In den letzten Jahren haben junge niederländische Architekt:innen mit neuen Ideen auf sich aufmerksam gemacht. Was ihre Arbeit besonders und bemerkenswert macht, lässt sich anhand der Lakenhal verdeutlichen, das Leidener Museum, das HCVA umgebaut, saniert und erweitert haben.
Seit einigen Jahren wird der Architekturdiskurs in den Niederlanden von Büros wie Monadnock, Studio Nauta, Korth Tielens, und Donna van Milligen Bielke geprägt. Sie entwerfen Gebäude, die sich durch skulpturalen Eigensinn und eine bildhafte Wirkung ebenso auszeichnen wie durch Sorgfalt in Material und Detaillierung. Dabei verzichten sie auf die Aufdringlichkeit des Autonomen, berücksichtigen statt dessen historische Referenzen ebenso wie den lokalen Kontext. Es handelt sich um eine Generation von Architekt:innen, die nach der Finanzkrise 2008 und dem darauf folgenden Zusammenbruch des Immobilienmarktes in den Niederlanden ihre Karriere begannen. Im Unterschied zu früheren Generationen konnten sie kaum auf Förderung der öffentlichen Hand hoffen. Das prägt die Art der Projekte: Bis auf wenige Ausnahmen konzentriert man sich auf kleine Bauaufgaben wie Ausstellungen, Einfamilienhäuser, Innenräume oder Umbauten, in aller Regel im lokalen und regionalen Umfeld. Hier kommt eine sorgfältige Arbeitsweise besonders zum Tragen – man kann Material und Handwerklichkeit viel Aufmerksamkeit widmen, der Bezug zum Umfeld erhält von vorneherein eine hohe Bedeutung. Die Architektur nimmt Bezug auf lokale und regionale Qualitäten und stärkt diese dadurch, worin sich Gemeinsamkeiten mit flämischen Architekt:innen finden lassen – in der Ausstellung Maßwerk/Maatwerk im DAM wurde 2016 darauf aufmerksam gemacht.
HCVA und die Lakenhal
Das Büro Happel Cornelisse Verhoeven Architecten (HCVA) aus Rotterdam ist nicht nur eines der größten Büros dieser neuen Generation, es kann auch ein besonders breit gefächertes Oeuvre aufweisen, das exemplarisch für die neue Architektur steht. Die Bauten von HCVA reflektieren Komplexität der gewachsenen Stadt, sie spielen sich nicht in den Vordergrund; die Büroinhaber haben ein großes Interesse an Architekturtheorie. Trotzdem unterscheidet sich die Architektur von HCVA in einigen Aspekten von der anderer Büros: das Bauen im Bestand ist wichtigster Fokus, auch die Formensprache von HCVA ist eine eigene. Im Interview nennt Floris Cornelisse, Partner des Büros, als wichtigen Einfluss die Vor- und Frühmoderne, besonders innerhalb der Niederlande mit der Schule von Berlage und dem Backsteinexpressionismus der Amsterdamer Schule. Daneben spielen für ihn Architekten wie Asplund, Plecnik und Behrens eine große Rolle, deren Werk sich zwischen Klassizismus, Historismus und Moderne verorten lässt. In den Bauten dieser Architekten paart sich entwerferische Unabhängigkeit mit einem großen Interesse an Material und Handwerk. Diese Referenzen lassen sich in der Arbeit HCVA in der Materialauswahl und den Details bis hin zur Einrichtung von Räumen und der Fassadengestaltung ausmachen. Ohne diese Referenzen lassen sich die Projekte von HCVA nur schwer bewerten, zumal auffallende formale Eigenheiten sparsam eingesetzt werden. In vielen Projekten gibt es einzelne „Period Rooms“, in welchen sie stark in den Vordergrund treten, während andere Räume flexibler und pragmatischer gehalten sind.
Ein Schlüsselprojekt der letzten Jahre, für HCVA wie für die gesamte Architekturdebatte in den Niederlanden, war die Lakenhal. Dieses städtische Museum in Leiden wurde von 2017 bis 2019 von HCVA in Zusammenarbeit mit Julian Harrap Architects restauriert und um einen Flügel erweitert. Hier kommen die angesprochenen Merkmale erstmals in einem öffentlichen Gebäude größeren Maßstabs zusammen. Als städtisches Gewandhaus (Laekenhalle) 1640 durch Arent van S‘Gravezande gebaut, gilt der Kern des heutigen Museums als herausragendes Beispiel des holländischen Klassizismus. 1874 öffnete das Gebäude seine Türen als Kunstmuseum der Stadt Leiden. Seitdem wurden regelmäßig Anbauten hinzugefügt, um den sich ändernden Museumskonzepten sowie der komplexen und wachsenden Sammlung gerecht zu werden. Durch die Erweiterungen entstand ein Konglomerat unterschiedlicher Bauabschnitte, die ursprüngliche Struktur und die verschiedenen Zeitschichten waren kaum noch lesbar, es war schwierig, sich zu orientieren. Die Architekten entschlossen sich darum dazu, den Bau stark zu vereinfachen, indem die ursprüngliche Laekenhalle als zentraler Teil des Ensembles stärker hervorgehoben wurde und die Eigenheiten der verschiedenen Abschnitte gestärkt wurden. Der historische Hinterhof des Gebäudes wurde in neuer Form erlebbar gemacht. Er war vor dem Umbau nicht mehr als eigener Raum erkennbar. Er wurde überdacht und bestimmt nun die Ordnungsstruktur des Museums. Hier treffen die vier Museumsflügel aufeinander. Die Baugeschichte des Gebäudes wird ablesbar, die Orientierung einfacher.
Kontinuierliches Fortschreiben
Grundsätzlich wird jeder historischen Zeitschicht, inklusive der neu hinzugefügten, der gleiche Wert beigemessen. Wie auch sonst bei Bauen im Bestand, musste dabei interpretiert und priorisiert werden. Damit ging das Team bei der Lakenhal sehr offen um. Die Herangehensweise entspricht damit nicht mehr der modernen Ansicht über Bauen im Bestand, die den Erhalt der Substanz von historischen Objekten fordert und neue Eingriffe als getrennt von der historischen Substanz gesehen werden. Für HCVA geht es viel stärker um das stimmige Ganze. Hierfür werden Qualitäten des ursprünglichen Baus gesucht und gestärkt. Damit wird es vertretbar, historische Schichten zu entfernen, wenn sie den Ansprüchen nicht entsprechen, etwa im Falle einer Treppe aus dem 19.Jahrhundert, die eine wichtige Sichtachse verstellte und den Hinterhof der ursprünglichen Laekenhalle füllte. Sie wurde beim Museumscafé auf subtile Weise wieder eingefügt. Das zeigt die Besonderheit dieser Arbeitsweise: es entstehen Spolien. Historische Bauelemente werden an neuen Orten in den Entwurf integriert, um alt und neu noch stärker miteinander zu verbinden. So wurde eine Gartenmauer neben der Hauptfassade entfernt um Platz für einen Anbau zu machen. Statt die Erinnerung an diese Mauer vollständig auszulöschen, wird hier das steinerne Tor als Eingang in das neue Gebäude wieder verwendet. Auch im Verhältnis zwischen der ursprünglichen Bausubstanz und nun neu hinzugefügten Schichten ist eine klare Strategie erkennbar. Statt das Neue als losgelöst von der existierenden Bausubstanz zu behandeln und den Kontrast mit dieser zu betonen, wird die Kontinuität betont.
Das organische Verhältnis zwischen Bestand und Intervention ist auch eine Reaktion auf die niederländische Investorenarchitektur. Von der Fachpresse weitgehend ignoriert entstehen seit zwanzig Jahren historisierende Wohngebiete, vor allem in einem Neo-30er-Jahre Stil. Hinter Fassaden finden sich jedoch konventionelle, standardisierte Typologien, Material und Detaillierung sind eher grob. Wichtiger Aspekt dieser Häuser ist die Verwendung von Backstein, der bis vor kurzem von vielen niederländischen Architekten als altbacken gesehen wurde. Diese Retro-Architektur erfreut sich auf dem Markt großer Beliebtheit. Die neue Generation der Architekt:innen bedient diese Wünsche ebenfalls, versucht sie aber gründlich zu reflektieren und bis in Grundrisse und Typologien hinein zu bearbeiten. Dabei sind Nachhaltigkeit und Wertigkeit wichtige Anliegen.
Die Lakenhal überträgt diese Ideen auf das Museum. Die neuen Baukörper sollen sich als Teil des Ensembles in den Komplex einfügen. Die Unterschiede zum Bestand fallen dabei erst auf den zweiten Blick auf. Der erwähnte Innenhof ist hier ein gutes Beispiel. In ihm treffen die verschiedenen Formsprachen des Gebäudes aufeinander. Statt dies zu betonen, werden Gemeinsamkeiten hervorgehoben: Simple Eingriffe wie ein durchgehender Terrazzoboden und gleich behandelte Fenster schaffen eine Verbindung zwischen den verschiedenen Teilen. Die Unterschiede werden nur an der Fassadeneinteilung und in den Backsteinfarben deutlich. Genau dieses Zusammenspiel von Alt und Neu macht das Projekt zu einem wichtigen Beispiel für die neue Architekturauffassung. Die Komplexität der Aufgabe wurde beeindruckend subtil und mit viel Gefühl für die Geschichte des Ortes gelöst, ohne dabei die Zeitgenossenschaft zu verleugnen.
Superdutch und Piräus
Der neue Flügel in Richtung Lammermarkt gab dem Architektenteam die Chance, auch im öffentlichen Raum zu wirken. Die neue Fassade hier ist der auffälligste Teil des Projekts. An einem Platz gelegen, präsentiert sich der Anbau als zeitgenössisches Monument selbstbewusst zwischen der historischen Bebauung. Als massiver Körper entwickelt, strahlt die Backsteinfassade eine große Ruhe aus. Das Volumen ist angelehnt an historische Fabriktypologien im Zentrum von Leiden. In seiner ikonischen Form erinnert dieses Projekt an die niederländische Architektur in Nachfolge des OMA, die als „Superdutch“ bekannt wurde. Sowohl in der Lehre als auch durch Projekte wie der Markthal in Rotterdam von MVRDV oder das Forum in Groningen von NL Architects spielt diese Architektur bis heute eine große Rolle. Die neue Architektur wird oft als Gegenentwurf dazu verstanden. Es ist jedoch auch aufschlussreich, sich die Gemeinsamkeiten im Entwurfsansatz zu vergegenwärtigen. Besonders das Streben nach klaren Formen und der Wille zu experimentieren sind wichtige Übereinstimmungen. Während das Experiment und die plakative Idee bei Superdutch allerdings häufig Selbstzweck waren, sind die auffälligen Formen in der neuen Architektur eher das Ergebnis der Analyse von Referenzen und Bautechniken. Die neue Fassade der Lakenhal zeigt dies eindrücklich.
Hier sind in der Detaillierung viele Lösungen gefunden worden, die das Gebäude verfeinern und helfen, es von den ursprünglichen Referenzen zu emanzipieren: Die vorspringenden Erker sind mit spitzen Backsteinen versehen, die besonders expressive Schatten werfen. Sie stehen auf einem Sockel aus Beton, der den Formen des Backsteins folgt. Elemente wie die Hausnummer, der Briefkasten und eine Nische mit dem Logo des Museums sind subtil in das Ganze eingefügt.
Ein zentrales Projekt für die neue Generation war Piräus, ein Wohnblock in Amsterdam von Hans Kollhoff und Christian Rapp. Im Jahr 2017 erschien eine Ausgabe der Architekturzeitschrift „De Architect“ mit dem Schwerpunkt „Post Piraeus“, in der viele Architekt:innen der jungen Generation beschrieben, was sie an dem Gebäude beeindruckt und wie es ihr Werk beeinflusst hat. Dabei hoben sie hervor, dass beim Piräus-Gebäude moderne und historisierende Elemente zu etwas Neuem, Vielschichtigen und Komplexen vermengt wurden und dank seiner Materialität und Detaillierung in verschiedenen Maßstabsebenen fasziniert.
Diese Faszination klingt in vielen Gebäuden von HCVA nach, besonders auch in der Detaillierung der Lakenhal. Das ist gerade im niederländischen Kontext hervorzuheben, wo auf Grund von starken Bauprozessoptimierungen und hohem Preisdruck die Präzision und damit auch die Nachhaltigkeit von Neubauten oft leidet. Für HCVA sind Materialien und deren Verarbeitung und Fertigung zentrale Ausgangspunkte des Entwurfes. Durch eine vergleichsweise starke Kontrolle des gesamten Bauprozesses und die frühe Entwicklung von Details entsteht eine Architektur, deren Präzision sich nicht auf das Konzept beschränkt. In der Lakenhal sind besonders die neuen, komplexen Backsteinfassaden hervorzuheben, deren Ornamentik aus den Maurertechniken entwickelt ist. Auch die Innenarchitektur des Gebäudes enthält viele liebevolle Details; so wurden die Möbel und eine Serie von Stoffen eigens für das Projekt entwickelt.
Durch den Fokus auf das Handwerkliche wird die Architektur in ihrer Verwendung von Referenzen weniger dogmatisch und vermeidet das Lagerdenken. Dadurch erscheinen Bewegungen wie die Postmoderne oder Superdutch auch in einem neuen Licht. Diese auf den ersten Blick so unterschiedlichen Strömungen werden von Floris Cornelisse mit dem gleichen Argument kritisiert: Trotz starker intellektueller Konzepte blieben ihre Werke in gebauter Form durch das fehlende Interesse an Detailierung und Ausführung allzuoft hinter den ursprünglichen Ideen zurück.
Diesen Problemen entgeht ein Projekt wie die Lakenhal. Durch wenige starke Eingriffe ist das Gebäude und seine Geschichte lesbar und gleichzeitig funktional geworden. Der neue Bauabschnitt fügt sich respektvoll in den Bestand ein. Dabei weist das Projekt trotzdem eine große Komplexität auf und lässt viele verschiedene Interpretationen zu. Das macht die Architektur neben der sorgfältigen Ausführung auch auf der Ebene der Bedeutungszuweisung alterungsfähig: es öffnet viele Potenziale, es zukünftig anders zu deuten. Man kann auf weitere Projekte von HCVA gespannt sein.