In einem Positionspapier, das Marlowes am 28. März 23 veröffentlicht hat, stellten Andreas Hild und Thomas Auer klar, dass die Wohnungs- und Energiethemen in Deutschland zum Großteil im Kontext der Einfamilienhausgebiete stehen. Ihre Analyse animiert zu Vorschlägen, die im wesentlichen zwei Adressaten haben: den Gesetzgeber und die Bewohnerinnen der Einfamilienhäuser.
In ihrem Beitrag hatten Andreas Hild und Thomas Auer bereits betont, dass die Einfamilienhausgebiete der Bundesrepublik unglaubliche Chancen bieten, um platzsparend Wohnraum zu erschließen und Energieprobleme zu entschärfen.1) Es geht dabei um Bauen im Bestand, mit dem sich nicht so leicht Geld verdienen lässt wie mit Neubau. Es geht auch darum, individuelle Lebensvorstellungen wieder unterzuordnen unter Ansprüche der Gemeinschaft bis hin zur Unterordnung unter Ansprüche, die weltweit an Wohlstandsstaaten gestellt werden können. Die längst bekannte Erkenntnis „Es gibt nur eine Welt“ scheint in Vergessenheit geraten zu sein.
Einfamilienhausgebiete zeichnen sich inzwischen durch eine eigene typologische Architektur- und Planungsgeschichte aus. In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten gab es beispielsweise noch keine Kakophonie von Privatstilen, wie sie sich heute in den Fertighauskatalogen offenbart und der mit Bebauungsplänen Einhalt geboten werden sollte. Mit geringem Erfolg, wie wir schon thematisierten (siehe Seitenspalte, Planlos nach Plan). Gegen individuelle Gebäudegestaltung spricht erst einmal nichts.
Wenn aber eine völlige Ignoranz gegenüber dem öffentlichen Raum mit seinen gesellschaftsrelevanten, überindividuellen, gemeinwohlorientierten Aufgaben ins Auge springt, heißt es gegenzusteuern. Die Freiheit für alles und jedes, wie sie die FDP immer wieder ohne irgendeine Aussage zum Sinn des Gemeinsamen herausposaunt, hat Grenzen, die in einem auszuhandelndem Prozess festgelegt werden müssen. Und dann steht der Wille des Einzelnen auch mal: hintan. Zum Beispiel, wenn diejenigen, die diese Ignoranz gegenüber dem öffentlichen Raum zu verantworten haben, Mitspracherechte bei öffentlichen Belangen einfordern.
Der Gesetzgeber: Politik
Wenn Minister Volker Wissing gerade sagt, Tempo 100 habe keine Mehrheit im Parlament und damit sei das nicht seine Aufgabe, dann muss man ihn daran erinnern, dass Politiker die Aufgabe haben, Mehrheiten für ein – hoffentlich – vernünftiges Anliegen wie das Tempo 100 (oder wenigstens 130 km) mit Überzeugungskraft zustande zu bringen. Zumal eine Mehrheit der Bevölkerung für Tempobegrenzungen auf Autobahnen und in Innenstädten ist. Das Versagen der Politik manifestiert sich hier exemplarisch. Und wenn nun ein als unsinnig erkanntes neues Einfamilienhausgebiet ausgewiesen wird (Bodenversiegelung, teure Infrastruktur usw.), ist eine politische Kraft dahinter, die nicht gestaltet, sondern Wiederwahl-, das heißt politegoistische Motive hat – wie sie beim Tempo 100 festzustellen ist.
Der Appell an die Politik, der Neuausweisung von Einfamilienhausgebieten Einhalt zu gebieten, scheitert am Interesse der Partei- und Lobbypolitik. Mit bestehenden Einfamilienhausgebieten eine zeitgemäße, überindividuelle Entwicklung mit Gesetzesänderungen voranzutreiben, wird wissenschaftlich zwar gefordert. Auch sozial ist die funktionale Aufweitung dieser Gebiete unumstritten. Denn wenn Nahversorgung, ÖPNV und Umbauförderungen solche Gebiete ergänzten, könnten ältere Menschen ebenda bleiben, preiswerte Gebietserneuerungen in Angriff genommen werden, gewachsene Strukturen aufrechterhalten bleiben und mit Nachverdichtungen aufgewertet werden. Die Substanz von Einfamilienhausgebieten, die seit den 1950er Jahren konjunkturfördernd und wertkonservativ im Familienbild entstanden sind, ist – wie erwähnt – nicht über einen Kamm zu scheren. Ich persönlich arbeite daran, aus einem Einfamilienhaus von 1963 ein Drei-Parteien-Haus zu machen. Das geht. Es ist aufwändig, Fördermittel gibt es nicht dafür.
Um ein weiteres konkretes Beispiel ins Gedächtnis zu rufen, das zur Nachverdichtung im Einfamilienhausgebiet beiträgt und wir bereits aufgegriffen hatten: Garagen dürfen bis an die Grundstückgrenze gebaut werden, obwohl 3-Meter-Abstand vorgeschrieben ist. Wenn diese Garagen nun mal stehen: Der Gesetzgeber könnte ganz einfach Umnutzungen wie beispielsweise Homeoffice erlauben. Unser Haushalt ist nicht die einzige, der kein Auto mehr hat und keine Garage braucht, sondern ein Homeoffice. Andere brauchen ein Gästezimmer. Oder ein barrierefreies Zimmer für den Opa. Alles ist denkbar, nichts ist erlaubt.
Im Einzelnen gehören alle Hausbauförderprogramme auf den Prüfstand. Alle Gesetze müssen infrage gestellt werden, die neue Einfamilienhausgebiete erlauben. Die Haushaltsprüfung müsste klarstellen, dass neue Infrastruktur für neue Einfamilienhausgebiete Steuergeldverschwendung, ökologischer Unsinn und verkehrspolitische Katastrophen sind. „Das Einfamilienhaus im Bestand ist der Hebel für alles, was im Wohnbereich aus Klimaschutzgründen zu steuern und erzielen ist“.2) Ergänzen darf man „politisch“ zu steuern und zu erzielen. In Einfamilienhausgebieten müssen Häuser umzunutzen sein für Grundversorgungseinrichtungen, Betreuungseinrichtungen, kleine Gastronomie, wohnumfeldverträgliche Gewerbe, Kitas und vieles mehr, was Bebauungspläne kaum vorsehen.
Die BewohnerInnen: Egoisten im Glück
In einer jüngst gesendeten Dokumentation bei arte – „Trautes Heim, Glück allein“ kommt ein junges Paar (beide 27, jahrzehntelang Verschuldung) mit zwei Kindern zu Wort, die sich ein Weber-Fertighaus geleistet haben und von ihrem „Traumhaus“ sprechen.3) Die Aussagen der jungen Eltern sind repräsentativ. Es komme ihnen an auf „Privatsphäre, Freiheit, Rückzugsort, Eigenbestimmung und Selbstverwirklichung – und für die Kinder ein Erbe“.4) Sie entsprechen dem Archetypus der Kleinfamilie und haben bei der Gestaltung ihres Hauses selbstbewusst mitgeredet: „Wir haben nicht geschaut: wie baut jeder, wie baut der Nachbar. Wir haben geschaut: was brauchen wir, was wollen wir, wie stellen wir uns vor zu wohnen. Wenn’s so aussieht wie ein anderes, stört uns das nicht, solang es unser Haus ist, in dem wir uns wohlfühlen“.5) Etwas anderes als eigene Interessen artikuliert das Paar nicht. Keine Nachbarschaft, keine kollektiven Interessen, keine Infrastruktur, keine ökologischen Aspekte – nichts sprechen sie an, was ein Bewusstsein für die gesamtgesellschaftliche Aufgabe des öffentlichen Raums auch im Einfamilienhausgebiet erkennen ließe.
In der arte-Sendung kommt auch die Kunsthistorikerin Turit Fröbe zu Wort, die lächelnd wissen lässt: „Ich ermuntere immer dazu, hier die Bausünden etwas entspannter zu sehen. Weil es im Prinzip eigentlich Street Art ist“.6) Was jetzt? Bausünden oder Street Art? Wer soll sich bei Bausünden „entspannen“? Und was soll hier „Street Art“ sein? Fröbe weiter: „Manche Fassaden geben Auskunft über das Hobby der Bewohnerinnen und Bewohner … zeigen, wo die Leute gern ihren Urlaub verbringen.“ Ein Reihenhaus werde zur „Burg oder zur Villa überformt. (…) Die Gebäude werden unter dem absoluten Individualisierungsversprechen verkauft“ – und das Schöne sei, dass in dieser Siedlung [Berliner Umland, Anm. Autorin] viele davon stünden.7) Dann beklagt sie dort aber den Trend zu „toten Gärten“ – die können offenbar keine Street Art sein.
In der Arte-Dokumentation von Ulrike Brincker werden dankenswerterweise die altbekannten Alternativen zum Einfamilienhausgebiet der Egoshooter benannt, die wie die Siedlung Teutoburgia nach gemeinschaftsorientierten Gestaltungsprinzipien gebaut wurden und noch heute – ohne individualistische Ausprägung – sehr beliebt sind.8)
Überindividuelle Wohnwerte
Anders wird es kaum gehen: Kommunen, die ihre Einfamilienhausgebiete gemeinwohlorientiert „aufrüsten“ möchten, müssen den Bewohnern überindividuelle Wohnwerte nahebringen – und sich auch regulativ dafür einsetzen. Auf die Einsicht der Selbstverwirklicher zu hoffen und zu warten, ob sie sich einstellt, hilft nichts, wenn es um genannte Änderungspotenziale geht. Regulativ handeln ist nun mal Aufgabe der Politik – und wenn ArchitektInnen dabei unterstützen, Überzeugungsarbeit leisten, Alternativen darstellen und deren Vorzüge erklären, dann könnten sie Terrain von den Fertighauslieferanten zurückgewinnen. Denn den Bestand zu ertüchtigen, gelingt nur mit orts- und projektbestimmter Kenntnis, für die ArchitektInnen ExpertInnen sind. Die Aufgabe solchen Paradigmawechsels ist eine Herkulesaufgabe, zumal sie mit einer Abkehr von tradierten Automobilitäts-Vorstellungen verbunden ist. Zum Traumhaus gehört leider auch das Traumauto, das bis auf weiteres durch die Autoindustrie als non plus ultra beworben und lobbyistisch in seiner Existenz verstetigt wird.
„Das ist mein Zimmer.“
Auf sein „Traumhaus“ ist das junge Elternpaar „stolz wie Bolle“; und die beiden Kinder streiten in der arte-Doku schon kurz darüber, wem welches Zimmer gehört – nicht zu vergleichen mit Virginia Woolfs Intention mit ihrem 1929 erschienenen Buch A Room of One’s Own. Selbstverständlich übertragen sich die Ansprüche der Eltern auf die lieben Kleinen und verstetigen sich unter Umständen generationsübergreifend. Das Resümee der arte-Doku ist dementsprechend ernüchternd: „Der Traum vom Haus – ausgeträumt ist er noch lange nicht“.
Aber das Traumhaus könnte gewiss ein Bestandsbau sein, wenn es als solches politisch gefördert oder – noch besser – gefordert wird. Anders als wohl die meisten Traumhaus-Aspiranten wissen Politiker auf kommunaler, Landes- und Bundesebene darum, Bestandspflege zu priorisieren und bestehende Einfamilienhausgebiete gesetzlich zu flexibilisieren und aufzuwerten. Leider folgt gerade in der Politik dem Wissen viel zu selten ein adäquates Handeln. Also sind doch ArchitektInnen am Zug? Um ein Mal mehr mit besten Beispielen voranzugehen? Indem sie beraten statt entwerfen? Indem sie betreuen statt bauen?
1) Das Positionspapier ist kein fachintern zirkulierendes, sondern jetzt weit verbreitetes: Gerhard Matzig: Aus dem Häuschen. In: Süddeutsche Zeitung, 17. März 2023, Seite 9
Zudem Uwe Höger: Alternde Einfamilienhausgebiete. Standortanalyse und Entwicklungspotenziale. Diss. Kassel 2019; dort weiterführende Literatur
2) siehe Anm. 1
3) verfügbar bis 28. 9. 2026: https://www.arte.tv/de/videos/109373-000-A/trautes-heim-glueck-allein/
Mitwirkende: Christian Holl (frei04 publizistik), Christiane Cantauw (Kulturanthropologin), Turit Fröbe (Autorin), Jan Zweyer (Hausbesitzer), Hans Weber (Weber Haus)
4) ebda., Min. 9:14
5) ebda., Min. 11:20
6) ebda., Min. 13:14
7) ebda., Min. 14:15
8) ebda., Min. 18