Marktgeschrei (35) | Krisen, Krisen, Krisen, wir können nicht so weitermachen wie bisher. Ach ja? Und ob wir das können. Hin und wieder lenkt ein wenig Aktionismus davon ab, dass alles so bleiben soll wie es ist. Und wenn sich doch etwas ändern soll, dann zeigt sich sehr deutlich, wie wenig wir bereit sind, etwas zu ändern.
Der 3. Juli war der bis dahin weltweit heißeste Tag. 17,01 Grad im Durchschnitt. Doch der traurige Rekord hielt genau 24 Stunden. 4. Juli: 17,18 Grad – und am 6. Juli waren es dann 17.,23 Grad(1). Spanien steht vor der schlimmsten Dürre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, in Deutschland haben wir seit 2000 etwa 20 Prozent der Wasservorräte verloren.(2) Weil es im Frühjahr viel geregnet hat, ist das aber scheinbar nicht so schlimm. Wir machen weiter wie immer. Ein exemplarischer Fall, ein Symbol dafür, wie hierzulande Dinge angepackt werden: In Baden-Baden sollen Teile einer Schule abgerissen werden, um genau das neu zu bauen, das abgerissen wurde.(3) Die EU-Kommission droht wieder mit einer Klage. Genau, das ist die mit Ursula von der Leyen an der Spitze. Die an lauen Sonntagnachmittagen vom Neuen Europäischen Bauhaus schwärmt und am Montag morgen wieder die Politikerin ist, die sich um Baukultur einen feuchten Kehricht kümmert. Es geht um das Vergaberecht, und weil das Bundeswirtschaftsministerium von Robert Habeck offensichtlich bei all dem Gezeter um das GEG, bei all den Bemühungen, immer mehr so beizubehalten, wie es war, keinen Bock darauf hat, sich auch noch mit der Europäischen Union anzulegen, wurde in vorauseilendem Gehorsam eine Regelung, der § 3 Abs. 7 Satz 2 der Vergabeordnung gestrichen; der Bundesrat hat bereits zugestimmt.(4) Die Schwelle, bis zu der Bauprojekte nicht europaweit ausgeschrieben werden müssen, wurde damit deutlich abgesenkt. Europaweit ausschreiben heißt: Viel Bürokratie. Am Ende werden die Gemeinden bei jedem Kindergartenanbau Spezialisten einschalten, die, um Geld zu sparen, für Generalübernehmer ausschreiben werden. Baukultur? Baukultur entsteht durch eine Alltagspraxis und nicht durch Auszeichnungsverfahren eines Neuen Europäischen Bauhauses für eine Handvoll Projekte, die sich aus dem drögen Alltags-Allerlei hervorheben – Projekte, die um so heller leuchten, je trüber dieses Allerlei ist.
Ach, Jens
Kein Einzelfall. Wir streiten nicht darüber, ob wir uns eine Kindergrundsicherung leisten wollen oder ob es richtig ist, eine halbe Milliarde beim Bafög zu streichen. Am wichtigsten scheint zu sein, dass Paare mit einem Nettoeinkommen von mehr als 150.000 Euro zukünftig noch Elterngeld beziehen dürfen. 290 Millionen sollen damit gespart werden. Betroffen ist weniger als ein Prozent der Familien (60.000), die Kindergrundsicherung könnte 20 Prozent aller Kinder erreichen (2,9 Millionen). Man solle statt dessen das Ehegattensplitting abschaffen, so die Kritikerinnen der Entscheidung – ich wäre dabei. Die FDP nicht.(5) Aber wenn man das täte – würde dann die Subventionierung von Gutverdienenden besser? Darum gehe es ja nicht, heißt es, schließlich sei das Elterngeld nicht als Sozialleistung eingeführt worden, sondern um Geschlechtergerechtigkeit herzustellen. Wenn nun ein gutverdienendes Paar kein Elterngeld mehr bekomme, wer, so heißt es, bleibt dann wieder zuhause? Im Zweifel die Frau, weil sie in der Regel weniger verdient. Und damit sind wir bei der entscheidenden Schwäche der Argumentation: Es sollen nicht die Frauen mehr verdienen, nein, man möge doch bitte die Ungleichheit der Gehälter abpuffern. Wir halten ein ungerechtes System am Leben, in dem wir die Symptome behandeln, und das Prinzip der Ungerechtigkeit bleibt unangetastet.(6) Ach ja, gestrichen wurde das Elterngeld übrigens schon einmal für eine „Bezugsgruppe“. Das war 2011, regiert hatte damals die Koalition aus CDU/CSU und FDP. Seither wird das Elterngeld mit den Hartz-4-Bezügen verrechnet.(7) Heißt de facto: kein Elterngeld mehr für Arme.
Eines von vielen Beispielen dafür, wie schräg die Diskussionen sind, die wir führen. Andere Beispiele sind all die Debatten, in denen suggeriert wird, dass das Klima ein Problem der Grünen sei, die sich gefälligst nicht so anstellen sollen. Wenn sie „ihr“ Klima retten wollen, was geht das uns an? Jens Spahn etwa schiebt den Anspruch, keine weiteren Flächen mehr zu versiegeln, auf die Grünen.(8) Ach Jens. Es war eine CDU-geführte Regierung, die 2016 bis 2020 die Flächenneuinanspruchnahme auf 30, bis 2030 auf 20 und bis 2050 auf Null Hektar begrenzen wollte. Gemäß den EU-Vorgaben, übrigens. Ohne neue Flächenversiegelung könne man auch keine neuen Einfamilienhäuser mehr bauen, so der Jens weiter. Denn die Grünen wollten, dass „wir keine Einfamilienhäuser mehr haben.“(9) Es wird immer schlimmer. Also nochmal. Es geht darum, dass wir schon 16,2 Mio Einfamilienhäuser haben. Und wir uns überlegen sollten, wie wir mit denen umgehen, wie wir es organisieren, dass sie diejenigen nutzen können, für die sie geeignet sind, wie sie umgebaut oder verändert werden können, damit sie auch für WGs geeignet sind, dass aus einer großen zwei kleinere Wohnungen werden können. Ist halt ein bisschen anstrengender darüber nachzudenken, schon klar.
Einfamilienhäuser sind übrigens, liebe CDU, die ihr euch nun über die Absenkung der Anspruchsgrenze beim Elterngeld im Namen der Frauen beschwert(10), eine traditionelle Geschlechterrollen verfestigende Wohnform. Also auch eine, die dafür sorgt, dass die Frauen weiterhin weniger und die Männer mehr verdienen. Aber wen juckt das schon? Wir fordern ja auch Technologieoffenheit, damit Kraftwerke mit Holzpellets betrieben werden können, für die artenreiche Wälder abgeholzt werden.(11) Wir kriminalisieren lieber die, die sich öffentlich und unmissverständlich für Klimapolitik stark machen als die, die sie hintertreiben und solange weichkneten, bis es keine Klimapolitik mehr ist. Die Gaslobby zum Beispiel.(12) Irgendwie ist das alles sehr konsequent. Und sehr beängstigend.