmatisch und variantenreich in der Herangehensweise: Das könnte es uns ermöglichen, vielleicht nicht auf alle Fragen und Probleme allgemein einzugehen, sondern im konkreten Fall und am bestimmten Ort – Stadt passend weiterzuentwickeln.“


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Susanne Schmid, Dietmar Eberle und Margrit Hugentobler (Hg.): Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens. Modelle des Zusammenlebens. 17 x 24 cm, 324 Seiten, 39,95 Euro
Birkhäuser Verlag, Basel, 2019

Und noch eine Großtat ist zu vermelden. Das aktuell hohe Interesse an gemeinschaftlichem Wohnen muss man wahrscheinlich kaum mehr verkünden. Die Projekte, Versuche, Bauten und Experimente, die die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten nicht an die Haustüre legen, sondern im Haus mit Bereichen des Gemeinschaftlichen Zwischenbereiche schaffen, reichen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Um so erstaunlicher, dass es bislang kaum eine Übersicht über diese vielen Varianten und Spielarten des gemeinschaftlichen Wohnens gab – nun aber liegt sie vor. Sie reicht von den Phalanstères Fouriers und Godins bis zum Clusterwohnen im Berliner Spreefeld oder Zürichs Kalkbreite, von Ledigenwohnheimen und Boardinghäusern bis zu Co-Linving Projekten in Stockholm, Wien und London, von Gartenstädten und Wohnhöfen in Wien, Berlin und Essen bis zu den Wohnkooperativen in Hamburg, Göteburg und Den Haag.

Gegliedert in die drei Abschnitte – Teilen als ökonomische, als politische und als soziale Intention –, angereichert mit Essays und Exkursen etwa zum Kollektiven Wohnen in der DDR oder zu Wohngemeinschaften und Häuserbesetzungen, bietet das Buch einen gründlichen Einblick in den Variantenreichtum und die Vorzüge gemeinschaftlichen Wohnens – aber auch in seine Grenzen: den finanziellen ebenso wie den Anforderungen an die Gemeinschaft, derer sich der Einzelne fügen muss. Beeindruckend die Aufarbeitung: In maßstäblichen Grundrissen, in denen die Gemeinschaftsbereiche farblich angelegt sind, mit Größenangaben zu privaten, kollektivem und öffentlichem Außenraum, zu privatem, öffentlichem und kollektiver Nutzfläche, in einer Dichte, die selten in einem Buch erreicht wird.

Im Resümee werden grundlegende Erkenntnisse zusammengefasst, die etwa die Notwendigkeit einer stabilen Trägerschaft oder die heute grundsätzlich gebildete Bewohnerschaft betreffen. In vier Handlungsebenen wird ein Ausblick gewagt und werden die wesentlichen Fragen für zukünftige Entwicklungen gestellt: wie kann die Einflussnahme gestaltet werden, sind die Überlagerungen von privaten und gemeinschaftlichen Räumen permanent oder temporär, ist die Gemeinschaft homogen oder heterogen und wie ist es um das Verhältnis von Teilen und Besitzen bestellt? Dem Fazit von Markus Eisen wird man nach der Lektüre dieses Buches sicher auch im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen zustimmen: „Das größte Potenzial des gemeinschaftlichen Wohnens liegt in seiner möglichen Vielfalt.“ Eine Vielfalt, die sich auch aus Erfahrungen der Vergangenheit entwickeln kann, die in diesem Buch weitergegeben werden.